Am "Weltrand", direkt hinter dem schleswig-holsteinischen Deich entstanden die neuen Prosastücke der Büchner-Preis-Trägerin Sarah Kirsch. Es sind Miniaturen aus dem Alltag der Schriftstellerin, die etwa von den jahreszeitlichen Begegnungen mit der Natur, dem geistigen Austausch mit Dichterfreunden und den Ausflügen in die Geistesrepublik handeln.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2005Ich surfe im Grimm
Keinen Personenkult, bitte: Sarah Kirschs poetologische Miniaturen
Deutsche Lyriker dichten gern über den Schnee. Während er Durs Grünbein Anlaß für ein gelehrtes Versepos "Vom Schnee" (2003) bietet, wird er Sarah Kirsch zur existentiellen Metapher: "Kommt der Schnee im Sturm geflogen", heißt ihr neuer Band kurzer Erzählungen. Der Schnee ist kein Gegenstand für einfühlsame Gedichte, sondern ein prosaisches Thema; Kälte, Sturm und reines Weiß stehen für Extreme, für den Kampf ums Dasein, für Grundfragen, die sich immer wieder neu stellen, ohne verbindliche Antworten zu erlauben.
Sarah Kirschs neue und alte Fragen verblüffen: Ihr Name kann als Gütesiegel gelten. Als Gütesiegel für sympathische Dichtung, die entschlossen auf den technisch versierten Ausdruck des Ich setzt. Dieses Ich ist kauzig und humorvoll und lebt zurückgezogen auf dem Deich und engagiert sich - in der Tradition der frühen DDR-Autoren - trotzdem politisch. Dafür erhielt es nahezu alle bundesdeutschen Literaturpreise; die Kirsch-Forschung floriert. Eine Ausgabe der "Sämtlichen Gedichte" erschien nur wenige Monate vor ihrem aktuellen Prosa-Band; sogar Sarah Kirschs Elternhaus in "Winzigerode" (Limlingerode im Südharz) wurde zum Dichtermuseum umgestaltet. Eine beeindruckende Musealisierung zu Lebzeiten - soll dies das Schicksal ausgerechnet der Sarah Kirsch sein?
In "Kommt der Schnee im Sturm geflogen" macht die Siebzigjährige genau diese Kanonisierung als subjektive und kauzige Dichterin zum Thema - mit und gegen Sarah Kirsch. Deshalb entstammen die Grundfragen, welche die fünfundsechzig Miniaturen zusammenhalten, vor allem "poetologischem Gebiet": von frühkindlichen Lese-Erlebnissen in der populären Lyrik-Anthologie "Echtermeyer", über die Begeisterung für körperliche Wirkungen des Schreibens ("Adrenalin gallonenweise") bis hin zur lakonisch dargestellten Dichterlesung ("jeder bereichert, ich mit dem Honorar") - kein Thema fehlt.
Sogar als Kritikerin betätigt sich die neue Sarah Kirsch: Die jungen Dichter-Talente vom Prenzlauer Berg tadelt ihre Erzählerin für "altertümelnde" Übersetzungen; den irischen Nobelpreisträger Seamus Heaney verdächtigt sie der Biederkeit. Demgegenüber bekennt sich die Erzählerin nachdrücklich zu Gerald Manley Hopkins, dem jesuitischen Dichter, der mit walisischen und keltischen Versen jongliert, und zu Else Lasker-Schülers poetologischem Traumreich. Jules Verne bildet den "Schlußpunkt" - ein Aufbruch zu neuen poetologischen Abenteuern?
Sarah Kirsch arbeitet daran. Um eine Poetikvorlesung vorzubereiten, verfaßt sie "Texte über Texte" und entdeckt wie nebenbei die neuen Medien: "Ich surfe nicht im Internet, ich surfe im Grimm." Ausführlich schildert sie, wie neue Sprachbilder aus der Begeisterung für vergessene, merkwürdige, fremde Begriffe entstehen, wie Jacob und Wilhelm Grimms "Deutsches Wörterbuch" sie auf CD-Rom und im Internet verzeichnet. Nicht nur Germanisten sind für solche brummeligen Plädoyers zugunsten überlieferten Sprachguts dankbar; die poetologischen Experimente zeigen auch, daß es der Autorin gelingt, auch nach dem bedrohlichen Erscheinen der "Sämtlichen Gedichte" weiter produktiv zu bleiben.
Der Schnee beispielsweise erweist sich als Selbstzitat: "Die Luft riecht schon nach Schnee", so lautete der Titel von Sarah Kirschs berühmtem Liebesgedicht aus dem Jahr 1977. Nicht Liebe, sondern Poetik; nicht Selbstbesinnung, sondern Revision, Bilanz und Aufbruch - so läßt sich ihr neues poetologisches Interesse beschreiben. Ein Besuch im eigenen Dichtermuseum krönt die gedoppelte Rück- und Vorschau. In einer Mischung aus Hochdeutsch und Dialekt gibt sich die Erzählerin gesellig, begeistert sich für die eigentümliche Weihestätte, die keine sein soll ("keenen Personenkult"). Vor allem hier wird die Erzählerin mit ihrer Autorin identisch. So neugierig war Misanthropie selten.
Spät sucht Sarah Kirsch Wege aus dem schriftstellerischen Eremitendasein und gibt damit den Blick auf eine neue alte Sarah Kirsch frei: auf eine aufgeschlossene gelehrte Dichterin ohne Ranküne, die im Briefwechsel und im Gespräch mit Freunden ihre poetische Zukunft jenseits des eigenen Kanons auslotet. Mitten im Schneetreiben leitet Sarah Kirsch einen stürmischen und vielversprechenden Frühling ein.
SANDRA POTT
Sarah Kirsch: "Kommt der Schnee im Sturm geflogen". Prosa. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005. 72 S., geb., 13,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Keinen Personenkult, bitte: Sarah Kirschs poetologische Miniaturen
Deutsche Lyriker dichten gern über den Schnee. Während er Durs Grünbein Anlaß für ein gelehrtes Versepos "Vom Schnee" (2003) bietet, wird er Sarah Kirsch zur existentiellen Metapher: "Kommt der Schnee im Sturm geflogen", heißt ihr neuer Band kurzer Erzählungen. Der Schnee ist kein Gegenstand für einfühlsame Gedichte, sondern ein prosaisches Thema; Kälte, Sturm und reines Weiß stehen für Extreme, für den Kampf ums Dasein, für Grundfragen, die sich immer wieder neu stellen, ohne verbindliche Antworten zu erlauben.
Sarah Kirschs neue und alte Fragen verblüffen: Ihr Name kann als Gütesiegel gelten. Als Gütesiegel für sympathische Dichtung, die entschlossen auf den technisch versierten Ausdruck des Ich setzt. Dieses Ich ist kauzig und humorvoll und lebt zurückgezogen auf dem Deich und engagiert sich - in der Tradition der frühen DDR-Autoren - trotzdem politisch. Dafür erhielt es nahezu alle bundesdeutschen Literaturpreise; die Kirsch-Forschung floriert. Eine Ausgabe der "Sämtlichen Gedichte" erschien nur wenige Monate vor ihrem aktuellen Prosa-Band; sogar Sarah Kirschs Elternhaus in "Winzigerode" (Limlingerode im Südharz) wurde zum Dichtermuseum umgestaltet. Eine beeindruckende Musealisierung zu Lebzeiten - soll dies das Schicksal ausgerechnet der Sarah Kirsch sein?
In "Kommt der Schnee im Sturm geflogen" macht die Siebzigjährige genau diese Kanonisierung als subjektive und kauzige Dichterin zum Thema - mit und gegen Sarah Kirsch. Deshalb entstammen die Grundfragen, welche die fünfundsechzig Miniaturen zusammenhalten, vor allem "poetologischem Gebiet": von frühkindlichen Lese-Erlebnissen in der populären Lyrik-Anthologie "Echtermeyer", über die Begeisterung für körperliche Wirkungen des Schreibens ("Adrenalin gallonenweise") bis hin zur lakonisch dargestellten Dichterlesung ("jeder bereichert, ich mit dem Honorar") - kein Thema fehlt.
Sogar als Kritikerin betätigt sich die neue Sarah Kirsch: Die jungen Dichter-Talente vom Prenzlauer Berg tadelt ihre Erzählerin für "altertümelnde" Übersetzungen; den irischen Nobelpreisträger Seamus Heaney verdächtigt sie der Biederkeit. Demgegenüber bekennt sich die Erzählerin nachdrücklich zu Gerald Manley Hopkins, dem jesuitischen Dichter, der mit walisischen und keltischen Versen jongliert, und zu Else Lasker-Schülers poetologischem Traumreich. Jules Verne bildet den "Schlußpunkt" - ein Aufbruch zu neuen poetologischen Abenteuern?
Sarah Kirsch arbeitet daran. Um eine Poetikvorlesung vorzubereiten, verfaßt sie "Texte über Texte" und entdeckt wie nebenbei die neuen Medien: "Ich surfe nicht im Internet, ich surfe im Grimm." Ausführlich schildert sie, wie neue Sprachbilder aus der Begeisterung für vergessene, merkwürdige, fremde Begriffe entstehen, wie Jacob und Wilhelm Grimms "Deutsches Wörterbuch" sie auf CD-Rom und im Internet verzeichnet. Nicht nur Germanisten sind für solche brummeligen Plädoyers zugunsten überlieferten Sprachguts dankbar; die poetologischen Experimente zeigen auch, daß es der Autorin gelingt, auch nach dem bedrohlichen Erscheinen der "Sämtlichen Gedichte" weiter produktiv zu bleiben.
Der Schnee beispielsweise erweist sich als Selbstzitat: "Die Luft riecht schon nach Schnee", so lautete der Titel von Sarah Kirschs berühmtem Liebesgedicht aus dem Jahr 1977. Nicht Liebe, sondern Poetik; nicht Selbstbesinnung, sondern Revision, Bilanz und Aufbruch - so läßt sich ihr neues poetologisches Interesse beschreiben. Ein Besuch im eigenen Dichtermuseum krönt die gedoppelte Rück- und Vorschau. In einer Mischung aus Hochdeutsch und Dialekt gibt sich die Erzählerin gesellig, begeistert sich für die eigentümliche Weihestätte, die keine sein soll ("keenen Personenkult"). Vor allem hier wird die Erzählerin mit ihrer Autorin identisch. So neugierig war Misanthropie selten.
Spät sucht Sarah Kirsch Wege aus dem schriftstellerischen Eremitendasein und gibt damit den Blick auf eine neue alte Sarah Kirsch frei: auf eine aufgeschlossene gelehrte Dichterin ohne Ranküne, die im Briefwechsel und im Gespräch mit Freunden ihre poetische Zukunft jenseits des eigenen Kanons auslotet. Mitten im Schneetreiben leitet Sarah Kirsch einen stürmischen und vielversprechenden Frühling ein.
SANDRA POTT
Sarah Kirsch: "Kommt der Schnee im Sturm geflogen". Prosa. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005. 72 S., geb., 13,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eine Klassikerin zu Lebzeiten."WDR
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Jürgen Verdofsky erklärt, dass dieser Band mit Prosatexten der Lyrikerin Sarah Kirsch "kein Erzählwerk begründet". Denn die Dichterin bleibe in diesen Miniaturen doch nahe an der Lyrik und begebe sich ganz in die "Klarheit poetischer Abstraktion". Die kurzen Texte insgesamt fügen sich durchaus zu "etwas Geschlossenem", in dem auch autobiografische Züge zu entdecken sind. Vor allem emotionale Aufwallungen werden durch die strenge "Form gezügelt", obwohl diese Prosaminiaturen weit "ungebundener" sind als die Lyrik Kirschs, wie Verdofsky betont. So stellt dieser Band für die Lyrikerin eine "Auszeit, Abweichung, Anfechtung" dar, analysiert der Rezensent, der anerkennend hervorhebt, dass sich dieser Band - im Gegensatz zu den Gedichten der Autorin? - "ganz unbeschwert" liest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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