In diesem Klassiker der Wissenssoziologie untersucht Mannheim Struktur, Genealogie und Entwicklung des konservativen Denkstils. Ziel der Arbeit ist der Nachweis der Tatsache, daß sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine von bestimmten sozialen Schichten getragene einheitliche Denkrichtung herausbildete, die Mannheim »Altkonservatismus« nennt. Entstanden ist eine Studie, die soziale Ursachen komplexer geistiger Strukturen ohne Reduktionismus der Ideen oder soziologisch undifferenzierte Zurechnungen aufzeigen kann.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.08.2004Der Befreiungsschlag
Reinhard Laube über Karl Mannheim und den Historismus
Es gibt Begriffe, gegen die ein Wackelpudding ein Muster an Standfestigkeit ist. Der des „Historismus” gehört zu dieser Gruppe. Seit Generationen versucht man, sich seiner „Entstehung” (Friedrich Meinecke), seiner „Probleme” (Ernst Troeltsch), seiner „Krisis” (Karl Heussi), seiner „Überwindung” (Georg Simmel) oder zumindest seiner „Wurzeln” (Georg Iggers) zu versichern. Doch es ist kein Land in Sicht. Trotz der wenig ermutigenden Ergebnisse ziehen immer wieder tapfere Recken aus, um den Kampf erneut aufzunehmen. Manchmal bringen sie ein neues Zitat mit nach Hause, gelegentlich erhellt sich ein Zusammenhang, weil endlich ein Brief gefunden wurde. Ob dereinst jemand wenigstens die Inschrift über dem Eingangstor zum „Historismus” entziffern wird, gilt als unausgemacht.
Mitten in den zwanziger Jahren zieht der bis dahin nur wenigen bekannte Karl Mannheim souverän Bilanz und fordert damit die Spezialisten heraus: „Der Historismus ist das Fundament, von dem aus wir die gesellschaftlich-kulturelle Wirklichkeit betrachten.” Was zunächst lediglich wie die Bestimmung der eigenen Position klingt, ist tatsächlich die reflektierte Perspektive, mit der Mannheim das „Historismus”-Problem insgesamt in den Blick nimmt und damit einen Ausweg aus den in sich kreisenden Diskussionen aufweist.
Zunächst geht es um die Wiedergewinnung eines möglichst umfassendes Blickes auf das, was ist. Dazu bedarf es in einem ersten Schritt der „Reproblematisierung” objektiv gewonnener Erkenntnisse. Eine solche radikale Skepsis bezieht sodann die „Standortgebundenheit” des Interpreten mit ein.
Das Ergebnis der Operation erwies sich als eine ungeheure Zumutung: dass die Strukturen der Wirklichkeit paradoxal sein könnten, dass „Geist” und „Leben” nichts als letzte metaphysische Residuen seien, die bloße Selbsttäuschungen darstellen, konnte man nicht akzeptieren. Die Provokation bestand nicht zuletzt darin, Konsensangebote der Geistes- und Naturwissenschaften abzubügeln: beide wollten etwas abgeben, was sie zuvor nicht bewiesen hatten. Somit aber war erreicht, worum es Mannheim in seinen Untersuchungen gegangen war, nämlich die produktive Mehrdeutigkeit der Lebenswelt als Maßstab für die Beurteilung des Theorieangebotes heranzuziehen. Und genau das war es, was der „Historismus” und seine heimlichen und offenherzigen Liebhaber samt Verächtern scheuten: das Uneindeutige.
Mannheims 1924 durch die Lektüre von Troeltschs großem „Historismus”-Buch gewonnener Befreiungsschlag blieb weitgehend unbeachtet. Er selbst schien sich mit seinen eigenen Studien zum „Konservatismus” und zu „Ideologie und Utopie” von seiner eigenen Fragestellung entfernt zu haben. Trotz der seit einigen Jahren anlaufenden Mannheim-Renaissance erreichten weder die subtile „Historismus”-Kritik noch die sich daraus entwickelnde Schlussfolgerung die nötige Aufmerksamkeit.
Der Ideengeschichtler Reinhard Laube kennt die Geschichten und Mythen, die sich um den „Historismus” ranken, bestens. Das beweisen nicht nur die umfangreichen Kapitel seiner in jeder Hinsicht gewichtigen Studie, in denen er die zentralen Diskursstationen von Friedrich Nietzsche bis Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler unter die Lupe nimmt. Wirklich befreiend und weiterführend ist Laubes Zugriff in diesem Abschnitt dadurch, dass er die Debatten konsequent als Auseinandersetzungen mit der jeweiligen Gegenwart der Autoren begreift: der „Historismus” sei von jeher zugleich Krisenphänomen und Auslöser von Krisen gewesen.
Die unweigerliche Folge dieser These aber bedeutet, ihn von einer geistesgeschichtlichen Formation zu einer Chiffre für Wirklichkeit und ihre Beschreibung zu transformieren. Laube zieht daraus in seiner luziden argumentierenden Dissertation zwei Konsequenzen. Zum einen nimmt er die von Mannheim gelegte Spur auf, und wendet sie auf ihren Urheber selbst an. Und er gewinnt dadurch eine analytische Tiefenschärfe auf die Debatte, die aus dem bloß intellektuellen Figurengeschiebe des „Historismus” eine neue „Perspektive” nach dem innersten Zusammenhalt von Theorie und Praxis wirft.
Rückgriff auf den Beginn
Mit der nun vorliegenden Gesamtdarstellung Mannheims wird sich die Lektüre dieses oftmals unterschätzten Gelehrten ändern. Laube greift für sein Unternehmen auf die Anfänge Mannheims in Budapest zurück, entlockt manches den Archiven und entlarvt einen Großteil der Rezeptionsgeschichte als Schwindel. Dabei erweisen sich seine Kenntnisse des Ungarischen als besonders hilfreich: bereits die im Anhang abgedruckten und kommentierten, bisher nicht bekannten oder nicht übersetzten Texte erhellen nicht nur Mannheims intellektuelle Biographie, sondern betonen eindrücklich seine herausragende Stellung.
Der Rückgriff auf den Beginn dient nicht der Suggestion eines stringenten Entwicklungsganges, vielmehr macht er deutlich, wie sehr Mannheim allmählich und mehr findend als suchend die Stücke seines Ansatzes zusammenträgt. In der Interpretation von „Ideologie und Utopie” etwa lässt sich mit Laube genau nachvollziehen, wie die Unterscheidungen von „liberal-demokratisch”, „historisch konservativ”, dem „bürokratischen Konservatismus”, dem „Sozialismus/Kommunismus” und schließlich dem „Faschismus” nochmals ausdifferenziert werden, um zu zeigen, dass jede Metaposition gegenüber diesen sehr wirklichen Konstellationen eine Flucht in die Irrealität darstellt.
Reinhard Laubes an Details und Informationen überschäumende Arbeit ist aber noch in einer anderen Hinsicht bedeutsam. Sie rekonstruiert nicht nur die Fluchtlinien des „Historismus” und gibt der Diskussion das Werk Mannheims wieder zurück, sondern sie ist ein treffliches Plädoyer für die engagierte Ideengeschichte. Laubes Buch hätte Mannheim gefallen.
THOMAS MEYER
REINHARD LAUBE: Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Abb., Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2004. 676 S., 92 Euro.
KARL MANNHEIM: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003. 288 Seiten, 11,50 Euro.
KARL MANNHEIM: Strukturen des Denkens. Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003. , 400 Seiten, 12 Euro.
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Reinhard Laube über Karl Mannheim und den Historismus
Es gibt Begriffe, gegen die ein Wackelpudding ein Muster an Standfestigkeit ist. Der des „Historismus” gehört zu dieser Gruppe. Seit Generationen versucht man, sich seiner „Entstehung” (Friedrich Meinecke), seiner „Probleme” (Ernst Troeltsch), seiner „Krisis” (Karl Heussi), seiner „Überwindung” (Georg Simmel) oder zumindest seiner „Wurzeln” (Georg Iggers) zu versichern. Doch es ist kein Land in Sicht. Trotz der wenig ermutigenden Ergebnisse ziehen immer wieder tapfere Recken aus, um den Kampf erneut aufzunehmen. Manchmal bringen sie ein neues Zitat mit nach Hause, gelegentlich erhellt sich ein Zusammenhang, weil endlich ein Brief gefunden wurde. Ob dereinst jemand wenigstens die Inschrift über dem Eingangstor zum „Historismus” entziffern wird, gilt als unausgemacht.
Mitten in den zwanziger Jahren zieht der bis dahin nur wenigen bekannte Karl Mannheim souverän Bilanz und fordert damit die Spezialisten heraus: „Der Historismus ist das Fundament, von dem aus wir die gesellschaftlich-kulturelle Wirklichkeit betrachten.” Was zunächst lediglich wie die Bestimmung der eigenen Position klingt, ist tatsächlich die reflektierte Perspektive, mit der Mannheim das „Historismus”-Problem insgesamt in den Blick nimmt und damit einen Ausweg aus den in sich kreisenden Diskussionen aufweist.
Zunächst geht es um die Wiedergewinnung eines möglichst umfassendes Blickes auf das, was ist. Dazu bedarf es in einem ersten Schritt der „Reproblematisierung” objektiv gewonnener Erkenntnisse. Eine solche radikale Skepsis bezieht sodann die „Standortgebundenheit” des Interpreten mit ein.
Das Ergebnis der Operation erwies sich als eine ungeheure Zumutung: dass die Strukturen der Wirklichkeit paradoxal sein könnten, dass „Geist” und „Leben” nichts als letzte metaphysische Residuen seien, die bloße Selbsttäuschungen darstellen, konnte man nicht akzeptieren. Die Provokation bestand nicht zuletzt darin, Konsensangebote der Geistes- und Naturwissenschaften abzubügeln: beide wollten etwas abgeben, was sie zuvor nicht bewiesen hatten. Somit aber war erreicht, worum es Mannheim in seinen Untersuchungen gegangen war, nämlich die produktive Mehrdeutigkeit der Lebenswelt als Maßstab für die Beurteilung des Theorieangebotes heranzuziehen. Und genau das war es, was der „Historismus” und seine heimlichen und offenherzigen Liebhaber samt Verächtern scheuten: das Uneindeutige.
Mannheims 1924 durch die Lektüre von Troeltschs großem „Historismus”-Buch gewonnener Befreiungsschlag blieb weitgehend unbeachtet. Er selbst schien sich mit seinen eigenen Studien zum „Konservatismus” und zu „Ideologie und Utopie” von seiner eigenen Fragestellung entfernt zu haben. Trotz der seit einigen Jahren anlaufenden Mannheim-Renaissance erreichten weder die subtile „Historismus”-Kritik noch die sich daraus entwickelnde Schlussfolgerung die nötige Aufmerksamkeit.
Der Ideengeschichtler Reinhard Laube kennt die Geschichten und Mythen, die sich um den „Historismus” ranken, bestens. Das beweisen nicht nur die umfangreichen Kapitel seiner in jeder Hinsicht gewichtigen Studie, in denen er die zentralen Diskursstationen von Friedrich Nietzsche bis Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler unter die Lupe nimmt. Wirklich befreiend und weiterführend ist Laubes Zugriff in diesem Abschnitt dadurch, dass er die Debatten konsequent als Auseinandersetzungen mit der jeweiligen Gegenwart der Autoren begreift: der „Historismus” sei von jeher zugleich Krisenphänomen und Auslöser von Krisen gewesen.
Die unweigerliche Folge dieser These aber bedeutet, ihn von einer geistesgeschichtlichen Formation zu einer Chiffre für Wirklichkeit und ihre Beschreibung zu transformieren. Laube zieht daraus in seiner luziden argumentierenden Dissertation zwei Konsequenzen. Zum einen nimmt er die von Mannheim gelegte Spur auf, und wendet sie auf ihren Urheber selbst an. Und er gewinnt dadurch eine analytische Tiefenschärfe auf die Debatte, die aus dem bloß intellektuellen Figurengeschiebe des „Historismus” eine neue „Perspektive” nach dem innersten Zusammenhalt von Theorie und Praxis wirft.
Rückgriff auf den Beginn
Mit der nun vorliegenden Gesamtdarstellung Mannheims wird sich die Lektüre dieses oftmals unterschätzten Gelehrten ändern. Laube greift für sein Unternehmen auf die Anfänge Mannheims in Budapest zurück, entlockt manches den Archiven und entlarvt einen Großteil der Rezeptionsgeschichte als Schwindel. Dabei erweisen sich seine Kenntnisse des Ungarischen als besonders hilfreich: bereits die im Anhang abgedruckten und kommentierten, bisher nicht bekannten oder nicht übersetzten Texte erhellen nicht nur Mannheims intellektuelle Biographie, sondern betonen eindrücklich seine herausragende Stellung.
Der Rückgriff auf den Beginn dient nicht der Suggestion eines stringenten Entwicklungsganges, vielmehr macht er deutlich, wie sehr Mannheim allmählich und mehr findend als suchend die Stücke seines Ansatzes zusammenträgt. In der Interpretation von „Ideologie und Utopie” etwa lässt sich mit Laube genau nachvollziehen, wie die Unterscheidungen von „liberal-demokratisch”, „historisch konservativ”, dem „bürokratischen Konservatismus”, dem „Sozialismus/Kommunismus” und schließlich dem „Faschismus” nochmals ausdifferenziert werden, um zu zeigen, dass jede Metaposition gegenüber diesen sehr wirklichen Konstellationen eine Flucht in die Irrealität darstellt.
Reinhard Laubes an Details und Informationen überschäumende Arbeit ist aber noch in einer anderen Hinsicht bedeutsam. Sie rekonstruiert nicht nur die Fluchtlinien des „Historismus” und gibt der Diskussion das Werk Mannheims wieder zurück, sondern sie ist ein treffliches Plädoyer für die engagierte Ideengeschichte. Laubes Buch hätte Mannheim gefallen.
THOMAS MEYER
REINHARD LAUBE: Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Abb., Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2004. 676 S., 92 Euro.
KARL MANNHEIM: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003. 288 Seiten, 11,50 Euro.
KARL MANNHEIM: Strukturen des Denkens. Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003. , 400 Seiten, 12 Euro.
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