Ein sehr bewegender Roman über das große Schweigen nach der NS-Zeit
Dieser bereits 1988 erschienene Roman, und nun in einer überarbeiteten Neuauflage vorliegend, hat von seiner damaligen Aktualität nichts eingebüßt. Der Aufschrei der Frauen gegen die überbordende Macht der Männer verhallt an der
Mauer des Patriarchats wie ein leises Wimmern, kaum zu einem Echo fähig.
Ruth Berger wartet auf…mehrEin sehr bewegender Roman über das große Schweigen nach der NS-Zeit
Dieser bereits 1988 erschienene Roman, und nun in einer überarbeiteten Neuauflage vorliegend, hat von seiner damaligen Aktualität nichts eingebüßt. Der Aufschrei der Frauen gegen die überbordende Macht der Männer verhallt an der Mauer des Patriarchats wie ein leises Wimmern, kaum zu einem Echo fähig.
Ruth Berger wartet auf einen Brief. Tag für Tag. Ihre Stelle in Wien wurde nicht verlängert, ihr Ansuchen in einer anderen Schule lässt auf sich warten. Die Beobachtung ihres Briefkastens scheint zur Obsession zu werden. Sie zieht sich in ihr Schneckenhaus zurück, weicht allen Konfrontationen und Konversationen aus, bar jeder Stimme. Seit sie denken kann, wurde sie von Männern zum Schweigen verdammt. Es quält sie, und dennoch schafft sie es nicht, auszubrechen.
Der ersehnte Brief kommt endlich an. Sie ignoriert das Getuschel über sie in der Nachbarschaft und zieht nach Gmunden, um für ein Jahr als Lehrerin zu arbeiten. Ihren gelernten Beruf als Dolmetscherin konnte sie nur mit Kleinaufträgen ausüben.
Kaum in Gmunden angekommen, erklärt ihr der Schuldirektor ganz unverblümt, dass sie nur geduldet ist, gefälligst den Mund zu halten hat und nur auf Grund seiner Bekanntschaft mit ihrem ach so tollen Vater die Stelle erhalten hat. Dabei kannte sie ihren Vater gar nicht richtig.
Sie nahm ihre Recherchen über die Widerstandskämpferinnen während der NS-Zeit wieder auf. Aber auch hier trifft sie fast nur auf eine Mauer des Schweigens. Es ist ein Stille halten, das im Prinzip auch ihr innewohnt, und das sie selbst nicht versteht. Erst als sie mit Anna Zach spricht, einer jener starken Frauen, die im Untergrund gegen die Nazis arbeiteten, verändert sich ihr Verständnis, auch wenn die Mauer des Stillschweigens weiterhin nicht bröckelt, und der Schulleiter ihr verbietet, über den Widerstand zu unterrichten.
Der Roman ist aber noch viel mehr als der Kampf einer Frau gegen das Vergessen. Ein Vergessen der unsäglichen Zeit, das Programm geworden ist, in Teilen der Bevölkerung immer noch Programm ist, indoktriniert von den alten Schergen der NS-Zeit.
Eine Entnazifizierung, wie wir alle wissen, fand nicht statt.
S. 150: „Als ich aus dem KZ nach Hause kam und noch reden wollte, bekam ich wieder und wieder zu hören: „So schlimm wird es nicht gewesen sein, sonst säßen Sie ja nicht mehr hier!“ Unter diesen Sätzen lernte ich zu schweigen.“
Diesen Satz muss man sich mal so richtig auf der Zunge zergehen lassen!
Weiter: [Auszug 1945 aus der österreichischen Presse]: „Vergessen wir die letzten sieben Jahre! Gemeinsam in die Zukunft!“ Mit diesem ‚gemeinsam‘ wurden die Ermordeten noch einmal ermordet. Die Mörder sind an der Macht. Sie wussten, was sie taten.“
Der Roman ist eine zu Recht heftige Anprangerung an die Gesellschaft. Vor allem aber auf die Zeit nach dem Krieg, mit allen Versuchen, das Geschehene durch Schweigen und Nichtaussprechen ungeschehen zu machen.
Die Sprachführung ist sehr direkt, wechselt manchmal in einem Absatz von der dritten Person in die erste, was nur die Verwirrtheit und Unentschlossenheit der Protagonistin Ruth Berger, eine Kriegsgeborene, ein Trümmerkind, unterstreicht. Es ist ein starkes Buch. Es ist ein literarischer Aufschrei, auszusprechen, was nicht unterdrückt gehört. Die Männer brechen die Stimme der Frauen, bilden eine Wand. Und ja, während der Lektüre musste ich oftmals an Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ denken, obwohl beide Bücher im formalen Inhalt eigentlich keine Gemeinsamkeiten haben, wohl aber in der tieferen Aussage.
Von mir gibt es eine ganz klare Leseempfehlung. Ein sehr bewegendes, eindringliches Buch, das hoffentlich in seiner Neuauflage viele Leser*innen erreichen wird. Es ist nur zu wünschen. Und noch eins: lest es aufmerksam, und nicht in den fünf Minuten vor dem Schlafengehen, sondern mit der ganzen Kraft der Wahrnehmung.