Die Lebenswege des Schriftstellers Ahmad Katlesh und der Journalistin Vanessa Vu sind durchtränkt, aber nicht bestimmt von Kriegen, Flucht und Migration. Doch was bedeuten diese Erfahrungen für ihre Gegenwart? Katlesh floh aus Syrien und lebte mehrere Jahre in Jordanien, bevor er 2016 nach Deutschland kam. Vu ist in Deutschland geboren und lebte die ersten Jahre in einem Asylbewerberheim in Niederbayern, ihre Eltern kamen aus Vietnam. Im Tanz lernten beide sich kennen, in den darauffolgenden E-Mails näherten sie sich einander an.
Was als privater Austausch begann, öffnen sie angesichts der Diskursverschiebungen nach rechts nun einem breiteren Publikum. Dem Hass setzen sie ganz persönliche Geschichten entgegen. Sie erzählen einander in freier Assoziation Anekdoten aus Syrien, Niederbayern, Vietnam und all den Orten, an die es sie verschlagen hat, suchen darin Parallelen und Unterschiede, verblasste und fehlende Erinnerungen, und arbeiten so ihre Migrationsbiografien auf. Ein Buch über Internetcafés, Geister und Grenzen, über Missverständnisse und davon, was es heißt, wenn Politisches immer wieder ins Private einbricht.
Was als privater Austausch begann, öffnen sie angesichts der Diskursverschiebungen nach rechts nun einem breiteren Publikum. Dem Hass setzen sie ganz persönliche Geschichten entgegen. Sie erzählen einander in freier Assoziation Anekdoten aus Syrien, Niederbayern, Vietnam und all den Orten, an die es sie verschlagen hat, suchen darin Parallelen und Unterschiede, verblasste und fehlende Erinnerungen, und arbeiten so ihre Migrationsbiografien auf. Ein Buch über Internetcafés, Geister und Grenzen, über Missverständnisse und davon, was es heißt, wenn Politisches immer wieder ins Private einbricht.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Vanessa Vu und Ahmad Katlesh ist "hier ein außergewöhnliches", persönliches Buch über Migration gelungen, findet Rezensent Saladin Salem. Über zwei Jahre hinweg haben sich die Journalistin und der Schriftsteller, die nun ein Paar sind, per Mail über ihre Biographien und das Thema Heimat ausgetauscht, nun ist dieser digitale Briefwechsel bei Rowohlt erschienen. Die beiden sind sich, so Salem, nicht immer einig und verhandeln auch die Unterschiede zwischen ihren Hintergründen: Salem musste 2013 aus Syrien fliehen und kam 2017 mit einem Literaturstipendium nach Deutschland, Vu kommt aus einer vietnamesischen Familie und wurde im bayerischen Eggenfelden geboren. Beide, resümiert der Rezensent, haben Rassismus erlebt; die im Buch geschilderte politische Stimmung sei düster. Gerade weil die Autoren das häufig wenig differenziert diskutierte Thema Migration persönlich und mit Nuancen betrachten, hält Salem es für einen wichtigen und zeitgemäßen Beitrag.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.07.2024„War ich naiv?“
Die Journalistin Vanessa Vu und der Schriftsteller
Ahmad Katlesh sezieren ihre Migrationsbiografien
Zu wissen, auf welchem kulturellen Fundament man stehe, sei ein Privileg, schreibt Vanessa Vu. Oft beneidet die Journalistin jene Menschen, die auf einem vorgezeichneten Weg durch die Welt schreiten. Diese Heimatfantasie sei kein Land oder eine Stadt, schreibt hingegen der Schriftsteller Ahmad Katlesh. Heimat entstehe erst nach und nach, sie könne erschaffen werden.
So gehen die Auffassungen mitunter auseinander in dem Briefwechsel der beiden Autoren, der soeben in Buchform erschienen ist. Über gut zwei Jahre mailen sich die Journalistin Vanessa Vu und der Schriftsteller Ahmad Katlesh persönliche Nachrichten hin und her, tauschen intime Gedanken, streiten, reflektieren und empören sich. Dabei ist eine Korrespondenz über die eigene Herkunft und die Frage entstanden, was es bedeutet anzukommen. Und inmitten all dessen lässt sich zwischen Vu und Katlesh, heute ein Paar, auch immer wieder Romantik erkennen.
Katlesh kam 2017 mit einem Literaturstipendium nach Deutschland, zuvor war er 2013 aus Syrien in Richtung Jordanien geflohen, hatte seine Familie zurücklassen müssen, lebte in einem Flüchtlingscamp in der Grenzregion, in dem er traumatische Erfahrungen machte: „Ich hatte zuvor gesehen, wie Menschen unter Bomben starben, aber in jener Woche sah ich zum ersten Mal ein Baby erfrieren.“ In der jordanischen Hauptstadt angekommen, arbeitet er mal in einem Restaurant, mal als Journalist.
2020 erzählt eine Freundin Katlesh unter Tränen, sie dürfe wegen der coronabedingten Einschränkungen ihre Mutter nicht mehr im Seniorenheim besuchen. Er selbst habe seine Mutter seit neun Jahren nicht mehr gesehen, entgegnet er, „aber das ist nicht so schlimm“, er habe mehr Angst um sie als Sehnsucht.
Auch Vanessa Vu, Kind einer vietnamesischen Familie, fragt sich häufiger, wie viel sie nicht über ihre Eltern weiß. Ihren eigenen Vater beschreibt sie als schweigsam, über die Vergangenheit ihrer Familie lernte sie das meiste nebenbei, in anekdotischen Gesprächen über Pflanzen und Essen. Erst spät erfuhr sie vom ehemals besten Freund ihres Vaters aus Kindheitstagen, der einst mit ihm nach Bulgarien zog – bis ihm in den 1980er-Jahren von Faschisten die Nase abgeschlagen wird, später kehrt er nach Vietnam zurück, nach wenigen Jahren stirbt er.
Ihr Vater kommt nach der Erfahrung in Bulgarien nach Deutschland. Vu kam im bayerischen Eggenfelden zur Welt und verbrachte ihre ersten Jahre in einem Asylbewerberheim, seit 2017 arbeitet sie als Redakteurin für Zeit Online. In ihren Erzählungen gräbt und philosophiert sie nun über ihre eigene Geschichte, die sie sich Stück für Stück erschließen musste und die sie nun auf dieselbe Weise auch im Buch wiedergibt. Von den üblichen Debatten über Migration und Flucht hebt sich dieses Buch angenehm ab, weil es die geopolitischen Zusammenhänge zwar im Blick hat, schlussendlich aber die persönliche Geschichte zweier Menschen erzählt.
Im Gegensatz zu ihr habe Katlesh immerhin in einem „normalen Vorher“ gelebt, bevor das „chaotische Nachher“ kam, schreibt Vanessa Vu an einer Stelle. Das Leben ohne Migration wird hier immer wieder als ein ordentliches entworfen, zu dem die chaotische Migrantenexistenz in einem scharfen Kontrast steht. Ihre eigene Kindheit sei schon von Anfang an von Chaos durchzogen gewesen, schreibt Vu: „Meine Existenz beginnt mit gebrochenen Sprachen, mit gebrochenen Erinnerungen, mit gebrochenen Körpern. Da ist so viel und gleichzeitig so wenig.“
Dabei überlagern sich die Erinnerungen an den Imbiss ihrer Eltern und die ständige Arbeit, an die Wände ihres alten Asylbewerberheims und das Dorf ihrer Familie im Norden Vietnams. Und immer wieder gehörte auch Rassismus zum Alltag in Deutschland. „Ich fackel gleich euer Haus ab!“, schrie ein Faschingstrinker mal am Laden ihrer Eltern. Ihre Mutter habe solche Demütigungen schlicht ertragen.
Im engeren Sinne überraschend sind die meisten Anekdoten in diesem Buch nicht, weshalb sie womöglich nur umso dringender erzählt werden müssen. Den Rechtsruck in Deutschland betrachten beide mit einiger Sorge. An einer Stelle fragt Vu: „War ich damals naiv, als ich glaubte, die Gesellschaft habe dazugelernt und ich könne hier in Sicherheit leben und irgendwann aufhören, für mein Existenzrecht zu streiten, und zur Abwechslung mal ganz andere Lebensziele verfolgen?“
Die politische Stimmung erscheint in dem Sachbuch düster, und wenn in diesen persönlichen Anekdoten am Ende doch etwas Versöhnliches zu erahnen ist, dann liegt das vor allem an der besonderen Sprechweise. Vu und Katlesh fangen sich in und anhand ihrer Erzählungen gegenseitig auf. Man verfolgt hier ein Gespräch, in dem Reflexionen und Erinnerungen bisweilen so entfaltet werden, als würde niemand zusehen, was dem Krawallthema „Migration“ eine Nuance verleiht, die ihm unbedingt nur guttut.
SALADIN SALEM
Vanessa Vu/Ahmad Katlesh: Komm dahin, wo es still ist. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024. 256 Seiten, 22 Euro.
Rassismus gehörte zu ihrem Alltag in Deutschland: Das sagt die Journalistin Vanessa Vu.
Foto: imago images / Eventpress
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Die Journalistin Vanessa Vu und der Schriftsteller
Ahmad Katlesh sezieren ihre Migrationsbiografien
Zu wissen, auf welchem kulturellen Fundament man stehe, sei ein Privileg, schreibt Vanessa Vu. Oft beneidet die Journalistin jene Menschen, die auf einem vorgezeichneten Weg durch die Welt schreiten. Diese Heimatfantasie sei kein Land oder eine Stadt, schreibt hingegen der Schriftsteller Ahmad Katlesh. Heimat entstehe erst nach und nach, sie könne erschaffen werden.
So gehen die Auffassungen mitunter auseinander in dem Briefwechsel der beiden Autoren, der soeben in Buchform erschienen ist. Über gut zwei Jahre mailen sich die Journalistin Vanessa Vu und der Schriftsteller Ahmad Katlesh persönliche Nachrichten hin und her, tauschen intime Gedanken, streiten, reflektieren und empören sich. Dabei ist eine Korrespondenz über die eigene Herkunft und die Frage entstanden, was es bedeutet anzukommen. Und inmitten all dessen lässt sich zwischen Vu und Katlesh, heute ein Paar, auch immer wieder Romantik erkennen.
Katlesh kam 2017 mit einem Literaturstipendium nach Deutschland, zuvor war er 2013 aus Syrien in Richtung Jordanien geflohen, hatte seine Familie zurücklassen müssen, lebte in einem Flüchtlingscamp in der Grenzregion, in dem er traumatische Erfahrungen machte: „Ich hatte zuvor gesehen, wie Menschen unter Bomben starben, aber in jener Woche sah ich zum ersten Mal ein Baby erfrieren.“ In der jordanischen Hauptstadt angekommen, arbeitet er mal in einem Restaurant, mal als Journalist.
2020 erzählt eine Freundin Katlesh unter Tränen, sie dürfe wegen der coronabedingten Einschränkungen ihre Mutter nicht mehr im Seniorenheim besuchen. Er selbst habe seine Mutter seit neun Jahren nicht mehr gesehen, entgegnet er, „aber das ist nicht so schlimm“, er habe mehr Angst um sie als Sehnsucht.
Auch Vanessa Vu, Kind einer vietnamesischen Familie, fragt sich häufiger, wie viel sie nicht über ihre Eltern weiß. Ihren eigenen Vater beschreibt sie als schweigsam, über die Vergangenheit ihrer Familie lernte sie das meiste nebenbei, in anekdotischen Gesprächen über Pflanzen und Essen. Erst spät erfuhr sie vom ehemals besten Freund ihres Vaters aus Kindheitstagen, der einst mit ihm nach Bulgarien zog – bis ihm in den 1980er-Jahren von Faschisten die Nase abgeschlagen wird, später kehrt er nach Vietnam zurück, nach wenigen Jahren stirbt er.
Ihr Vater kommt nach der Erfahrung in Bulgarien nach Deutschland. Vu kam im bayerischen Eggenfelden zur Welt und verbrachte ihre ersten Jahre in einem Asylbewerberheim, seit 2017 arbeitet sie als Redakteurin für Zeit Online. In ihren Erzählungen gräbt und philosophiert sie nun über ihre eigene Geschichte, die sie sich Stück für Stück erschließen musste und die sie nun auf dieselbe Weise auch im Buch wiedergibt. Von den üblichen Debatten über Migration und Flucht hebt sich dieses Buch angenehm ab, weil es die geopolitischen Zusammenhänge zwar im Blick hat, schlussendlich aber die persönliche Geschichte zweier Menschen erzählt.
Im Gegensatz zu ihr habe Katlesh immerhin in einem „normalen Vorher“ gelebt, bevor das „chaotische Nachher“ kam, schreibt Vanessa Vu an einer Stelle. Das Leben ohne Migration wird hier immer wieder als ein ordentliches entworfen, zu dem die chaotische Migrantenexistenz in einem scharfen Kontrast steht. Ihre eigene Kindheit sei schon von Anfang an von Chaos durchzogen gewesen, schreibt Vu: „Meine Existenz beginnt mit gebrochenen Sprachen, mit gebrochenen Erinnerungen, mit gebrochenen Körpern. Da ist so viel und gleichzeitig so wenig.“
Dabei überlagern sich die Erinnerungen an den Imbiss ihrer Eltern und die ständige Arbeit, an die Wände ihres alten Asylbewerberheims und das Dorf ihrer Familie im Norden Vietnams. Und immer wieder gehörte auch Rassismus zum Alltag in Deutschland. „Ich fackel gleich euer Haus ab!“, schrie ein Faschingstrinker mal am Laden ihrer Eltern. Ihre Mutter habe solche Demütigungen schlicht ertragen.
Im engeren Sinne überraschend sind die meisten Anekdoten in diesem Buch nicht, weshalb sie womöglich nur umso dringender erzählt werden müssen. Den Rechtsruck in Deutschland betrachten beide mit einiger Sorge. An einer Stelle fragt Vu: „War ich damals naiv, als ich glaubte, die Gesellschaft habe dazugelernt und ich könne hier in Sicherheit leben und irgendwann aufhören, für mein Existenzrecht zu streiten, und zur Abwechslung mal ganz andere Lebensziele verfolgen?“
Die politische Stimmung erscheint in dem Sachbuch düster, und wenn in diesen persönlichen Anekdoten am Ende doch etwas Versöhnliches zu erahnen ist, dann liegt das vor allem an der besonderen Sprechweise. Vu und Katlesh fangen sich in und anhand ihrer Erzählungen gegenseitig auf. Man verfolgt hier ein Gespräch, in dem Reflexionen und Erinnerungen bisweilen so entfaltet werden, als würde niemand zusehen, was dem Krawallthema „Migration“ eine Nuance verleiht, die ihm unbedingt nur guttut.
SALADIN SALEM
Vanessa Vu/Ahmad Katlesh: Komm dahin, wo es still ist. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024. 256 Seiten, 22 Euro.
Rassismus gehörte zu ihrem Alltag in Deutschland: Das sagt die Journalistin Vanessa Vu.
Foto: imago images / Eventpress
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Ein Buch über das Erkunden tiefsitzender Erinnerungen zweier Menschen, die sich begegnen und ihre Geschichten einander mit immer mehr Vertrauen erzählen und uns eben auch. Blanka Weber deutschlandfunk.de 20240909