Eine neue Herausforderung für die Wissenschaft: Die Welt ist komplex, also sollten es auch unsere Vorstellungen von ihr sein. Viele Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften haben sich lange an diese Maxime gehalten. Die Naturwissenschaften aber haben traditionell nach einfachen, universalen und zeitlosen Gesetzen gesucht. Damit wollten sie die "schwirrende Verwirrung" ("blooming, buzzing confusion", William James) erklären, die die ungeschulten Sinne dem Geist präsentieren. Aber dieses Unternehmen ist gescheitert. Sandra Mitchell zeigt, daß uns die Komplexität der lebendigen Welt dazu zwingt, unsere Denkmodelle radikal zu revidieren und nach einer adäquateren Erkenntnislehre zu suchen. Dazu hat die Systemtheorie Vorgaben geliefert, die seit einigen Jahren von der Komplexitätstheorie spezifiziert worden sind. Komplexe Systeme - wie die Welt, in der wir leben - zeichnen sich unter anderem durch Emergenz und Relationen aus: Was auf der Makroebene sichtbar wird, ist erst durch Wechselwirkungen zwischen den Elementen des Systems zu erklären. Wohin zum Beispiel ein Vogelschwarm fliegt, hängt nicht nur von den Individuen ab, sondern vor allem von Feedbackprozessen zwischen ihnen. Mitchell fordert deshalb: Wer die Welt verstehen will, muß auch verstehen lernen, warum das Ganze tatsächlich mehr ist als die Summe der einzelnen Teile.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.2008Warum die Geste?
Wer darauf hinweist, dass alles recht komplex sei, liegt grundsätzlich nie falsch. In der Version der Wissenschaftsphilosophin Sandra Mitchell: "Die Welt ist tatsächlich komplex, und entsprechend komplex müssen auch unsere Abbildungen und Analysen von ihr sein." Da das Maß der Komplexität davon abhängt, was wir gerade mit den Phänomenen vorhaben, ist allerdings mit "Entsprechungen" eher vorsichtig umzugehen. Darauf möchte die Autorin auch hinaus: Der Blick auf wissenschaftliche Praxis zeigt, dass altehrwürdige, an der klassischen Physik ausgerichtete Ideale der sogenannten einzig angemessenen Beschreibung außer Kurs gesetzt sind. Die neuere Wissenschaftsforschung und -philosophie beruht auf der Einsicht, dass sich die Begriffe von Kausalität und Determiniertheit gewandelt haben. Von Reduktionen auf fundamentale Entitäten, natürlichen Phänomenzerlegungen oder eindeutigen kausalen Zurechnungen bleibt da kaum etwas übrig. Schon ein flüchtiger Blick zeigt, dass ausnahmslos geltende Gesetze im Stil der klassischen Physik nicht die Regel sind, sondern Rückkoppelungen für komplexes Verhalten sorgen. Mitchells programmatische Stichworte zur Beschreibung der Regime unseres wissenschaftlichen Weltumgangs lauten denn auch zu Recht: Pluralität, Pragmatismus, Dynamik. Das ist eine Zusammenfassung der Entwicklungen in den letzten zwanzig Jahren, mehr nicht. Mit entschieden zu großer Geste wird sie hier als der letzte Schrei vorgestellt. (Sandra Mitchell: "Komplexitäten". Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Suhrkamp Verlag, edition unseld, Frankfurt am Main 2008. 174 S., br., 10,- [Euro].) hmay
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer darauf hinweist, dass alles recht komplex sei, liegt grundsätzlich nie falsch. In der Version der Wissenschaftsphilosophin Sandra Mitchell: "Die Welt ist tatsächlich komplex, und entsprechend komplex müssen auch unsere Abbildungen und Analysen von ihr sein." Da das Maß der Komplexität davon abhängt, was wir gerade mit den Phänomenen vorhaben, ist allerdings mit "Entsprechungen" eher vorsichtig umzugehen. Darauf möchte die Autorin auch hinaus: Der Blick auf wissenschaftliche Praxis zeigt, dass altehrwürdige, an der klassischen Physik ausgerichtete Ideale der sogenannten einzig angemessenen Beschreibung außer Kurs gesetzt sind. Die neuere Wissenschaftsforschung und -philosophie beruht auf der Einsicht, dass sich die Begriffe von Kausalität und Determiniertheit gewandelt haben. Von Reduktionen auf fundamentale Entitäten, natürlichen Phänomenzerlegungen oder eindeutigen kausalen Zurechnungen bleibt da kaum etwas übrig. Schon ein flüchtiger Blick zeigt, dass ausnahmslos geltende Gesetze im Stil der klassischen Physik nicht die Regel sind, sondern Rückkoppelungen für komplexes Verhalten sorgen. Mitchells programmatische Stichworte zur Beschreibung der Regime unseres wissenschaftlichen Weltumgangs lauten denn auch zu Recht: Pluralität, Pragmatismus, Dynamik. Das ist eine Zusammenfassung der Entwicklungen in den letzten zwanzig Jahren, mehr nicht. Mit entschieden zu großer Geste wird sie hier als der letzte Schrei vorgestellt. (Sandra Mitchell: "Komplexitäten". Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Suhrkamp Verlag, edition unseld, Frankfurt am Main 2008. 174 S., br., 10,- [Euro].) hmay
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.12.2008Im Bann der Vielfalt
Die Edition Unseld vermisst unsere Wissenskultur
Grüne Gentechnologie ist trotz vielfacher Anstrengungen von Wissenschaft und Wirtschaft nur schwer durchsetzbar, und je nach Umfrage glauben bis zu 60 Prozent der Bevölkerung nicht an die menschliche Evolution. Woran liegt das? Sind die Argumente der Gentechnologiegegner oder der Kreationisten so gut, dass sie eine Mehrheit zu überzeugen vermögen? Nicht unbedingt, auch wenn das immer wieder geprüft werden muss.
Möglicherweise wird umgekehrt ein Schuh daraus, indem man fragt, ob die in der breiten Öffentlichkeit kursierende Art, Wissenschaft darzustellen, überhaupt angemessen ist. Vieles spricht dagegen, wenn beispielsweise Wissenschaft wie eine Getränkemarke angepriesen wird. Das hat meistens zur Folge, dass die Realität dieser Wissenschaft zu einem absonderlichen Gebilde verzerrt wird, das vorrangig dazu dient, Forschungsgelder einzutreiben und gesellschaftliche Autorität zu erlangen. Und wenn das, wie im Falle der grünen Gentechnologie, schiefgeht, glauben immer noch einige, dass die falsche PR-Strategie gewählt worden sei.
Die Realität der Wissenschaft ist aber, dass eine Studie behauptet, Rotwein sei gut für die Blutgefäße und wirke lebensverlängernd, während die nächste Studie zumindest letzteres in Frage stellt. Und es ist auch eine Realität der Wissenschaft, dass die Evolutionstheorie die am besten bewährte Theorie über die Entstehung des Menschen ist, aber eine absolute Gewissheit vermag sie nicht zu verschaffen. Jeder reflektierende Wissenschaftler weiß das, und doch gehen die entscheidenden Nuancen im öffentlichen Gefecht immer wieder unter. Gleichzeitig erheben vor allem die Neuro- und die Biowissenschaften wieder einmal den Anspruch, den innersten Kern von uns Menschen endlich entdecken zu können. Und auch hier muss die Frage erlaubt sein, ob sie dafür wirklich so gute Argumente vorweisen können.
Interessante Probleme gibt es zur Genüge, aber die lassen sich eben nur bedingt in aufwendigen Leistungsshows darstellen. Gefragt sind vielmehr die Tugenden einer intellektuellen Wissenschaft, die zugleich informiert und distanziert ist, genaue Beschreibungen liefert und sich traut, die Wissenschaften aus einer ungewöhnlichen, überraschenden und provozierenden Perspektive zu betrachten. Die Wissenschaften verändern sich, und nun geht es auch darum, neue Wege im Nachdenken und Reden über sie zu beschreiten. Solche Versuche sind schon mehrfach unternommen worden: mit den großen Stilisten der Naturwissenschaften wie etwa Helmholtz, Poincaré oder Schrödinger, die Popularisierung von Wissenschaft so verstanden haben, dass sie die über ihr Fachgebiet hinausgehenden Fragen der wissenschaftlichen Entwicklung behandelt haben; oder mit der Diskussion um die zwei Kulturen, die eigentlich zu deren Überwindung beitragen sollte, im Grunde aber nicht mehr war als ein Schlagabtausch zwischen zwei Wissenskulturen, die ihren Einfluss in Zeiten des Kalten Krieges sichern wollten.
Wenn die neue „edition unseld” einen weiteren Versuch einer Annäherung von Geistes- und Naturwissenschaften wagt, so geht es um neue Wege, die durch Wissenschaft und Technik hervorgerufenen Veränderungen in den Blick zu nehmen. Betrachtet man die ersten Bände, so fällt auf, dass niemand über ein Deutungsmonopol verfügt. Natur- und Geisteswissenschaftler, Essayisten und Poeten kommen gleichberechtigt zu Wort. Der Traum von einer Einheit der Wissenschaft, wie ihn der Wiener Kreis, die Kybernetik und manche Vertreter der analytischen Philosophie verfolgen, bleibt bis auf Weiteres ein Wunschtraum.
Genau um diesen Punkt geht es in dem Band der Wissenschaftsphilosophin Sandra Mitchell, wenn sie argumentiert, dass die Kategorien der klassischen Newtonschen Wissenschaften wie Allgemeingültigkeit, Einfachheit oder Einheitlichkeit angesichts der Erforschung von Komplexität nicht mehr recht greifen. Das Klima oder die Depression, Verkehrsaufkommen oder Katastrophen lassen sich nicht erschöpfend nach dem Prinzip erforschen, wonach komplexe Prozesse so weit wie möglich in ihre Einzelteile zerlegt werden, um sie auf diese Weise von unten nach oben zu erklären. Stattdessen geht es darum, einen systemischen Ansatz zu verfolgen, der mit Kategorien wie Kontingenz, Chaos und Emergenz operiert.
Mitchell geht es nun weniger darum, den Klimaforschern die Wissenschaftsphilosophie nachzuliefern; es geht ihr vielmehr darum, dass die Philosophie selbst noch nicht die epistemologischen Konsequenzen aus diesen wissenschaftlichen Veränderungen gezogen hat. Die Annahme der einen wissenschaftlichen Methode ist passé, und was bleibt, sind pragmatische, pluralistische Auffassungen vielfältiger Methodensysteme.
Nun wird die Einheit der Wissenschaften schon seit längerem ernsthaft in Zweifel gezogen, und insofern ist Mitchells Essay nicht ganz der Anfang zum Verständnis der Welt, wie der Untertitel vollmundig verspricht. Hingegen sind wir allerdings erst am Anfang einer vernünftigen Umgehensweise damit, dass wir im Zeichen der Komplexität nicht mehr die gleiche Sicherheit einer Voraussage annehmen können wie etwa bei einer Sonnenfinsternis oder einer Mondlandung.
Da es um komplexe Phänomene wie Ökosysteme, Gehirn oder Volkswirtschaften geht, sind Voraussagen zwar unabdingbar, aber sie bleiben äußerst schwierig. Dieser Umstand ist auch für die gesamte Gesellschaft relevant. Mitchell weist zurecht darauf hin, dass Politiker die Uneinigeit unter den Wissenschaftlern gern nutzen, um Entscheidungen hinauszuzögern. Insofern ist es ein drängendes Problem, wie mit einer vermehrt auf bloßen Wahrscheinlichkeiten aufbauenden Wissenskultur in der Gesellschaft verfahren wird.
Eine ähnliche Frage ließe sich auch ausgehend von Robert Laughlins Polemik über den Betrug an der Wissensgesellschaft formulieren, nur dass es hier nicht um Wahrscheinlichkeit sondern um Erkenntnis als Ware geht. Laughlin sorgt sich um das Ideal einer freien, nicht von Interessen geleiteten Forschung, die in erster Linie der Erkenntnis dient. Dieses aus dem 19. Jahrhundert stammende Ideal schmilzt in unserer globalisierten Welt tatsächlich so schnell wie das Eis der Antarktis. Die Klage, dass wir auf eine Situation zusteuern, in der immer mehr Wissen nicht der Allgemeinheit zur Verfügung steht, weil das gegen die Interessen militärischer oder wirtschaftlicher Lobbys geht, ist also völlig berechtigt.
Nur wäre Laughlins Argumentation überzeugender, wenn er ökonomische Habgier und legitime Sicherheitsinteressen der Menschheit etwas genauer auseinanderhielte. Es ist eines, dass Firmen Gensequenzen patentieren lassen, bevor sie überhaupt wissen, was der biologische Nutzen dieser Sequenzen ist; aber es ist etwas anderes, bestimmte biotechnologische Forschung geheimzuhalten, wenn sie eine umfassende Gefahr darstellen. Vermutlich lässt sich wissenschaftliches Wissen auf längere Sicht ohnehin nicht geheimhalten, aber dann müssen politische und nicht wissenschaftliche Mechanismen geschaffen werden, die vor den potentiellen Gefahren dieses Wissens effektiv zu schützen vermögen.
Darüber hinaus kann Laughlin leider ein verschwörungstheoretisches Hintergrundrauschen nicht ganz unterdrücken, und das läuft dann auf das etwas abgestandene Muster hinaus, dass genialische Erfinder oder Entdecker von undurchsichtigen Kräften in ihrer Kreativität behindert werden. Als ob das nicht schon seit der Antike so wäre. Dennoch öffnet der Band die Augen dafür, dass geheimes Wissen noch lange nach dem Zeitalter der Geheimwissenschaften eine wichtige Rolle spielt. Auch die vermeintlich offene Gesellschaft der Moderne hat ihre dunklen Kammern, und denen gilt es sich zuzuwenden.
Einen Rückfall in barbarische Zeiten befürchtet auch Dietmar Dath, wenn er neuen rechten Darwinisten (besser noch: Globaldarwinisten) vorwirft, den Solidarvertrag aufzukündigen, indem sie ganzen Gruppen der Gesellschaft klarmachen, dass sie nicht weiter gebraucht werden. Vergegenwärtigt man sich die Tendenz zur Schrumpfung des Mittelstands bei gleichzeitiger Vergrößerung der Kluft zwischen arm und reich, so muss man ernstlich an neuen Adel und neuen Feudalismus denken. Anstatt nun in einen kulturpessimistischen Trübsinn zu verfallen, wie ihn die Linken seit dem Ende der siebziger Jahre bevorzugt pflegen, optiert Dath kämpferisch für einen sozialistischen, aufgeklärten Universalismus, der sich dadurch auszeichnet, dass die Gleichheit der Menschen der Gnaden- und Lieblosigkeit der Natur entgegengesetzt wird.
Manches an Daths Spekulationen bleibt etwas verschwommen, doch sehr bemerkenswert ist sein Naturbegriff, der eben nicht von einer sorgsamen ökologischen Pflege der lieben Natur ausgeht, sondern der Kälte, Absichtslosigkeit und Zufälligkeit der natürlichen Prozesse ins Auge blickt. Die Pointe dabei ist, dass dies ein bislang wenig beachteter, aber doch zentraler Gedanke bei Darwin ist: Überleben in der Natur ist eine Frage von Zufall, Anpassung und Stärke, doch die höchste zivilisatorische Entwicklung des Menschen besteht darin, diesen Mechanismus zu durchbrechen. Wahre Humanität heißt, die vermeintlich Schwachen und Nichtprivilegierten zu unterstützen – zumal jeder irgendetwas kann, wie Dath hinzufügt.
So unterschiedlich die Texte von Mitchell, Laughlin und Dath auch sind, sie alle setzen voraus, dass wir unsere Zukunft viel mehr selbst in der Hand haben, als es uns eine technologischer oder ökonomischer Determinismus suggeriert. Genau das ist der Gegenstand einer intellektuellen Wissenschaft. MICHAEL HAGNER
SANDRA MITCHELL: Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. Edition Unseld, Frankfurt am Main 2008, 173 Seiten, 10 Euro.
ROBERT B. LAUGHLIN: Das Verbrechen der Vernunft. Betrug an der Wissensgesellschaft. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Edition Unseld, Frankfurt am Main 2008. 193 Seiten, 10 Euro.
DIETMAR DATH: Maschinenwinter. Wissen, Technik Sozialismus. Eine Streitschrift. Edition Unseld, Frankfurt am Main 2008. 130 Seiten, 10 Euro.
Unser Gehirn ist komplexer als eine Sonnenfinsternis
Der Traum von der Einheit der Wissenschaft bleibt Wunschtraum
Was setzen wir der Gnadenlosigkeit der Natur entgegen?
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Die Edition Unseld vermisst unsere Wissenskultur
Grüne Gentechnologie ist trotz vielfacher Anstrengungen von Wissenschaft und Wirtschaft nur schwer durchsetzbar, und je nach Umfrage glauben bis zu 60 Prozent der Bevölkerung nicht an die menschliche Evolution. Woran liegt das? Sind die Argumente der Gentechnologiegegner oder der Kreationisten so gut, dass sie eine Mehrheit zu überzeugen vermögen? Nicht unbedingt, auch wenn das immer wieder geprüft werden muss.
Möglicherweise wird umgekehrt ein Schuh daraus, indem man fragt, ob die in der breiten Öffentlichkeit kursierende Art, Wissenschaft darzustellen, überhaupt angemessen ist. Vieles spricht dagegen, wenn beispielsweise Wissenschaft wie eine Getränkemarke angepriesen wird. Das hat meistens zur Folge, dass die Realität dieser Wissenschaft zu einem absonderlichen Gebilde verzerrt wird, das vorrangig dazu dient, Forschungsgelder einzutreiben und gesellschaftliche Autorität zu erlangen. Und wenn das, wie im Falle der grünen Gentechnologie, schiefgeht, glauben immer noch einige, dass die falsche PR-Strategie gewählt worden sei.
Die Realität der Wissenschaft ist aber, dass eine Studie behauptet, Rotwein sei gut für die Blutgefäße und wirke lebensverlängernd, während die nächste Studie zumindest letzteres in Frage stellt. Und es ist auch eine Realität der Wissenschaft, dass die Evolutionstheorie die am besten bewährte Theorie über die Entstehung des Menschen ist, aber eine absolute Gewissheit vermag sie nicht zu verschaffen. Jeder reflektierende Wissenschaftler weiß das, und doch gehen die entscheidenden Nuancen im öffentlichen Gefecht immer wieder unter. Gleichzeitig erheben vor allem die Neuro- und die Biowissenschaften wieder einmal den Anspruch, den innersten Kern von uns Menschen endlich entdecken zu können. Und auch hier muss die Frage erlaubt sein, ob sie dafür wirklich so gute Argumente vorweisen können.
Interessante Probleme gibt es zur Genüge, aber die lassen sich eben nur bedingt in aufwendigen Leistungsshows darstellen. Gefragt sind vielmehr die Tugenden einer intellektuellen Wissenschaft, die zugleich informiert und distanziert ist, genaue Beschreibungen liefert und sich traut, die Wissenschaften aus einer ungewöhnlichen, überraschenden und provozierenden Perspektive zu betrachten. Die Wissenschaften verändern sich, und nun geht es auch darum, neue Wege im Nachdenken und Reden über sie zu beschreiten. Solche Versuche sind schon mehrfach unternommen worden: mit den großen Stilisten der Naturwissenschaften wie etwa Helmholtz, Poincaré oder Schrödinger, die Popularisierung von Wissenschaft so verstanden haben, dass sie die über ihr Fachgebiet hinausgehenden Fragen der wissenschaftlichen Entwicklung behandelt haben; oder mit der Diskussion um die zwei Kulturen, die eigentlich zu deren Überwindung beitragen sollte, im Grunde aber nicht mehr war als ein Schlagabtausch zwischen zwei Wissenskulturen, die ihren Einfluss in Zeiten des Kalten Krieges sichern wollten.
Wenn die neue „edition unseld” einen weiteren Versuch einer Annäherung von Geistes- und Naturwissenschaften wagt, so geht es um neue Wege, die durch Wissenschaft und Technik hervorgerufenen Veränderungen in den Blick zu nehmen. Betrachtet man die ersten Bände, so fällt auf, dass niemand über ein Deutungsmonopol verfügt. Natur- und Geisteswissenschaftler, Essayisten und Poeten kommen gleichberechtigt zu Wort. Der Traum von einer Einheit der Wissenschaft, wie ihn der Wiener Kreis, die Kybernetik und manche Vertreter der analytischen Philosophie verfolgen, bleibt bis auf Weiteres ein Wunschtraum.
Genau um diesen Punkt geht es in dem Band der Wissenschaftsphilosophin Sandra Mitchell, wenn sie argumentiert, dass die Kategorien der klassischen Newtonschen Wissenschaften wie Allgemeingültigkeit, Einfachheit oder Einheitlichkeit angesichts der Erforschung von Komplexität nicht mehr recht greifen. Das Klima oder die Depression, Verkehrsaufkommen oder Katastrophen lassen sich nicht erschöpfend nach dem Prinzip erforschen, wonach komplexe Prozesse so weit wie möglich in ihre Einzelteile zerlegt werden, um sie auf diese Weise von unten nach oben zu erklären. Stattdessen geht es darum, einen systemischen Ansatz zu verfolgen, der mit Kategorien wie Kontingenz, Chaos und Emergenz operiert.
Mitchell geht es nun weniger darum, den Klimaforschern die Wissenschaftsphilosophie nachzuliefern; es geht ihr vielmehr darum, dass die Philosophie selbst noch nicht die epistemologischen Konsequenzen aus diesen wissenschaftlichen Veränderungen gezogen hat. Die Annahme der einen wissenschaftlichen Methode ist passé, und was bleibt, sind pragmatische, pluralistische Auffassungen vielfältiger Methodensysteme.
Nun wird die Einheit der Wissenschaften schon seit längerem ernsthaft in Zweifel gezogen, und insofern ist Mitchells Essay nicht ganz der Anfang zum Verständnis der Welt, wie der Untertitel vollmundig verspricht. Hingegen sind wir allerdings erst am Anfang einer vernünftigen Umgehensweise damit, dass wir im Zeichen der Komplexität nicht mehr die gleiche Sicherheit einer Voraussage annehmen können wie etwa bei einer Sonnenfinsternis oder einer Mondlandung.
Da es um komplexe Phänomene wie Ökosysteme, Gehirn oder Volkswirtschaften geht, sind Voraussagen zwar unabdingbar, aber sie bleiben äußerst schwierig. Dieser Umstand ist auch für die gesamte Gesellschaft relevant. Mitchell weist zurecht darauf hin, dass Politiker die Uneinigeit unter den Wissenschaftlern gern nutzen, um Entscheidungen hinauszuzögern. Insofern ist es ein drängendes Problem, wie mit einer vermehrt auf bloßen Wahrscheinlichkeiten aufbauenden Wissenskultur in der Gesellschaft verfahren wird.
Eine ähnliche Frage ließe sich auch ausgehend von Robert Laughlins Polemik über den Betrug an der Wissensgesellschaft formulieren, nur dass es hier nicht um Wahrscheinlichkeit sondern um Erkenntnis als Ware geht. Laughlin sorgt sich um das Ideal einer freien, nicht von Interessen geleiteten Forschung, die in erster Linie der Erkenntnis dient. Dieses aus dem 19. Jahrhundert stammende Ideal schmilzt in unserer globalisierten Welt tatsächlich so schnell wie das Eis der Antarktis. Die Klage, dass wir auf eine Situation zusteuern, in der immer mehr Wissen nicht der Allgemeinheit zur Verfügung steht, weil das gegen die Interessen militärischer oder wirtschaftlicher Lobbys geht, ist also völlig berechtigt.
Nur wäre Laughlins Argumentation überzeugender, wenn er ökonomische Habgier und legitime Sicherheitsinteressen der Menschheit etwas genauer auseinanderhielte. Es ist eines, dass Firmen Gensequenzen patentieren lassen, bevor sie überhaupt wissen, was der biologische Nutzen dieser Sequenzen ist; aber es ist etwas anderes, bestimmte biotechnologische Forschung geheimzuhalten, wenn sie eine umfassende Gefahr darstellen. Vermutlich lässt sich wissenschaftliches Wissen auf längere Sicht ohnehin nicht geheimhalten, aber dann müssen politische und nicht wissenschaftliche Mechanismen geschaffen werden, die vor den potentiellen Gefahren dieses Wissens effektiv zu schützen vermögen.
Darüber hinaus kann Laughlin leider ein verschwörungstheoretisches Hintergrundrauschen nicht ganz unterdrücken, und das läuft dann auf das etwas abgestandene Muster hinaus, dass genialische Erfinder oder Entdecker von undurchsichtigen Kräften in ihrer Kreativität behindert werden. Als ob das nicht schon seit der Antike so wäre. Dennoch öffnet der Band die Augen dafür, dass geheimes Wissen noch lange nach dem Zeitalter der Geheimwissenschaften eine wichtige Rolle spielt. Auch die vermeintlich offene Gesellschaft der Moderne hat ihre dunklen Kammern, und denen gilt es sich zuzuwenden.
Einen Rückfall in barbarische Zeiten befürchtet auch Dietmar Dath, wenn er neuen rechten Darwinisten (besser noch: Globaldarwinisten) vorwirft, den Solidarvertrag aufzukündigen, indem sie ganzen Gruppen der Gesellschaft klarmachen, dass sie nicht weiter gebraucht werden. Vergegenwärtigt man sich die Tendenz zur Schrumpfung des Mittelstands bei gleichzeitiger Vergrößerung der Kluft zwischen arm und reich, so muss man ernstlich an neuen Adel und neuen Feudalismus denken. Anstatt nun in einen kulturpessimistischen Trübsinn zu verfallen, wie ihn die Linken seit dem Ende der siebziger Jahre bevorzugt pflegen, optiert Dath kämpferisch für einen sozialistischen, aufgeklärten Universalismus, der sich dadurch auszeichnet, dass die Gleichheit der Menschen der Gnaden- und Lieblosigkeit der Natur entgegengesetzt wird.
Manches an Daths Spekulationen bleibt etwas verschwommen, doch sehr bemerkenswert ist sein Naturbegriff, der eben nicht von einer sorgsamen ökologischen Pflege der lieben Natur ausgeht, sondern der Kälte, Absichtslosigkeit und Zufälligkeit der natürlichen Prozesse ins Auge blickt. Die Pointe dabei ist, dass dies ein bislang wenig beachteter, aber doch zentraler Gedanke bei Darwin ist: Überleben in der Natur ist eine Frage von Zufall, Anpassung und Stärke, doch die höchste zivilisatorische Entwicklung des Menschen besteht darin, diesen Mechanismus zu durchbrechen. Wahre Humanität heißt, die vermeintlich Schwachen und Nichtprivilegierten zu unterstützen – zumal jeder irgendetwas kann, wie Dath hinzufügt.
So unterschiedlich die Texte von Mitchell, Laughlin und Dath auch sind, sie alle setzen voraus, dass wir unsere Zukunft viel mehr selbst in der Hand haben, als es uns eine technologischer oder ökonomischer Determinismus suggeriert. Genau das ist der Gegenstand einer intellektuellen Wissenschaft. MICHAEL HAGNER
SANDRA MITCHELL: Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. Edition Unseld, Frankfurt am Main 2008, 173 Seiten, 10 Euro.
ROBERT B. LAUGHLIN: Das Verbrechen der Vernunft. Betrug an der Wissensgesellschaft. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Edition Unseld, Frankfurt am Main 2008. 193 Seiten, 10 Euro.
DIETMAR DATH: Maschinenwinter. Wissen, Technik Sozialismus. Eine Streitschrift. Edition Unseld, Frankfurt am Main 2008. 130 Seiten, 10 Euro.
Unser Gehirn ist komplexer als eine Sonnenfinsternis
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