"Kommt ein Mann ins Zimmer" erzählt die Geschichte von Samson Greene, einem Englischprofessor an der Columbia University, der eines Tages orientierungs- und erinnerungslos in der Wüste Nevadas aufgefunden wird. Als seine Frau Anna ihn aus dem Krankenhaus abholen will, erfährt sie, dass Samson einen Gehirntumor hat. Eine Operation rettet Samson vor dem Tod, doch die Erinnerungen der letzten 25 Jahre - seit seinem 12. Lebensjahr - bleiben verschollen. Nach New York zurückgekehrt, gelingt es ihm nicht, sein altes Leben wieder aufzunehmen: Er ist unfähig zu unterrichten, seine Frau und Freunde sind ihm fremd geworden. Doch erinnert er sich aus seiner Kindheit an seinen Großonkel Max, der noch irgendwo leben könnte, und er macht sich auf eine abenteuerliche Suche nach ihm... Dieses Buch handelt von der Einsamkeit, die aus dem Wissen entsteht, dass unsere Vorstellung von der Welt immer nur das Ergebnis einer subjektiven, nicht mitteilbaren Wahrnehmung sein kann. Nicole Krauss schreibt darüber in jenem anrührenden, traurig-komischen und souveränen Ton, der sie mit "Die Geschichte der Liebe" weltweit bekannt machte.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Das Vergessen ist das große Thema bei Nicole Krauss, verrät Rezensent Michael Schmitt, sowohl essayistisch als auch in ihrem bereits auf Deutsch erschienen Roman "Die Geschichte der Liebe". Vorstellen müsse man sich die Kunst der Autorin, schlägt der Rezensent vor, als einen "intellektuellen" Roman, dem es mehr um ein Durchspielen von Möglichkeiten gehe als um den Plot. Gleichwohl, so der Rezensent, habe der Roman Ähnlichkeiten mit einem Roadmovie oder auch einem Entwicklungsroman und sei psychologisch "dicht" erzählt. Im Vergleich zur später geschriebenen "Die Geschichte der Liebe" wirke er "leichtfüßiger" und wagemutiger, dafür aber auch weniger konsequent in all den durchexerzierten Erzähl- und Versuchsandordnungen mit vielen Figuren an vielen Orten.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2006Erinnere mich!
Nicole Krauss und ihr Roman über einen Mann ohne Gedächtnis
Alle, ja wirklich alle New Yorker Schriftsteller, die etwas auf sich hielten, stand gerade in der "New York Times", wohnten inzwischen im feinen Viertel Park Slope in Brooklyn. Schon in der Subway sehe man hier nur noch Menschen, die in Neuerscheinungen blätterten. Und wenn man nicht persönlich auf Paul Auster, Siri Hustvedt, Rick Moody, Jonathan Safran Foer oder seine Frau Nicole Krauss treffe, so doch sicher auf jemanden, der gerade über diese spreche.
An einem strahlenden Spätsommertag sitzt die Schriftstellerin Nicole Krauss in einem Café in Park Slope und weist die Frage, ob man das Gefühl habe, hier in einer Art Community zu wohnen, erstaunt zurück. Nein, sagt Krauss, sie sei nicht oft in Gesellschaft, verbringe viel Zeit zu Hause, bei ihrem Kind. Doch ist sie dann sehr abgelenkt. Draußen am Café nämlich kommt in diesem Augenblick Siri Hustvedt vorbei, mit einer gigantischen schwarzen Sonnenbrille auf der Nase: "Heeeyyy, how are you, so good to see you!" Siri hört gar nicht auf, Küsse in die Luft zu werfen - und so hat man dann doch das Gefühl, im Literaturthemenpark zu sein. Krauss wurde bei uns vergangenes Jahr mit ihrer "Geschichte der Liebe" bekannt; nun erscheint auch ihr erster, davor geschriebener Roman auf deutsch.
Sie waren 25, als Sie "Kommt ein Mann ins Zimmer" schrieben. Das ist sieben Jahre her.
Ja, und es ist komisch, jetzt darüber zu sprechen. Mein erster Roman kommt mir inzwischen wie ein altes Foto von mir vor.
Sprechen wir über das alte Foto, indem wir das neue hinzunehmen. Die Romane ergänzen sich doch: In der "Geschichte der Liebe" geht es um einen Holocaust-Überlebenden aus Polen, der in New York einsam mit sich und seinen Erinnerungen lebt. In "Kommt ein Mann ins Zimmer" verliert ein Mann durch einen Tumor sein Gedächtnis und ist so auf sich selbst zurückgeworfen. Das sind zwei Seiten derselben Geschichte.
Rückblickend kann man das sicher sagen. Es sind beides Geschichten, die vom Verlust handeln und von der Einsamkeit. Doch war das nicht beabsichtigt. Wenn ich zu schreiben beginne, weiß ich nie, wie es enden wird. Ich habe keinen Masterplan, dem ich folge, arbeite mich langsam und vorsichtig voran. Der Kampf des Solipsisten, der verzweifelt versucht, Verbindungen zu anderen Menschen aufzubauen, beschäftigt mich aber sehr.
Was genau interessiert Sie daran?
Diese enorme Distanz, die man zwischen sich und anderen empfindet. Und daß man gleichzeitig den Wunsch hat, diese Distanz zu überwinden. Man ist hier, die anderen sind da. Und man möchte hinüber zu den anderen, was einem fast immer verweigert bleibt.
In "Kommt ein Mann ins Zimmer" wird aus dem Wunsch, im Kopf des anderen zu sein, ein medizinisches Experiment: Samson Greene, der sein Gedächtnis verloren hat, vertraut einem Hirnforscher, der ihm das Gedächtnis eines anderen implantiert.
Ich habe, als ich an dem Roman gearbeitet habe, einem bekannten Neurobiologen geschrieben und ihn gefragt, wie eine Gedächtnisimplantation, wenn sie denn möglich wäre, medizinisch vor sich gehen könnte. Ich wußte, daß es unmöglich ist, hätte aber gerne gewußt, wie ein Neurobiologe sich das vorstellt. Er hat mir von der Geschichte abgeraten.
Das hat Sie nicht gestört?
Es hat mich bestärkt. Ich brauchte dieses Phantasma für den Roman. Das Gedächtnis eines anderen zu haben ist für Samson eine Art Verdammnis. Er begreift, daß die Schönheit des Lebens in der Arbeit liegt, sich den anderen verständlich zu machen.
Welche Rolle spielt dabei die Erinnerung?
Sie ist ein kreativer Akt. Wenn wir uns erinnern und andere Dinge vergessen, geben wir uns selbst eine kohärente Geschichte. Wir verändern unsere eigene Realität und damit auch die der anderen.
Ihr Nachfolge-Roman, "Die Geschichte der Liebe", ist Ihren europäisch-jüdischen Großeltern gewidmet. Es geht auch um den Holocaust. Louis Begley hat Sie in der "New York Review of Books" dafür kritisiert, daß Sie mit historischen Fakten nicht akkurat umgingen. Er warf Ihnen einen "halbherzigen Realismus" vor. Wieviel Freiheit billigen Sie der Erinnerung in der Fiktion zu?
Tatsächlich gibt es sehr wenige reale Fakten im Roman. Begley bezog sich darauf, daß es 1945 in Polen keine "Displaced Persons Camps" gegeben hat und daß es den Radiosender "The Voice of America" erst 1942 gab. Na gut. Ich hoffe trotzdem, daß mein Roman Bestand hat. Ich habe ja keine historische Abhandlung geschrieben. Was mich am Schreiben interessiert, ist die Freiheit, die ich als Schriftstellerin habe. Wir sind doch ständig eingeschränkt durch soziale Erwartungen, die an uns gestellt werden, durch die Familie. Wenn ich aber diese weiße Seite vor mir habe, fühle ich mich frei. Ich bin dann mit mir und meiner Imagination allein.
Interview Julia Encke.
Nicole Krauss: "Kommt ein Mann ins Zimmer". Rowohlt. 319 Seiten, 19,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nicole Krauss und ihr Roman über einen Mann ohne Gedächtnis
Alle, ja wirklich alle New Yorker Schriftsteller, die etwas auf sich hielten, stand gerade in der "New York Times", wohnten inzwischen im feinen Viertel Park Slope in Brooklyn. Schon in der Subway sehe man hier nur noch Menschen, die in Neuerscheinungen blätterten. Und wenn man nicht persönlich auf Paul Auster, Siri Hustvedt, Rick Moody, Jonathan Safran Foer oder seine Frau Nicole Krauss treffe, so doch sicher auf jemanden, der gerade über diese spreche.
An einem strahlenden Spätsommertag sitzt die Schriftstellerin Nicole Krauss in einem Café in Park Slope und weist die Frage, ob man das Gefühl habe, hier in einer Art Community zu wohnen, erstaunt zurück. Nein, sagt Krauss, sie sei nicht oft in Gesellschaft, verbringe viel Zeit zu Hause, bei ihrem Kind. Doch ist sie dann sehr abgelenkt. Draußen am Café nämlich kommt in diesem Augenblick Siri Hustvedt vorbei, mit einer gigantischen schwarzen Sonnenbrille auf der Nase: "Heeeyyy, how are you, so good to see you!" Siri hört gar nicht auf, Küsse in die Luft zu werfen - und so hat man dann doch das Gefühl, im Literaturthemenpark zu sein. Krauss wurde bei uns vergangenes Jahr mit ihrer "Geschichte der Liebe" bekannt; nun erscheint auch ihr erster, davor geschriebener Roman auf deutsch.
Sie waren 25, als Sie "Kommt ein Mann ins Zimmer" schrieben. Das ist sieben Jahre her.
Ja, und es ist komisch, jetzt darüber zu sprechen. Mein erster Roman kommt mir inzwischen wie ein altes Foto von mir vor.
Sprechen wir über das alte Foto, indem wir das neue hinzunehmen. Die Romane ergänzen sich doch: In der "Geschichte der Liebe" geht es um einen Holocaust-Überlebenden aus Polen, der in New York einsam mit sich und seinen Erinnerungen lebt. In "Kommt ein Mann ins Zimmer" verliert ein Mann durch einen Tumor sein Gedächtnis und ist so auf sich selbst zurückgeworfen. Das sind zwei Seiten derselben Geschichte.
Rückblickend kann man das sicher sagen. Es sind beides Geschichten, die vom Verlust handeln und von der Einsamkeit. Doch war das nicht beabsichtigt. Wenn ich zu schreiben beginne, weiß ich nie, wie es enden wird. Ich habe keinen Masterplan, dem ich folge, arbeite mich langsam und vorsichtig voran. Der Kampf des Solipsisten, der verzweifelt versucht, Verbindungen zu anderen Menschen aufzubauen, beschäftigt mich aber sehr.
Was genau interessiert Sie daran?
Diese enorme Distanz, die man zwischen sich und anderen empfindet. Und daß man gleichzeitig den Wunsch hat, diese Distanz zu überwinden. Man ist hier, die anderen sind da. Und man möchte hinüber zu den anderen, was einem fast immer verweigert bleibt.
In "Kommt ein Mann ins Zimmer" wird aus dem Wunsch, im Kopf des anderen zu sein, ein medizinisches Experiment: Samson Greene, der sein Gedächtnis verloren hat, vertraut einem Hirnforscher, der ihm das Gedächtnis eines anderen implantiert.
Ich habe, als ich an dem Roman gearbeitet habe, einem bekannten Neurobiologen geschrieben und ihn gefragt, wie eine Gedächtnisimplantation, wenn sie denn möglich wäre, medizinisch vor sich gehen könnte. Ich wußte, daß es unmöglich ist, hätte aber gerne gewußt, wie ein Neurobiologe sich das vorstellt. Er hat mir von der Geschichte abgeraten.
Das hat Sie nicht gestört?
Es hat mich bestärkt. Ich brauchte dieses Phantasma für den Roman. Das Gedächtnis eines anderen zu haben ist für Samson eine Art Verdammnis. Er begreift, daß die Schönheit des Lebens in der Arbeit liegt, sich den anderen verständlich zu machen.
Welche Rolle spielt dabei die Erinnerung?
Sie ist ein kreativer Akt. Wenn wir uns erinnern und andere Dinge vergessen, geben wir uns selbst eine kohärente Geschichte. Wir verändern unsere eigene Realität und damit auch die der anderen.
Ihr Nachfolge-Roman, "Die Geschichte der Liebe", ist Ihren europäisch-jüdischen Großeltern gewidmet. Es geht auch um den Holocaust. Louis Begley hat Sie in der "New York Review of Books" dafür kritisiert, daß Sie mit historischen Fakten nicht akkurat umgingen. Er warf Ihnen einen "halbherzigen Realismus" vor. Wieviel Freiheit billigen Sie der Erinnerung in der Fiktion zu?
Tatsächlich gibt es sehr wenige reale Fakten im Roman. Begley bezog sich darauf, daß es 1945 in Polen keine "Displaced Persons Camps" gegeben hat und daß es den Radiosender "The Voice of America" erst 1942 gab. Na gut. Ich hoffe trotzdem, daß mein Roman Bestand hat. Ich habe ja keine historische Abhandlung geschrieben. Was mich am Schreiben interessiert, ist die Freiheit, die ich als Schriftstellerin habe. Wir sind doch ständig eingeschränkt durch soziale Erwartungen, die an uns gestellt werden, durch die Familie. Wenn ich aber diese weiße Seite vor mir habe, fühle ich mich frei. Ich bin dann mit mir und meiner Imagination allein.
Interview Julia Encke.
Nicole Krauss: "Kommt ein Mann ins Zimmer". Rowohlt. 319 Seiten, 19,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine komplexe Metapher der Einsamkeit FAZ.NET