Im Mittelpunkt stehen die Strukturen des Kalten Krieges: Ihre Entstehung in der Frühphase, ihre Entwicklung bis 1955/56. Mit der Doppelkrise von Suez und Ungarn im Oktober/November 1956 waren die bis 1989 gültigen Parameter der globalen Machtprobe festgelegt. Schmidt konzentriert sich auf die strukturellen Auswirkungen der Binnenkonflikte des westlichen Lagers. Seine Studie wird von Vojtech Mastny ergänzt, der neu zugänglich gewordene osteuropäische Archivbestände einbezieht. Er stellt die sowjetische Außensicht auf die westliche Sicherheitsgemeinschaft vor, die das östliche Handeln prägte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.2003Kalte Füße in warmen Stiefeln
Westliche und östliche Militärpolitik in den Jahren 1946 bis 1956
Vojtech Mastny/Gustav Schmidt: Konfrontationsmuster des Kalten Krieges 1946 bis 1956. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Norbert Wiggershaus und Dieter Krüger. R. Oldenbourg Verlag, München 2003. 581 Seiten, 44,80 [Euro].
Jetzt wissen wir's - könnte man mit dem berühmten Buchtitel von John Lewis Gaddis auch nach der Lektüre der hier anzuzeigenden Publikation sagen, jedenfalls soweit das die westliche Militärstrategie zwischen 1946 und 1956 betrifft. Sie vereinigt zwei Einzelstudien - eine breit angelegte, exzellent recherchierte und voll ausgereifte Monographie von Gustav Schmidt, Ruhr-Universität Bochum, und einen eher schmalbrüstigen Beitrag von Vojtech Mastny, National Security Archive in Washington. Beide Arbeiten sind nur durch ein gemeinsames Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenverzeichnis aufeinander bezogen.
Man muß der Gelehrsamkeit großen Respekt zollen, mit der Gustav Schmidt eine weitverzweigte Forschung zusammenfaßt. Die Befunde, Deutungen und Irrtümer zahlloser anderer Forscher auf diesem reich beackerten Feld werden von ihm fair referiert und zugleich auf Grundlage neu erschlossener oder originell interpretierter Quellen weitergeführt. Er verfolgt das ehrgeizige Ziel einer multidimensionalen Strukturanalyse des Kalten Krieges unter Einbeziehung aller relevanten Dimensionen. Derartige Totalanalysen pflegen häufig danebenzugehen, weil sie Begriff auf Begriff und Trivialität auf Trivialität türmen. Schmidt ist dieser Gefahr durchgehend entgangen. Entsteht so ein übersichtliches Geschichtspanorama? Mitnichten. Beabsichtigt oder unbeabsichtigt, jedenfalls sehr eindrucksvoll, verdeutlicht dieser ruhelos reflektierende und recherchierende Analytiker, daß sich die Staatsmänner und Sicherheitsexperten jener Jahre wie in einem dunklen Labyrinth bewegten. Die einzelnen Regierungen mochten noch hoffen, dabei jeweils dem Ariadnefaden des eigenen Nationalinteresses zu folgen, verwickelten sich dabei aber unablässig in Widersprüche und Aporien.
Man nehme nur die Bundesrepublik als Beispiel. Sie wollte neben vielem anderem mehr auch ein Maximum an Sicherheit, mußte sich deshalb auch auf die praktisch kaum steuerbare Nuklearstrategie der Nato einlassen. Obwohl die Bundesrepublik noch viel mehr Grund als Frankreich gehabt hätte, zwecks Abschreckung eine eigene Kernwaffenkomponente zu erwerben, war sie viel zu exponiert und viel zu schwach dazu, wollte aber dennoch nicht ganz auf die nukleare Option verzichten, um nicht jeden Einfluß auf die nuklearen Entscheidungen der Partner zu verlieren. Dennoch war diese Sicherheitspolitik der frühen Adenauer-Jahre, wie Schmidt mehr implizit als explizit verdeutlicht, alles in allem bemerkenswert rational und erfolgreich. Ihr absurder Kern wäre erst voll offenbar geworden, wenn der Kriegsfall tatsächlich eingetreten wäre.
So wird hier Land um Land und Thema um Thema durchdekliniert. Vieldeutigkeit - "Ambiguity", wie Schmidt dies im "Anglosprech" formuliert - ist das Schlüsselwort dafür. Es ist also ein Hauptverdienst dieser differenzierten Untersuchung, nicht im nachhinein den Eindruck von Klarheit der Strukturen oder der Optionen zu erwecken. Ein an griffigen, leicht popularisierbaren Erkenntnissen interessierter Leser kommt somit nicht auf seine Rechnung, genausowenig diejenigen, die an nachträglicher Schuldzumessung ihre Freude haben. Alles erscheint höchst verwirrend, ungeordnet und unklar. Aber so war die Wirklichkeit des Kalten Krieges, und dies nicht nur im Untersuchungszeitraum 1946 bis 1956.
Im Vergleich dazu fällt die Studie Mastnys deutlich ab. Natürlich ist er ein Opfer der miesen Quellenlage. Gewiß weiß der Historiker dank der seit dem Ende des Ostblocks zutage geförderten Quellen schon viel mehr über die sowjetische Außenpolitik jener Periode als vor 15 bis 20 Jahren, und so hält sich auch Mastny vor allem an die allerhöchste, inzwischen hinlänglich gut bekannte Entscheidungsebene. Doch muß er die eigentlich erwartete Darstellung der Kriegspläne der Roten Armee schuldig bleiben, weil diese auch im heutigen Rußland immer noch als sehr sensible Ware gelten.
Mastny neigt dazu, die Sicherheitspolitik der Sowjetunion als prinzipiell defensiv zu bewerten. Selbst wenn die damaligen Nato-Strategen dies ihrerseits für zutreffend gehalten hätten: Was hieße dies schon, wenn man weiß, wie plötzlich große Kriege zwischen verfeindeten Allianzen ausbrechen können!? Schließlich herrschte in den späten vierziger und in den fünfziger Jahren an gravierenden Krisen kein Mangel.
Eben für solch nie ganz unwahrscheinlichen Fälle, in denen Krisen in Kriege hineinrutschen, pflegen die Generalstäbe ihre Kriegspläne zu entwickeln - defensive, offensive, jedenfalls ziemlich detaillierte. Und erfahrungsgemäß zeigt sich im Kriegsfall eher früher als später, daß die stärkste und geostrategisch am günstigsten plazierte Armee häufig die besten Karten hat. Konventionell sehr stark überlegen war in Mitteleuropa nicht die Nato, sondern die Sowjetunion zusammen mit der NVA der DDR. In Mastnys Beitrag wird das durchgehend beiseite gewischt. Angesichts der strukturellen Überlegenheit im konventionellen Bereich wäre es um so interessanter zu wissen, wie in dieser Frühzeit die sowjetischen Kriegspläne aussahen, nicht zuletzt auch die Pläne für einen Krieg unter Einsatz von Kernwaffen. Zwar werden die "hauptsächlich von amerikanischen und britischen Nachrichtenquellen zusammengetragenen Schreckenseinschätzungen" von Anfang der fünfziger Jahre gehörig ironisiert, die Sowjetunion besitze 175 kampfbereite Divisionen "mit der Fähigkeit zu übermenschlichen Taten". Jedoch gehört Mastny zu den Vorsichtigen und versteht es, diese keck formulierte Passage durch eine vorgestellte Bemerkung gegen Kritik zu immunisieren: "Wie auch immer Moskaus Perzeptionen und Pläne aussahen . . ." Ebendiese Pläne sucht der geneigte Leser bei Mastny, wird aber nicht so recht fündig.
Die beiden heterogenen Beiträge von Schmidt und Mastny dokumentieren, wie kritisch fundiert die Kenntnisse über die westliche Militärpolitik in der Frühphase des Kalten Krieges mittlerweile sind, während das Wissen über die operativen Planungen und Mittel der Gegenseite eher noch einem Schweizer Käse gleicht.
HANS-PETER SCHWARZ
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Westliche und östliche Militärpolitik in den Jahren 1946 bis 1956
Vojtech Mastny/Gustav Schmidt: Konfrontationsmuster des Kalten Krieges 1946 bis 1956. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Norbert Wiggershaus und Dieter Krüger. R. Oldenbourg Verlag, München 2003. 581 Seiten, 44,80 [Euro].
Jetzt wissen wir's - könnte man mit dem berühmten Buchtitel von John Lewis Gaddis auch nach der Lektüre der hier anzuzeigenden Publikation sagen, jedenfalls soweit das die westliche Militärstrategie zwischen 1946 und 1956 betrifft. Sie vereinigt zwei Einzelstudien - eine breit angelegte, exzellent recherchierte und voll ausgereifte Monographie von Gustav Schmidt, Ruhr-Universität Bochum, und einen eher schmalbrüstigen Beitrag von Vojtech Mastny, National Security Archive in Washington. Beide Arbeiten sind nur durch ein gemeinsames Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenverzeichnis aufeinander bezogen.
Man muß der Gelehrsamkeit großen Respekt zollen, mit der Gustav Schmidt eine weitverzweigte Forschung zusammenfaßt. Die Befunde, Deutungen und Irrtümer zahlloser anderer Forscher auf diesem reich beackerten Feld werden von ihm fair referiert und zugleich auf Grundlage neu erschlossener oder originell interpretierter Quellen weitergeführt. Er verfolgt das ehrgeizige Ziel einer multidimensionalen Strukturanalyse des Kalten Krieges unter Einbeziehung aller relevanten Dimensionen. Derartige Totalanalysen pflegen häufig danebenzugehen, weil sie Begriff auf Begriff und Trivialität auf Trivialität türmen. Schmidt ist dieser Gefahr durchgehend entgangen. Entsteht so ein übersichtliches Geschichtspanorama? Mitnichten. Beabsichtigt oder unbeabsichtigt, jedenfalls sehr eindrucksvoll, verdeutlicht dieser ruhelos reflektierende und recherchierende Analytiker, daß sich die Staatsmänner und Sicherheitsexperten jener Jahre wie in einem dunklen Labyrinth bewegten. Die einzelnen Regierungen mochten noch hoffen, dabei jeweils dem Ariadnefaden des eigenen Nationalinteresses zu folgen, verwickelten sich dabei aber unablässig in Widersprüche und Aporien.
Man nehme nur die Bundesrepublik als Beispiel. Sie wollte neben vielem anderem mehr auch ein Maximum an Sicherheit, mußte sich deshalb auch auf die praktisch kaum steuerbare Nuklearstrategie der Nato einlassen. Obwohl die Bundesrepublik noch viel mehr Grund als Frankreich gehabt hätte, zwecks Abschreckung eine eigene Kernwaffenkomponente zu erwerben, war sie viel zu exponiert und viel zu schwach dazu, wollte aber dennoch nicht ganz auf die nukleare Option verzichten, um nicht jeden Einfluß auf die nuklearen Entscheidungen der Partner zu verlieren. Dennoch war diese Sicherheitspolitik der frühen Adenauer-Jahre, wie Schmidt mehr implizit als explizit verdeutlicht, alles in allem bemerkenswert rational und erfolgreich. Ihr absurder Kern wäre erst voll offenbar geworden, wenn der Kriegsfall tatsächlich eingetreten wäre.
So wird hier Land um Land und Thema um Thema durchdekliniert. Vieldeutigkeit - "Ambiguity", wie Schmidt dies im "Anglosprech" formuliert - ist das Schlüsselwort dafür. Es ist also ein Hauptverdienst dieser differenzierten Untersuchung, nicht im nachhinein den Eindruck von Klarheit der Strukturen oder der Optionen zu erwecken. Ein an griffigen, leicht popularisierbaren Erkenntnissen interessierter Leser kommt somit nicht auf seine Rechnung, genausowenig diejenigen, die an nachträglicher Schuldzumessung ihre Freude haben. Alles erscheint höchst verwirrend, ungeordnet und unklar. Aber so war die Wirklichkeit des Kalten Krieges, und dies nicht nur im Untersuchungszeitraum 1946 bis 1956.
Im Vergleich dazu fällt die Studie Mastnys deutlich ab. Natürlich ist er ein Opfer der miesen Quellenlage. Gewiß weiß der Historiker dank der seit dem Ende des Ostblocks zutage geförderten Quellen schon viel mehr über die sowjetische Außenpolitik jener Periode als vor 15 bis 20 Jahren, und so hält sich auch Mastny vor allem an die allerhöchste, inzwischen hinlänglich gut bekannte Entscheidungsebene. Doch muß er die eigentlich erwartete Darstellung der Kriegspläne der Roten Armee schuldig bleiben, weil diese auch im heutigen Rußland immer noch als sehr sensible Ware gelten.
Mastny neigt dazu, die Sicherheitspolitik der Sowjetunion als prinzipiell defensiv zu bewerten. Selbst wenn die damaligen Nato-Strategen dies ihrerseits für zutreffend gehalten hätten: Was hieße dies schon, wenn man weiß, wie plötzlich große Kriege zwischen verfeindeten Allianzen ausbrechen können!? Schließlich herrschte in den späten vierziger und in den fünfziger Jahren an gravierenden Krisen kein Mangel.
Eben für solch nie ganz unwahrscheinlichen Fälle, in denen Krisen in Kriege hineinrutschen, pflegen die Generalstäbe ihre Kriegspläne zu entwickeln - defensive, offensive, jedenfalls ziemlich detaillierte. Und erfahrungsgemäß zeigt sich im Kriegsfall eher früher als später, daß die stärkste und geostrategisch am günstigsten plazierte Armee häufig die besten Karten hat. Konventionell sehr stark überlegen war in Mitteleuropa nicht die Nato, sondern die Sowjetunion zusammen mit der NVA der DDR. In Mastnys Beitrag wird das durchgehend beiseite gewischt. Angesichts der strukturellen Überlegenheit im konventionellen Bereich wäre es um so interessanter zu wissen, wie in dieser Frühzeit die sowjetischen Kriegspläne aussahen, nicht zuletzt auch die Pläne für einen Krieg unter Einsatz von Kernwaffen. Zwar werden die "hauptsächlich von amerikanischen und britischen Nachrichtenquellen zusammengetragenen Schreckenseinschätzungen" von Anfang der fünfziger Jahre gehörig ironisiert, die Sowjetunion besitze 175 kampfbereite Divisionen "mit der Fähigkeit zu übermenschlichen Taten". Jedoch gehört Mastny zu den Vorsichtigen und versteht es, diese keck formulierte Passage durch eine vorgestellte Bemerkung gegen Kritik zu immunisieren: "Wie auch immer Moskaus Perzeptionen und Pläne aussahen . . ." Ebendiese Pläne sucht der geneigte Leser bei Mastny, wird aber nicht so recht fündig.
Die beiden heterogenen Beiträge von Schmidt und Mastny dokumentieren, wie kritisch fundiert die Kenntnisse über die westliche Militärpolitik in der Frühphase des Kalten Krieges mittlerweile sind, während das Wissen über die operativen Planungen und Mittel der Gegenseite eher noch einem Schweizer Käse gleicht.
HANS-PETER SCHWARZ
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Hans-Peter Schwarz vergibt gute Noten an dieses Buch, das seinen Informationen zufolge zwei heterogene Einzelstudien vereinigt. Besonders Gustav Schmidt wird für die Gelehrsamkeit gelobt, mit der er für seine "breit ausgelegte, exzellent recherchierte und voll ausgereifte Monografie" eine weitverzweigte Forschung zum Thema zusammengefasst hat. Als Hauptverdienst dieser differenzierten Untersuchung betrachtet es der Rezensent, "nicht im nachhinein den Eindruck von Klarheit der Strukturen oder Optionen zu erwecken". Zwar fällt seiner Ansicht nach die zweite Studie des Bandes dagegen deutlich ab. Dies schreibt der Rezensent jedoch hauptsächlich der "miesen Quellenlage" zu. Kritisch sieht Schwarz auch, dass Autor Vojtech Mastny die Sicherheitspolitik der UDSSR als prinzipiell defensiv bewertet. Dennoch dokumentieren beide Beiträge seiner Ansicht nach, wie kritisch fundiert die Kenntnisse der westlichen Militärpolitik inzwischen sind, während die der Gegenseite immer noch einem Schweizer Käse gleiche.
© Perlentaucher Medien GmbH
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