Eine neue Herausforderung für die Wissenschaft: Die Welt ist komplex, also sollten es auch unsere Vorstellungen von ihr sein. Viele Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften haben sich lange an diese Maxime gehalten. Die Naturwissenschaften aber haben traditionell nach einfachen, universalen und zeitlosen Gesetzen gesucht. Damit wollten sie die "schwirrende Verwirrung" ("blooming, buzzing confusion", William James) erklären, die die ungeschulten Sinne dem Geist präsentieren. Aber dieses Unternehmen ist gescheitert. Sandra Mitchell zeigt, daß uns die Komplexität der lebendigen Welt dazu zwingt, unsere Denkmodelle radikal zu revidieren und nach einer adäquateren Erkenntnislehre zu suchen. Dazu hat die Systemtheorie Vorgaben geliefert, die seit einigen Jahren von der Komplexitätstheorie spezifiziert worden sind. Komplexe Systeme - wie die Welt, in der wir leben - zeichnen sich unter anderem durch Emergenz und Relationen aus: Was auf der Makroebene sichtbar wird, ist erst durch Wechselwirkungen zwischen den Elementen des Systems zu erklären. Wohin zum Beispiel ein Vogelschwarm fliegt, hängt nicht nur von den Individuen ab, sondern vor allem von Feedbackprozessen zwischen ihnen. Mitchell fordert deshalb: Wer die Welt verstehen will, muß auch verstehen lernen, warum das Ganze tatsächlich mehr ist als die Summe der einzelnen Teile.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.2008Warum die Geste?
Wer darauf hinweist, dass alles recht komplex sei, liegt grundsätzlich nie falsch. In der Version der Wissenschaftsphilosophin Sandra Mitchell: "Die Welt ist tatsächlich komplex, und entsprechend komplex müssen auch unsere Abbildungen und Analysen von ihr sein." Da das Maß der Komplexität davon abhängt, was wir gerade mit den Phänomenen vorhaben, ist allerdings mit "Entsprechungen" eher vorsichtig umzugehen. Darauf möchte die Autorin auch hinaus: Der Blick auf wissenschaftliche Praxis zeigt, dass altehrwürdige, an der klassischen Physik ausgerichtete Ideale der sogenannten einzig angemessenen Beschreibung außer Kurs gesetzt sind. Die neuere Wissenschaftsforschung und -philosophie beruht auf der Einsicht, dass sich die Begriffe von Kausalität und Determiniertheit gewandelt haben. Von Reduktionen auf fundamentale Entitäten, natürlichen Phänomenzerlegungen oder eindeutigen kausalen Zurechnungen bleibt da kaum etwas übrig. Schon ein flüchtiger Blick zeigt, dass ausnahmslos geltende Gesetze im Stil der klassischen Physik nicht die Regel sind, sondern Rückkoppelungen für komplexes Verhalten sorgen. Mitchells programmatische Stichworte zur Beschreibung der Regime unseres wissenschaftlichen Weltumgangs lauten denn auch zu Recht: Pluralität, Pragmatismus, Dynamik. Das ist eine Zusammenfassung der Entwicklungen in den letzten zwanzig Jahren, mehr nicht. Mit entschieden zu großer Geste wird sie hier als der letzte Schrei vorgestellt. (Sandra Mitchell: "Komplexitäten". Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Suhrkamp Verlag, edition unseld, Frankfurt am Main 2008. 174 S., br., 10,- [Euro].) hmay
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Wer darauf hinweist, dass alles recht komplex sei, liegt grundsätzlich nie falsch. In der Version der Wissenschaftsphilosophin Sandra Mitchell: "Die Welt ist tatsächlich komplex, und entsprechend komplex müssen auch unsere Abbildungen und Analysen von ihr sein." Da das Maß der Komplexität davon abhängt, was wir gerade mit den Phänomenen vorhaben, ist allerdings mit "Entsprechungen" eher vorsichtig umzugehen. Darauf möchte die Autorin auch hinaus: Der Blick auf wissenschaftliche Praxis zeigt, dass altehrwürdige, an der klassischen Physik ausgerichtete Ideale der sogenannten einzig angemessenen Beschreibung außer Kurs gesetzt sind. Die neuere Wissenschaftsforschung und -philosophie beruht auf der Einsicht, dass sich die Begriffe von Kausalität und Determiniertheit gewandelt haben. Von Reduktionen auf fundamentale Entitäten, natürlichen Phänomenzerlegungen oder eindeutigen kausalen Zurechnungen bleibt da kaum etwas übrig. Schon ein flüchtiger Blick zeigt, dass ausnahmslos geltende Gesetze im Stil der klassischen Physik nicht die Regel sind, sondern Rückkoppelungen für komplexes Verhalten sorgen. Mitchells programmatische Stichworte zur Beschreibung der Regime unseres wissenschaftlichen Weltumgangs lauten denn auch zu Recht: Pluralität, Pragmatismus, Dynamik. Das ist eine Zusammenfassung der Entwicklungen in den letzten zwanzig Jahren, mehr nicht. Mit entschieden zu großer Geste wird sie hier als der letzte Schrei vorgestellt. (Sandra Mitchell: "Komplexitäten". Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Suhrkamp Verlag, edition unseld, Frankfurt am Main 2008. 174 S., br., 10,- [Euro].) hmay
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