Durch den Blick auf Leben und Werk von Konrad Wolf, dem wichtigsten Filmemacher der DDR, wird die vernachlässigte Perspektive Ostdeutschlands auf die Verheerungen und Hoffnungen des 20. Jahrhunderts rekonstruiert. Seine Filme geben Aufschluss über die Gründe und Verheißungen einer »sozialistischen Alternative«; dialogisch entwickeln Antje Vollmer aus dem Westen und Hans-Eckardt Wenzel aus dem Osten eine gesamtdeutsche Erzählung vom Scheitern und Gelingen - vom Verhältnis von Kunst zu Wirklichkeit. Als Sohn des bekannten und erfolgreichen Schriftstellers, Arztes und Kommunisten Friedrich Wolf 1925 in Hechingen (nicht weit von Tübingen) geboren, wächst Konrad Wolf ab 1934 in der Emigration im Moskau der stalinistischen 1930er-Jahre auf. In der DDR wird er zum bedeutenden und international bekannten Filmregisseur, während sein Bruder Markus zum Auslandsgeheimdienstchef wird (dessen bekanntes Buch Die Troika basiert auf den Filmskizzen des Bruders, die dieser nicht mehr vollendenkonnte). »Aus Deutschland heraus und nach Deutschland zurück, das war sein Lebensthema.« - Wolfgang Kohlhaase Konrad Wolf wird in seinen 14 Spielfilmen, die gerade wieder neu ediert wurden, zum Chronisten der DDR und eines Lebens im Jahrhundert der Extreme - bis zu seinem Tod im Jahr 1982. Obwohl zwei seiner Filme (Sonnensucher und Menschen mit Flügeln) jahrelang nicht in den Kinos der DDR zu sehen waren, wird er als Präsident der Akademie der Künste zum Mittler zwischen Kunst und Politik. Zusammen mit Kollegen, Autoren, Kameraleuten und Drehbuchautoren sucht er innerhalb der DDR nach eigener künstlerischer Wahrhaftigkeit. Seine Filmerzählungen, die Verarbeitung seiner Biografie - von der russischen Kindheit und seiner Zeit als junger Soldat der Roten Armee bis zur langsamen Annäherung an die zunächst fremde deutsche Heimat - zeigen ihn als eigensinnigen Grenzgänger mit starken Bindungen an das Schicksal seiner Familie. Er entwickelt eine authentische Filmsprache, die geprägt istvon der Sinnsuche und der Melancholie des Exilanten, von den Konflikten des Sozialisten und Künstlers im neu gespaltenen Europa nach dem Ende des großen Krieges. Interviews mit Freunden und Mitstreitern erweitern das bisher bekannte Bild.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2019Weder Anpassung noch Kalkül
Orientierungspunkt Moskau: Eine Biographie des Filmemachers und DDR-Kulturfunktionärs Konrad Wolf
Im Dezember 1981 trafen sich in Berlin auf Einladung der Akademie der Künste, einer Institution der DDR, eine Reihe namhafter Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller, um über die Gefahr eines Kriegs zu sprechen. Es war die Zeit nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979, eine Zeit, in der das atomare Wettrüsten der beiden Supermächte weltweite Besorgnis erregte. Auf der Veranstaltung ging es nicht zuletzt um die Frage, von welcher Seite die größere Bedrohung ausging.
Der Filmemacher Konrad Wolf ergriff damals das Wort und plädierte dafür, die Sowjetunion nicht als aggressive Macht zu sehen. Er gab dafür eine autobiographische Begründung: "Ich erlebte unmittelbar, zwei Jahre auf der Seite der Roten Armee, die verbrannte Ukraine, das zerstörte Kiew, zwei Tage nach der Befreiung von Majdanek, dann das brennende Warschau, das Inferno in Berlin, schließlich das KZ Sachsenhausen und das Zuchthaus Brandenburg." Von einem Staat, der im Krieg gegen den Nationalsozialismus solche Verdienste erworben hatte, wollte und konnte Wolf sich keine kriegsauslösenden Akte vorstellen.
Konrad Wolf sprach damals als Kunstschaffender, er war aber auch Präsident der Akademie und damit einer der höchsten Kulturfunktionäre des sozialistischen deutschen Staates. Die zitierte Passage kann man getrost als ein Manifest nehmen: sowohl mit seinen Filmen wie auch mit seinem Engagement bezog Konrad Wolf sich Zeit seines Lebens auf die prägende Erfahrung, die er als junger Mann machte, als er von Moskau nach Berlin zurückkehrte, ein Befreiungskämpfer auf dem Weg nach Hause, in ein Deutschland, das er schon als Kind hatte verlassen müssen.
Auch in der neuen Biographie von Antje Vollmer und Hans-Eckardt Wenzel haben die Erlebnisse dieser Jahre zwischen 1943 und 1945 einen hohen Stellenwert, bilden die Mitte des Buches, obwohl sie in der Lebenszeit von Konrad Wolf in die Jugendjahre fallen. Es gilt hier, die Familiengeschichte und die zeithistorischen Umstände zu berücksichtigen. Und das bedeutet, dass fast die Hälfte der Darstellung von Vollmer und Wenzel dem Vater von Konrad Wolf gewidmet ist: dem Schriftsteller, Arzt und prominenten Kommunisten Friedrich Wolf, mit dessen Engagement es überhaupt zu tun hatte, dass die Familie den Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion erlebte - bis der Sohn Konrad dann als Soldat auch direkter Beteiligter dieses Krieges wurde.
"Chronist im Jahrhundert der Extreme" lautet der Untertitel des Buches. Das Autorenduo greift damit einen Topos des Historikers Eric Hobsbawm auf, und mit gutem Recht, wie sie immer wieder zeigen. Friedrich Wolf schuf im Lauf seines Lebens eine verschlungene Familie. Der heute geläufige Begriff "Patchwork" wäre lächerlich angesichts des Aufeinandertreffens von politischen und persönlichen Leidenschaften. Schon ein zwischendurch eingeflochtener Lebenslauf wie der von Lotte Rayss, einer späten Geliebten und Gefährtin des Vaters, öffnet den Horizont dieses Buches in viele Richtungen. Und so geht es die ganze Zeit in extremen Sprüngen und Kontrasten dahin: Spanischer Bürgerkrieg, Exil in Kasachstan, Eigenheim in Stuttgart, deutsche Barbarei bei Melitopol.
Und schließlich das Datum, das alles wendet und mit dem Konrad Wolf endgültig die Bühne der Geschichte betritt: der Befreiungsfrühling von 1945, auf den er mit seinem grundlegenden Film "Ich war neunzehn" verwies, und von dem er sich dann eben auch noch 1981, ein Jahr vor seinem Tod, bestimmt sah. Moskau blieb für Konrad Wolf zeitlebens der relevante Orientierungspunkt, in politischer, kultureller, sogar in kulinarischer Hinsicht, wenn man das Detail wertschätzen mag, dass Pelmeni (russische Teigtaschen) das Gericht waren, das Konrad Wolf für Freunde am liebsten auftischte.
Mit privaten Dingen beschäftigen sich Vollmer und Wenzel allerdings nur im Rahmen des Unerlässlichen. Der Mensch Konrad Wolf ist von seiner Arbeit ohnehin nicht zu trennen, und ob es tatsächlich eine tiefe Liebesenttäuschung war, die schließlich zu einem recht frühen Tod führte, muss über die diskreten Andeutungen hinaus nicht interessieren. Biographen sind keine Anatomen, und wie sich Weltgeschichte, Politik und Beziehungen in einen Körper eintragen, ist auch dann unentschlüsselbar, wenn ein Totenschein eine konkrete Todesursache (in diesem Fall: Lungenkrebs) nennt.
Konrad Wolf wurde in dieser Zeitung einmal als "der im Politbüro bestgelittene Regisseur" der DDR bezeichnet. Damit ist eine Spannung benannt, die von Vollmer und Wenzel deutlich zugunsten ihres "Helden" aufgelöst wird. Konrad Wolf war Kommunist aus tiefer Überzeugung. Als 1961 die Mauer gebaut wurde, schloss er sich mit einer Kampfgruppe an: "Wir müssen Künstler und Kämpfer zugleich sein." Je stärker sich die Herrschaft in der DDR aber verhärtete, desto schwieriger wurden die Vermittlungen, zu denen Wolf sich als Künstler wie als Funktionär genötigt sah. Es zählt zu den Eigentümlichkeiten vieler diktatorischer Systeme, dass die Herrscher sehr persönlichen Anteil an der Kunstproduktion nehmen. So gab es auch im Leben von Konrad Wolf immer wieder Begegnungen mit Ulbricht und später Honecker. Man diskutierte Drehbuchdetails ("Warum muss das Mädchen so viele Männer haben?", wollte Ulbricht über eine Frauenfigur in "Sonnensucher" wissen) und meinte Ideologie.
Bei Konrad Wolf war die Ideologie aber immer zurückbezogen auf seine Erfahrungen. Am ehesten wurde ihm vielleicht der zwanzig Jahre jüngere Thomas Brasch gerecht, den Vollmer und Wetzel zu Wort kommen lassen: Konrad Wolf wurde vor allem von vielen Oppositionellen in der DDR als ein "Mann der Macht" gesehen. "Sie verstanden einfach nicht, dass seine Haltung weder mit Anpassung noch mit Kalkül zu tun hatte, sondern mit der Sehnsucht und der Trauer eines Fremden, für den das Wort Kommunismus mit seiner Jugend, mit dem Krieg, mit dem Tod, mit der russischen Musik und mit dem Haß auf die Besitzergesellschaft zu tun hatte, aus deren Schoß die Konzentrationslager geboren waren."
In dem vielleicht besten Kapitel des Buchs wird diese Ambivalenz mit Blick auf Musikstücke in den Filmen von Konrad Wolf akzentuiert. Ein spätes Projekt über Ernst Busch sollte eine lebenslange Zuneigung zu diesem Sänger bezeugen, der "sang, als sei er für die Geschicke auf diesem Planeten verantwortlich". Vor allem aber legen Vollmer und Wenzel überzeugend dar, dass ein russisches Volkslied vom "Schwarzen Raben", innig verbunden mit dem populären Filmhelden Tschapajew aus einem Epos über den russischen Bürgerkrieg, für Konrad Wolf so etwas wie ein Herzstück seines Denkens und Arbeitens war. Es verkapselte die Überfülle an Erfahrungen in eine Melodie. Und das gelingt im Wesentlichen auch dieser Biographie.
BERT REBHANDL
Antje Vollmer und
Hans-Eckardt Wenzel: "Konrad Wolf". Chronist im Jahrhundert der Extreme.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 468 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Orientierungspunkt Moskau: Eine Biographie des Filmemachers und DDR-Kulturfunktionärs Konrad Wolf
Im Dezember 1981 trafen sich in Berlin auf Einladung der Akademie der Künste, einer Institution der DDR, eine Reihe namhafter Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller, um über die Gefahr eines Kriegs zu sprechen. Es war die Zeit nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979, eine Zeit, in der das atomare Wettrüsten der beiden Supermächte weltweite Besorgnis erregte. Auf der Veranstaltung ging es nicht zuletzt um die Frage, von welcher Seite die größere Bedrohung ausging.
Der Filmemacher Konrad Wolf ergriff damals das Wort und plädierte dafür, die Sowjetunion nicht als aggressive Macht zu sehen. Er gab dafür eine autobiographische Begründung: "Ich erlebte unmittelbar, zwei Jahre auf der Seite der Roten Armee, die verbrannte Ukraine, das zerstörte Kiew, zwei Tage nach der Befreiung von Majdanek, dann das brennende Warschau, das Inferno in Berlin, schließlich das KZ Sachsenhausen und das Zuchthaus Brandenburg." Von einem Staat, der im Krieg gegen den Nationalsozialismus solche Verdienste erworben hatte, wollte und konnte Wolf sich keine kriegsauslösenden Akte vorstellen.
Konrad Wolf sprach damals als Kunstschaffender, er war aber auch Präsident der Akademie und damit einer der höchsten Kulturfunktionäre des sozialistischen deutschen Staates. Die zitierte Passage kann man getrost als ein Manifest nehmen: sowohl mit seinen Filmen wie auch mit seinem Engagement bezog Konrad Wolf sich Zeit seines Lebens auf die prägende Erfahrung, die er als junger Mann machte, als er von Moskau nach Berlin zurückkehrte, ein Befreiungskämpfer auf dem Weg nach Hause, in ein Deutschland, das er schon als Kind hatte verlassen müssen.
Auch in der neuen Biographie von Antje Vollmer und Hans-Eckardt Wenzel haben die Erlebnisse dieser Jahre zwischen 1943 und 1945 einen hohen Stellenwert, bilden die Mitte des Buches, obwohl sie in der Lebenszeit von Konrad Wolf in die Jugendjahre fallen. Es gilt hier, die Familiengeschichte und die zeithistorischen Umstände zu berücksichtigen. Und das bedeutet, dass fast die Hälfte der Darstellung von Vollmer und Wenzel dem Vater von Konrad Wolf gewidmet ist: dem Schriftsteller, Arzt und prominenten Kommunisten Friedrich Wolf, mit dessen Engagement es überhaupt zu tun hatte, dass die Familie den Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion erlebte - bis der Sohn Konrad dann als Soldat auch direkter Beteiligter dieses Krieges wurde.
"Chronist im Jahrhundert der Extreme" lautet der Untertitel des Buches. Das Autorenduo greift damit einen Topos des Historikers Eric Hobsbawm auf, und mit gutem Recht, wie sie immer wieder zeigen. Friedrich Wolf schuf im Lauf seines Lebens eine verschlungene Familie. Der heute geläufige Begriff "Patchwork" wäre lächerlich angesichts des Aufeinandertreffens von politischen und persönlichen Leidenschaften. Schon ein zwischendurch eingeflochtener Lebenslauf wie der von Lotte Rayss, einer späten Geliebten und Gefährtin des Vaters, öffnet den Horizont dieses Buches in viele Richtungen. Und so geht es die ganze Zeit in extremen Sprüngen und Kontrasten dahin: Spanischer Bürgerkrieg, Exil in Kasachstan, Eigenheim in Stuttgart, deutsche Barbarei bei Melitopol.
Und schließlich das Datum, das alles wendet und mit dem Konrad Wolf endgültig die Bühne der Geschichte betritt: der Befreiungsfrühling von 1945, auf den er mit seinem grundlegenden Film "Ich war neunzehn" verwies, und von dem er sich dann eben auch noch 1981, ein Jahr vor seinem Tod, bestimmt sah. Moskau blieb für Konrad Wolf zeitlebens der relevante Orientierungspunkt, in politischer, kultureller, sogar in kulinarischer Hinsicht, wenn man das Detail wertschätzen mag, dass Pelmeni (russische Teigtaschen) das Gericht waren, das Konrad Wolf für Freunde am liebsten auftischte.
Mit privaten Dingen beschäftigen sich Vollmer und Wenzel allerdings nur im Rahmen des Unerlässlichen. Der Mensch Konrad Wolf ist von seiner Arbeit ohnehin nicht zu trennen, und ob es tatsächlich eine tiefe Liebesenttäuschung war, die schließlich zu einem recht frühen Tod führte, muss über die diskreten Andeutungen hinaus nicht interessieren. Biographen sind keine Anatomen, und wie sich Weltgeschichte, Politik und Beziehungen in einen Körper eintragen, ist auch dann unentschlüsselbar, wenn ein Totenschein eine konkrete Todesursache (in diesem Fall: Lungenkrebs) nennt.
Konrad Wolf wurde in dieser Zeitung einmal als "der im Politbüro bestgelittene Regisseur" der DDR bezeichnet. Damit ist eine Spannung benannt, die von Vollmer und Wenzel deutlich zugunsten ihres "Helden" aufgelöst wird. Konrad Wolf war Kommunist aus tiefer Überzeugung. Als 1961 die Mauer gebaut wurde, schloss er sich mit einer Kampfgruppe an: "Wir müssen Künstler und Kämpfer zugleich sein." Je stärker sich die Herrschaft in der DDR aber verhärtete, desto schwieriger wurden die Vermittlungen, zu denen Wolf sich als Künstler wie als Funktionär genötigt sah. Es zählt zu den Eigentümlichkeiten vieler diktatorischer Systeme, dass die Herrscher sehr persönlichen Anteil an der Kunstproduktion nehmen. So gab es auch im Leben von Konrad Wolf immer wieder Begegnungen mit Ulbricht und später Honecker. Man diskutierte Drehbuchdetails ("Warum muss das Mädchen so viele Männer haben?", wollte Ulbricht über eine Frauenfigur in "Sonnensucher" wissen) und meinte Ideologie.
Bei Konrad Wolf war die Ideologie aber immer zurückbezogen auf seine Erfahrungen. Am ehesten wurde ihm vielleicht der zwanzig Jahre jüngere Thomas Brasch gerecht, den Vollmer und Wetzel zu Wort kommen lassen: Konrad Wolf wurde vor allem von vielen Oppositionellen in der DDR als ein "Mann der Macht" gesehen. "Sie verstanden einfach nicht, dass seine Haltung weder mit Anpassung noch mit Kalkül zu tun hatte, sondern mit der Sehnsucht und der Trauer eines Fremden, für den das Wort Kommunismus mit seiner Jugend, mit dem Krieg, mit dem Tod, mit der russischen Musik und mit dem Haß auf die Besitzergesellschaft zu tun hatte, aus deren Schoß die Konzentrationslager geboren waren."
In dem vielleicht besten Kapitel des Buchs wird diese Ambivalenz mit Blick auf Musikstücke in den Filmen von Konrad Wolf akzentuiert. Ein spätes Projekt über Ernst Busch sollte eine lebenslange Zuneigung zu diesem Sänger bezeugen, der "sang, als sei er für die Geschicke auf diesem Planeten verantwortlich". Vor allem aber legen Vollmer und Wenzel überzeugend dar, dass ein russisches Volkslied vom "Schwarzen Raben", innig verbunden mit dem populären Filmhelden Tschapajew aus einem Epos über den russischen Bürgerkrieg, für Konrad Wolf so etwas wie ein Herzstück seines Denkens und Arbeitens war. Es verkapselte die Überfülle an Erfahrungen in eine Melodie. Und das gelingt im Wesentlichen auch dieser Biographie.
BERT REBHANDL
Antje Vollmer und
Hans-Eckardt Wenzel: "Konrad Wolf". Chronist im Jahrhundert der Extreme.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 468 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Schwarzer Rabe
Antje Vollmer und Hans-Eckardt Wenzel porträtieren den
Filmemacher Konrad Wolf und sein Jahrhundert der Extreme
VON FRITZ GÖTTLER
Verzögert wirkt die Schrift, manchmal scheint sie den Gedankengang zu bremsen. Die Worte wollen sich nicht zu einem Schreibfluss formen, die Buchstaben kommen als einzelne daher, in den Notizen, die der Filmemacher Konrad Wolf sich für eine Stellungnahme machte zur Ausbürgerung von Wolf Biermann aus der DDR, im Jahr 1976. Konrad Wolfs Stimme war wichtig, er war damals Präsident der Akademie der Künste, und einer der wichtigsten Filmemacher der DDR, auch international beachtet und erfolgreich, auf diversen Festivals vertreten, wo er es oft leichter hatte als in der DDR. (Sein letzter Film, „Solo Sunny“ gewann auf der Berlinale 1980 den Silbernen Bären und lief dann lange in den Kinos, auch im Westen.)
Ein Misstrauen der Schrift gegenüber scheint in diesen Worten auf, wie es in den Fünfzigern und Sechzigern die moderne Sprachphilosophie entwickelte, gegen die Schrift, die die Dinge abschließen will, definitiv. Der Bildermacher Konrad Wolf scheint zu zögern, als er „Verwechslung von Individualität“ und „Egozentrismus“ auf seinem der Zettel notiert – sie nicht durch ein und oder ein vs verbindet, sondern mit einen Pfeil, der den Egozentrismus aufzuspießen scheint.
Die Protesterklärung einiger Autoren zur Ausbürgerung vom 17. November 1976 hatte der Akademiepräsident nicht mitunterschrieben. Er äußerte sich mehrere Tage nicht, und die Erklärung, die er dann veröffentlichte, ist merkwürdig gewunden, der Argumentation der Partei und der Kulturbürokraten folgend. Kritik an der Entscheidung, im Nachhinein, war nicht intendiert. Seine Aufgabe sah Wolf darin, zu vermitteln. Viele, auch Freunde, haben ihm danach Versöhnlertum vorgeworfen. Konrad Wolf, von den Akademiemitgliedern durchweg geachtet, sah sich in der Isolation.
2005 hat es eine umfangreiche Konrad-Wolf-Biografie gegeben, von Wolfgang Jacobsen und Rolf Aurich, zwei Mitarbeitern des Deutschen Filmmuseums in Berlin. Das neue Buch von Antje Vollmer und Hans-Eckardt Wenzel ist ihm verpflichtet, aber erzählt von der anderen Seite her, es verringert die historische wissenschaftliche Distanz, hat wenig Scheu vor Pathos und kommt Wolf so ziemlich nahe – manchmal zu nahe. Die Grüne Antje Vollmer, 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Bundestags, und Hans-Eckardt Wenzel, ein populärer Liedermacher und Autor der DDR – gemeinsam haben sie bereits ein Buch über die Figuren von Fassbinders Bundesrepublik verfasst – versuchen den Filmemacher und den politischen Menschen Konrad Wolf nicht gegeneinander auszuspielen. Sie lassen Freunde und Mitarbeiter zu Wort kommen, Wolfgang Kohlhaase und Angel Wagenstein, das Ehepaar Christa und Gerhard Wolf, um in den Widersprüchen des sozialistischen Systems die Entwicklung seiner Entscheidungen und seiner Kreativität aufzuspüren, die individuelle Zerrissenheit und die gesellschaftlichen Spannungen.
Die Geschichte von Konrad Wolf fängt früh an, der erste Teil des Buches ist, wie auch das von Jacobsen/Aurich, dem Vater gewidmet, Friedrich Wolf, einer der kraftvollen Figuren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Arzt, Kommunist, Vertreter eines natürlichen, vitalen Lebensstils, was auch die Liebe und den Sex einschloss, Autor erfolgreicher engagierter Stücke – eins davon hat der Sohn Konrad 1961 verfilmt, „Professor Mamlock“. Unter den Nazis floh Friedrich Wolf mit der Familie ins Exil. Die Kinder wuchsen in Moskau auf, Konrad und sein Bruder Markus, der in der DDR dann Generaloberst der Stasi wurde. Mit 17 kommt Konrad, geboren 1925, in eine Propaganda-Einheit der Roten Armee, die Erfahrungen an der Front sind in einem detaillierten Tagebuch festgehalten. In „Ich war neunzehn“ hat er sie filmisch verarbeitet. Mit zwanzig ist er für kurze Zeit Stadtkommandant von Bernau, dann studiert er an der Filmhochschule in Moskau, mit dreißig kriegt er einen Vertrag bei der Defa, 1965 wird er, nach dem internationalen Erfolg von „Der geteilte Himmel“, zum Präsidenten der Akademie der Künste gewählt.
Das Buch von Vollmer und Wenzel greift weit über den Lebenslauf des Filmemachers hinaus, es ist die Biografie einer Epoche, des „Jahrhunderts der Extreme“ – weshalb der Band durchaus in die „Andere Bibliothek“ passt, die auch auf individuelles Schaffen stets historische Akzente setzt. Daher die prägnanten Exkurse zu den Strömungen des Jahrhunderts, die Jugendbewegung vor dem Krieg, danach dann die ideologischen und kulturellen Aufbau- und Normalisierungsbemühungen des Kalten Kriegs, vom Kongress für kulturelle Freiheit bis zu einem von Chruschtschow eingeleiteten Tauwetter.
Zehn Jahre vor der Biermann-Krise hatte es das ominöse 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 gegeben, mit den Vorwürfen von Formalismus und Ästhetizismus, die schon zur Stalinzeit kursierten. Fast eine gesamte Jahreskinoproduktion wurde verboten – Filme wie „Das Kaninchen bin ich“ von Kurt Maetzig, bei dem Wolf als Assistent gearbeitet hatte, oder „Spur der Steine“ von Frank Beyer. Der junge Akademiepräsident ist frustriert, aber er wird dann doch auf der Seite der Partei stehen, offiziell. Für sich notiert er ein Jahr später: „Wir stehen vor der größten Katastrophe unseres Filmschaffens ... wenn alle Gegenwartsfilme fehlerhaft sind, dann muss mit der Ideologie etwas nicht stimmen – zwingende Logik.“
Auch Konrad Wolf hat bei einigen Filmen Probleme mit den Defa-Leuten und ihren Vorstellungen eines sozialistischen Realismus gehabt. Im Jahr 1957 dreht er „Sonnensucher“, im Erzgebirge, über ein Dorf, das vom Uranabbau der Wismut lebt. Der Film wird in den Kinos nicht gestartet, ist erst 1972 zu sehen. Abstrakter Humanismus wird ihm beim nächsten Film vorgeworfen, „Sterne“, in dem ein deutscher Soldat sich während des Weltkriegs in Bulgarien in ein jüdisches Mädchen verliebt. Der Vorwurf des Formalismus ist Wolf nicht neu – in der Tat hat er im Film „Der geteilte Himmel“ nach dem Buch von Christa Wolf ganz bewusst die Stadt Halle so manieristisch gefilmt wie Antonioni Turin oder Ravenna.
Die Diskrepanz von Humanismus und Formalismus, die Unvereinbarkeit von Sozialismus und Demokratie hat Wolfs politisches Handeln bestimmt. „So frisst“, resümieren Vollmer/Wenzel, „die Angst vorm Scheitern des Sozialismus auch die Seele sensibler und durchaus mutiger Sozialisten auf. Konrad Wolf muss geahnt haben, dass das ganze Konstrukt DDR brüchig wurde gerade in dieser Zeit, als er es mit aller persönlichen Redlichkeit noch zu stabilisieren versuchte.“
Konrad Wolf hat lange gebraucht, bis er sich als Deutscher verstehen konnte, und er hat sich immer wieder gefragt, wo seine Heimat wirklich sein mochte. Seine Jugend verbrachte er in Moskau, besonders glücklich schien sie in den Sommern in der Intellektuellen-Kolonie Peredelkino zu sein, hier „war Russland mehr Russland als anderswo“. Es war eine Mütterwelt, der Vater war unterwegs, ganz im Gegensatz zur DDR-Gesellschaft später, die von alten Männern und Ideologen bestimmt wurde. In der Gemeinschaft des Filmemachens hat Konrad Wolf die verlorene Heimat, die vermisste Jugend wieder finden können. Es ist eine Einheit von Denken und Handeln, die Konrad Wolf in dieser Arbeit erfährt, wie sein Vater sie noch ganz selbstverständlich erleben durfte, bevor die faschistischen und sozialistischen Ideologien Europa zerrissen.
In einem TV-Film von 1977 gibt es einen geselligen Abend bei Konrad Wolf, da wird auch das Volkslied „Schwarzer Rabe“ gesungen, das im Film „Tschapajew“ von Sergej und Georgi Wassiljew erklingt. Wolf hat ihn oft gesehen, von Jugend an, er lief im Kino um die Ecke, es ist womöglich der Film, der ihn zum Kino brachte. Ein Film aus dem Bürgerkrieg, alles ist ganz klar, die Roten gegen die Weißen. In der Nacht vor dem Kampf singt der Held Tschapajew das Lied, das ist wie in den Western von Howard Hawks. Nun singt Konrad Wolf das Lied, die Augen geschlossen. „Als ob das Lied schon etwas wüsste, das dem Singenden nur als blasse Ahnung innewohnt …“ Dieses Lied könnte die wirkliche Heimat des Konrad Wolf sein.
Antje Vollmer, Hans-Eckardt Wenzel: Konrad Wolf. Chronist im Jahrhundert der Extreme. Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 467 Seiten, 42 Euro.
„... wenn alle Gegenwartsfilme
fehlerhaft sind,
dann muss mit der
Ideologie etwas nicht stimmen
– zwingende Logik“
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Antje Vollmer und Hans-Eckardt Wenzel porträtieren den
Filmemacher Konrad Wolf und sein Jahrhundert der Extreme
VON FRITZ GÖTTLER
Verzögert wirkt die Schrift, manchmal scheint sie den Gedankengang zu bremsen. Die Worte wollen sich nicht zu einem Schreibfluss formen, die Buchstaben kommen als einzelne daher, in den Notizen, die der Filmemacher Konrad Wolf sich für eine Stellungnahme machte zur Ausbürgerung von Wolf Biermann aus der DDR, im Jahr 1976. Konrad Wolfs Stimme war wichtig, er war damals Präsident der Akademie der Künste, und einer der wichtigsten Filmemacher der DDR, auch international beachtet und erfolgreich, auf diversen Festivals vertreten, wo er es oft leichter hatte als in der DDR. (Sein letzter Film, „Solo Sunny“ gewann auf der Berlinale 1980 den Silbernen Bären und lief dann lange in den Kinos, auch im Westen.)
Ein Misstrauen der Schrift gegenüber scheint in diesen Worten auf, wie es in den Fünfzigern und Sechzigern die moderne Sprachphilosophie entwickelte, gegen die Schrift, die die Dinge abschließen will, definitiv. Der Bildermacher Konrad Wolf scheint zu zögern, als er „Verwechslung von Individualität“ und „Egozentrismus“ auf seinem der Zettel notiert – sie nicht durch ein und oder ein vs verbindet, sondern mit einen Pfeil, der den Egozentrismus aufzuspießen scheint.
Die Protesterklärung einiger Autoren zur Ausbürgerung vom 17. November 1976 hatte der Akademiepräsident nicht mitunterschrieben. Er äußerte sich mehrere Tage nicht, und die Erklärung, die er dann veröffentlichte, ist merkwürdig gewunden, der Argumentation der Partei und der Kulturbürokraten folgend. Kritik an der Entscheidung, im Nachhinein, war nicht intendiert. Seine Aufgabe sah Wolf darin, zu vermitteln. Viele, auch Freunde, haben ihm danach Versöhnlertum vorgeworfen. Konrad Wolf, von den Akademiemitgliedern durchweg geachtet, sah sich in der Isolation.
2005 hat es eine umfangreiche Konrad-Wolf-Biografie gegeben, von Wolfgang Jacobsen und Rolf Aurich, zwei Mitarbeitern des Deutschen Filmmuseums in Berlin. Das neue Buch von Antje Vollmer und Hans-Eckardt Wenzel ist ihm verpflichtet, aber erzählt von der anderen Seite her, es verringert die historische wissenschaftliche Distanz, hat wenig Scheu vor Pathos und kommt Wolf so ziemlich nahe – manchmal zu nahe. Die Grüne Antje Vollmer, 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Bundestags, und Hans-Eckardt Wenzel, ein populärer Liedermacher und Autor der DDR – gemeinsam haben sie bereits ein Buch über die Figuren von Fassbinders Bundesrepublik verfasst – versuchen den Filmemacher und den politischen Menschen Konrad Wolf nicht gegeneinander auszuspielen. Sie lassen Freunde und Mitarbeiter zu Wort kommen, Wolfgang Kohlhaase und Angel Wagenstein, das Ehepaar Christa und Gerhard Wolf, um in den Widersprüchen des sozialistischen Systems die Entwicklung seiner Entscheidungen und seiner Kreativität aufzuspüren, die individuelle Zerrissenheit und die gesellschaftlichen Spannungen.
Die Geschichte von Konrad Wolf fängt früh an, der erste Teil des Buches ist, wie auch das von Jacobsen/Aurich, dem Vater gewidmet, Friedrich Wolf, einer der kraftvollen Figuren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Arzt, Kommunist, Vertreter eines natürlichen, vitalen Lebensstils, was auch die Liebe und den Sex einschloss, Autor erfolgreicher engagierter Stücke – eins davon hat der Sohn Konrad 1961 verfilmt, „Professor Mamlock“. Unter den Nazis floh Friedrich Wolf mit der Familie ins Exil. Die Kinder wuchsen in Moskau auf, Konrad und sein Bruder Markus, der in der DDR dann Generaloberst der Stasi wurde. Mit 17 kommt Konrad, geboren 1925, in eine Propaganda-Einheit der Roten Armee, die Erfahrungen an der Front sind in einem detaillierten Tagebuch festgehalten. In „Ich war neunzehn“ hat er sie filmisch verarbeitet. Mit zwanzig ist er für kurze Zeit Stadtkommandant von Bernau, dann studiert er an der Filmhochschule in Moskau, mit dreißig kriegt er einen Vertrag bei der Defa, 1965 wird er, nach dem internationalen Erfolg von „Der geteilte Himmel“, zum Präsidenten der Akademie der Künste gewählt.
Das Buch von Vollmer und Wenzel greift weit über den Lebenslauf des Filmemachers hinaus, es ist die Biografie einer Epoche, des „Jahrhunderts der Extreme“ – weshalb der Band durchaus in die „Andere Bibliothek“ passt, die auch auf individuelles Schaffen stets historische Akzente setzt. Daher die prägnanten Exkurse zu den Strömungen des Jahrhunderts, die Jugendbewegung vor dem Krieg, danach dann die ideologischen und kulturellen Aufbau- und Normalisierungsbemühungen des Kalten Kriegs, vom Kongress für kulturelle Freiheit bis zu einem von Chruschtschow eingeleiteten Tauwetter.
Zehn Jahre vor der Biermann-Krise hatte es das ominöse 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 gegeben, mit den Vorwürfen von Formalismus und Ästhetizismus, die schon zur Stalinzeit kursierten. Fast eine gesamte Jahreskinoproduktion wurde verboten – Filme wie „Das Kaninchen bin ich“ von Kurt Maetzig, bei dem Wolf als Assistent gearbeitet hatte, oder „Spur der Steine“ von Frank Beyer. Der junge Akademiepräsident ist frustriert, aber er wird dann doch auf der Seite der Partei stehen, offiziell. Für sich notiert er ein Jahr später: „Wir stehen vor der größten Katastrophe unseres Filmschaffens ... wenn alle Gegenwartsfilme fehlerhaft sind, dann muss mit der Ideologie etwas nicht stimmen – zwingende Logik.“
Auch Konrad Wolf hat bei einigen Filmen Probleme mit den Defa-Leuten und ihren Vorstellungen eines sozialistischen Realismus gehabt. Im Jahr 1957 dreht er „Sonnensucher“, im Erzgebirge, über ein Dorf, das vom Uranabbau der Wismut lebt. Der Film wird in den Kinos nicht gestartet, ist erst 1972 zu sehen. Abstrakter Humanismus wird ihm beim nächsten Film vorgeworfen, „Sterne“, in dem ein deutscher Soldat sich während des Weltkriegs in Bulgarien in ein jüdisches Mädchen verliebt. Der Vorwurf des Formalismus ist Wolf nicht neu – in der Tat hat er im Film „Der geteilte Himmel“ nach dem Buch von Christa Wolf ganz bewusst die Stadt Halle so manieristisch gefilmt wie Antonioni Turin oder Ravenna.
Die Diskrepanz von Humanismus und Formalismus, die Unvereinbarkeit von Sozialismus und Demokratie hat Wolfs politisches Handeln bestimmt. „So frisst“, resümieren Vollmer/Wenzel, „die Angst vorm Scheitern des Sozialismus auch die Seele sensibler und durchaus mutiger Sozialisten auf. Konrad Wolf muss geahnt haben, dass das ganze Konstrukt DDR brüchig wurde gerade in dieser Zeit, als er es mit aller persönlichen Redlichkeit noch zu stabilisieren versuchte.“
Konrad Wolf hat lange gebraucht, bis er sich als Deutscher verstehen konnte, und er hat sich immer wieder gefragt, wo seine Heimat wirklich sein mochte. Seine Jugend verbrachte er in Moskau, besonders glücklich schien sie in den Sommern in der Intellektuellen-Kolonie Peredelkino zu sein, hier „war Russland mehr Russland als anderswo“. Es war eine Mütterwelt, der Vater war unterwegs, ganz im Gegensatz zur DDR-Gesellschaft später, die von alten Männern und Ideologen bestimmt wurde. In der Gemeinschaft des Filmemachens hat Konrad Wolf die verlorene Heimat, die vermisste Jugend wieder finden können. Es ist eine Einheit von Denken und Handeln, die Konrad Wolf in dieser Arbeit erfährt, wie sein Vater sie noch ganz selbstverständlich erleben durfte, bevor die faschistischen und sozialistischen Ideologien Europa zerrissen.
In einem TV-Film von 1977 gibt es einen geselligen Abend bei Konrad Wolf, da wird auch das Volkslied „Schwarzer Rabe“ gesungen, das im Film „Tschapajew“ von Sergej und Georgi Wassiljew erklingt. Wolf hat ihn oft gesehen, von Jugend an, er lief im Kino um die Ecke, es ist womöglich der Film, der ihn zum Kino brachte. Ein Film aus dem Bürgerkrieg, alles ist ganz klar, die Roten gegen die Weißen. In der Nacht vor dem Kampf singt der Held Tschapajew das Lied, das ist wie in den Western von Howard Hawks. Nun singt Konrad Wolf das Lied, die Augen geschlossen. „Als ob das Lied schon etwas wüsste, das dem Singenden nur als blasse Ahnung innewohnt …“ Dieses Lied könnte die wirkliche Heimat des Konrad Wolf sein.
Antje Vollmer, Hans-Eckardt Wenzel: Konrad Wolf. Chronist im Jahrhundert der Extreme. Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 467 Seiten, 42 Euro.
„... wenn alle Gegenwartsfilme
fehlerhaft sind,
dann muss mit der
Ideologie etwas nicht stimmen
– zwingende Logik“
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"Das neue Buch von Antje Vollmer und Hans-Eckardt Wenzel ist ihm verpflichtet, aber erzählt von der anderen Seite her, es verringert die historische wissenschaftliche Distanz, hat wenig Scheu vor Pathos und kommt Wolf so ziemlich nahe - manchmal zu nahe. (...) Sie lassen Freunde und Mitarbeiter zu Wort kommen, Wolfgang Kohlhaase und Angel Wagenstein, das Ehepaar Christa und Gerhard Wolf, um in den Widersprüchen des sozialistischen Systems die Entwicklung seiner Entscheidungen und seiner Kreativität aufzuspüren". Süddeutsche Zeitung 20191015