Im Werk des weltberühmten Schriftstellers Lobo Antunes haben die Kolonialkriege seines portugiesischen Heimatlandes schon immer einen festen Platz. Nun geht er einen Schritt weiter und schreibt über das postkoloniale Angola, über die Zeit nach der Befreiung von der portugiesischen Herrschaft, als die damalige kommunistische Regierung auf brutale Weise gegen Oppositionelle in den eigenen Reihen vorging. Und es wäre kein Roman von Lobo Antunes, dem Meister der Polyphonie, wenn es nicht viele widerstreitende, melodische und rhythmisch sich abwechselnde Stimmen wären, die von der »Kommission der Tränen« und ihren fatalen Folgen erzählen und davon, wie ein Land seine Unschuld verlor.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.09.2016NEUE TASCHENBÜCHER
Die Heimsuchungen der Töchter,
beschworen von António Lobo Antunes
Der Tod einer Puppe, in obsessiver Ausführlichkeit beschrieben, eine Szene in Luanda, zur Zeit der Säuberungen, nach dem Sieg der MPLA gegen die portugiesischen Kolonisatoren, der Volksbewegung zur Befreiung Angolas. Ein Minister hat sich vor dem Liquidationskommando in seinem Haus ins Zimmer der Tochter zurückgezogen, er kann den Mordbefehl des Präsidenten nicht begreifen. „Das muss ein Irrtum sein“, ein Gewehrkolben zerstört das Türschloss, eine Puppe blökt ihr Mama. „Tut der Puppe nichts“, sie gehört der unsichtbaren Tochter. Aber „die Puppe starb zuerst in Plastikteilchen, die sich unvermittelt verteilten, die drallen Wangen, der Miniaturmund, die Nylonwimpern, von der Träne weiß ich nichts.“ Danach stirbt der Minister, immer noch sein „Das muss ein Irrtum sein“, aber was heißt hier Irrtum, Herr Minister . . .
Cristina erinnert sich an die Szene, ihr Vater war es, der den Minister erledigte. Aber was heißt schon Erinnerung, Cristina lebt nun in Lissabon, wird ärztlich versorgt, geplagt von Stimmen aus der Vergangenheit, die das grausame Geschehen präsent halten. Mit fünf hat die Familie Angola verlassen, der Vater, ein Schwarzer, hatte zur „Kommission der Tränen“ gehört, die nach dem Sieg brutal das Geschäft jeder erfolgreichen Revolution betrieb, die Selbstzerfleischung.
Ein schwarzer Vater, eine weiße Mutter, die als Tänzerin und im Bett für ihren Lebensunterhalt sorgte. Der Portugiese António Lobo Antunes ist einer der großen radikalen Erzähler, er holt uns an den Nullgrad des Erzählens zurück, an die Erinnerungsmaterie im Rohzustand, assoziativ, von bohrender Insistenz, in sich kreisend, jegliche Hoffnung auf Identität zunichte machend. Details sind wichtiger als Ordnungen, nichts geht voran, nichts löst sich.
Und was die Väter angeht und die Töchter, da gibt es „Leute, die erfinden Töchter und tragen eine Abwesenheit auf dem Arm herum, bis ein Weinen, das sonst niemand hört, verstummt und sie sie schlafend in die Wiege legen können, sich lautlos von einem Nichts entfernen . . .“ FRITZ GÖTTLER
António Lobo Antunes: Kommission der Tränen. Roman. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. btb, München 2016. 380 Seiten, 11,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Heimsuchungen der Töchter,
beschworen von António Lobo Antunes
Der Tod einer Puppe, in obsessiver Ausführlichkeit beschrieben, eine Szene in Luanda, zur Zeit der Säuberungen, nach dem Sieg der MPLA gegen die portugiesischen Kolonisatoren, der Volksbewegung zur Befreiung Angolas. Ein Minister hat sich vor dem Liquidationskommando in seinem Haus ins Zimmer der Tochter zurückgezogen, er kann den Mordbefehl des Präsidenten nicht begreifen. „Das muss ein Irrtum sein“, ein Gewehrkolben zerstört das Türschloss, eine Puppe blökt ihr Mama. „Tut der Puppe nichts“, sie gehört der unsichtbaren Tochter. Aber „die Puppe starb zuerst in Plastikteilchen, die sich unvermittelt verteilten, die drallen Wangen, der Miniaturmund, die Nylonwimpern, von der Träne weiß ich nichts.“ Danach stirbt der Minister, immer noch sein „Das muss ein Irrtum sein“, aber was heißt hier Irrtum, Herr Minister . . .
Cristina erinnert sich an die Szene, ihr Vater war es, der den Minister erledigte. Aber was heißt schon Erinnerung, Cristina lebt nun in Lissabon, wird ärztlich versorgt, geplagt von Stimmen aus der Vergangenheit, die das grausame Geschehen präsent halten. Mit fünf hat die Familie Angola verlassen, der Vater, ein Schwarzer, hatte zur „Kommission der Tränen“ gehört, die nach dem Sieg brutal das Geschäft jeder erfolgreichen Revolution betrieb, die Selbstzerfleischung.
Ein schwarzer Vater, eine weiße Mutter, die als Tänzerin und im Bett für ihren Lebensunterhalt sorgte. Der Portugiese António Lobo Antunes ist einer der großen radikalen Erzähler, er holt uns an den Nullgrad des Erzählens zurück, an die Erinnerungsmaterie im Rohzustand, assoziativ, von bohrender Insistenz, in sich kreisend, jegliche Hoffnung auf Identität zunichte machend. Details sind wichtiger als Ordnungen, nichts geht voran, nichts löst sich.
Und was die Väter angeht und die Töchter, da gibt es „Leute, die erfinden Töchter und tragen eine Abwesenheit auf dem Arm herum, bis ein Weinen, das sonst niemand hört, verstummt und sie sie schlafend in die Wiege legen können, sich lautlos von einem Nichts entfernen . . .“ FRITZ GÖTTLER
António Lobo Antunes: Kommission der Tränen. Roman. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. btb, München 2016. 380 Seiten, 11,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de