In westlichen Theorien der Moderne wurden außereuropäische Gesellschaften bisher vornehmlich als Objekte von Entwicklungsprozessen betrachtet. Zudem wurde der globale Interaktionszusammenhang, der westliche und nicht-westliche Gesellschaften verbindet, entweder weitgehend ausgeblendet oder auf die wirtschaftliche Dimension reduziert. In den indischen Sozialwissenschaften hingegen wird die Moderne vor dem Hintergrund der kolonialen Differenz, die als integrales Moment der Moderne gesehen wird, reflektiert. Sie wird mit Bezug auf die eigene Identitätsfindung analysiert, die sowohl auf vorkoloniale Traditionen rekurriert als auch die Verschränkung mit der europäischen Geschichte reflektiert. Die hier vorgestellten Beiträge zu Geschichte, Religion, Kultur, Wissensformen, zu Demokratie und Entwicklungsparadigmen, sowie zu Nationalismus, Rechtspluralismus und Gender in Indien suchen den Gegensatz zwischen traditionellen und modernen Gesellschaften zu überwinden. Diese Dichotomie wird durch die Idee einer gleichzeitigen, miteinander verknüpften Entwicklung unterschiedlicher Gesellschaften im Rahmen eines Konzepts der pluralen Moderne ersetzt. Zugleich werden die inhärenten Spannungen, Einseitigkeiten und Aporien dieser Artikulationen der Moderne thematisiert, die auch in den indischen Sozialwissenschaften kontrovers sind. Deutlich wird, dass die indische Moderne sich weder auf eine Nachahmung westlicher Ideen und Institutionen reduzieren lässt, noch ohne Verweis auf diese reflektiert werden kann. Zudem sind die europäischen Konfigurationen der Moderne ihrerseits ebenso als Motor wie als Ergebnis der kolonialen Verflechtung zu verstehen. Welche Folgen hat diese relationale Perspektive für den Reflexionshorizont westlicher Sozialwissenschaften im Umgang mit außereuropäischen Gesellschaften und speziell für eine Soziologie Indiens? Wie lässt sich die Verschränkung der verschiedenen Pfade in die Moderne denken? Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für den Kulturvergleich?