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Produktdetails
  • Verlag: Schattauer
  • 2., durchges. u. erw. Aufl.
  • Seitenzahl: 184
  • Abmessung: 185mm x 120mm x 9mm
  • Gewicht: 176g
  • ISBN-13: 9783794517343
  • Artikelnr.: 25130918
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.1995

Wissenschaftsstreit ohnegleichen?
Komplementärmedizin - Schulmedizin / Fragwürdiges Plädoyer für besondere Therapierichtungen

"Nun entbrennt am Ende des 20. Jahrhunderts ein Wissenschaftsstreit, der ohnegleichen sein wird seit dem großen Universalienstreit des Mittelalters." So beginnt der Freiburger Arzt H. Kiene sein Buch "Komplementärmedizin - Schulmedizin". Der erschreckte Leser fragt, gegen welchen fürchterlichen Feind der Autor ausreitet. Lohnt eine Erweiterung und Ergänzung der Schulmedizin - so definiert Kiene seine "Komplementärmedizin" - wirklich einen Krieg der Talare? Während der Lektüre lichtet sich der Nebel über dem Schlachtfeld, und der Feind wird erkennbar. Es ist das vor zwei Jahren revidierte Memorandum der Bundesärztekammer über Arzneibehandlung im Rahmen "besonderer Therapieeinrichtungen", das im Literaturverzeichnis 45mal bemüht wird. Das Buch schließt: "Wie man sehen kann, ist auch die zweite Auflage des Memorandums der Bundesärztekammer keine geeignete Referenz für weitergreifende administrative oder juristische Maßnahmen." Kiene befürchtet wohl, daß der Naturschutzpark, den man in Deutschland für homöopathische, phytotherapeutische und anthroposophische Präparate (und nur diese) angelegt hat, im Klima der Europäischen Union Schaden erleidet. In der Liste der essentiellen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation fehlen die "besonderen" Mittel. Die deutschen Kostenträger könnten nachziehen.

"Komplementärmedizin - Schulmedizin" handelt fast ausschließlich von der Arzneitherapie. Hier liegt sein erstes Dilemma; denn auch moderne Krankheitslehre und Diagnostik wären zu bestreiten. Sie sind Kinder der Schulmedizin ohne komplementäre Einkreuzungen. Das zweite Dilemma: Wer wie Kiene einen universalen Streit anmahnt, sollte "besondere Therapien" als ein weltweites Phänomen angehen, also seinen Schutzmantel auch über Wallfahrtsorte, indischen Harn und chinesisches Schlangenfleisch breiten. Ohne sich jedoch damit aufzuhalten, streitet Kiene auf breiter Front gegen die "Schulnaturwissenschaft". Er stellt die genetische Programmierung der Ontogenese in Frage, obwohl sie exemplarisch für die Gestaltbildung belegt ist. Zur Molekularbiologie befindet er: "Aus der bloßen Kenntnis der Anordnung der Purin- und Pyrimidinbasen läßt sich nichts (nichts!) ableiten, was über diese bloße Sequenz hinausgeht." Die darwinistische Interpretation der Evolution, so liest man fettgedruckt, sei ein nicht bewiesenes, ja überhaupt nicht beweisbares Dogma. Aber der Arzt bestätigt Darwin, wenn er mit Antibiotika resistente bakterielle Keime heranzieht.

Vor allem aber irrt Kiene, indem er der schulmedizinischen Arzneitherapie ein partikularistisches Dogma vorwirft. Dann dürfte es keine quantifizierenden arzneitherapeutischen Studien über Psychopharmaka geben; denn die biowissenschaftliche Basis der Schizophrenien, Depressionen, Sucht und sogar der Narkose ist weitgehend unbekannt. Andere Studien betreffen die Lebensqualität oder gar gesellschaftliche Aspekte. Das Buch unterschätzt die Vielfalt der Ansätze der Schulmedizin.

Leider formuliert Kiene nirgends den Gegenstand, der wirklich einen Streit wert wäre: das erkenntnistheoretische Paradigma aller Biowissenschaften. Bäuerlich-einfach, operational und daher häresiefrei, dient es primär der Selbstkontrolle, auch der Arzneitherapie. Das Paradigma lautet ganz schlicht: Der Mensch ist fehlbar; daher ist die Richtigkeit seiner Aussagen über die Natur vorläufig. Zu ihrer Verbesserung muß der Forscher prüfbare Hypothesen aufstellen. Er selbst soll sie überprüfen; andere müssen sie überprüfen. Diese Art des Erkenntnisgewinns hat den Fortschritt der Medizin in den letzten hundert Jahren ermöglicht. Aber vieles wissen wir heute noch nicht. Die Komplexität arzneitherapeutischer Entscheidungen setzt unserem Wissen sogar grundsätzliche Grenzen. So ergibt sich der von Kiene geforderte Freiraum für ärztliche Entscheidungen im Einzelfall. Das Paradigma, nicht aber die Komplementärmedizin, begründet und begrenzt ihn.

Daß die "besonderen Therapierichtungen" sich harten Prüfungen verschließen, kann nicht der Schulmedizin angelastet werden. Die Berücksichtigung von Placeboeffekten, die Technik der klinischen Studien, die statistische Auswertung: all das wird man nur los, wenn man mit Kiene Maß und Zahl in der Arzneitherapie relativiert, die menschliche Voreingenommenheit nicht zur Kenntnis nimmt und die Ethik für sich selbst beansprucht. Diese Grundhaltung durchzieht das Buch. Über seiner Sicht der "ärztlichen Probleme" weht die hehre Flagge des Wissenschaftspluralismus. Bei näherem Zusehen geht es um ein ärztliches Grundrecht auf Voreingenommenheit, das dann auch den Arzneimittelherstellern zukommen sollte. Kiene hat den "besonderen Therapierichtungen" keinen guten Dienst erwiesen; denn er hat durch Inhalt und Art seiner Argumentation die Verfasser des Memorandums der Bundesärztekammer bestätigt. ERNST HABERMANN

Der Autor ist Professor emeritus für Pharmakologie an der Universität Gießen.

H. Kiene: Komplementärmedizin - Schulmedizin. Der Wissenschaftsstreit am Ende des 20. Jahrhunderts. Schattauer-Verlag, Stuttgart 1994, 192 S., kt., 29 Mark.

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