Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.1997Wandervogel auf Irrwegen
Ralf Walkenhaus verfolgt den Werdegang von Ernst Rudolf Huber / Von Michael Stolleis
Wer in historischen Instituten oder juristischen Seminaren an den Regalen vorbeiwandert, stößt unweigerlich auf den "Huber", sieben monumentale Bände "Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789" samt Registerband, daneben über 2000 Seiten dazugehörige Dokumente in vier Bänden, weiter vier Bände Dokumente "Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert", zusammen mit Wolfgang Huber verfaßt, nochmals rund 3700 Seiten. Selbst mit dem großen "Wirtschaftsverwaltungsrecht" von 1931 hat man noch nicht das ganze Werk vor Augen.
Der Autor, Ernst Rudolf Huber, 1906 in Idar-Oberstein geboren und 1990 als Patriarch einer eindrucksvollen Gelehrtenfamilie verstorben, war ein deutscher Gelehrter in vielfachem Sinn: Nerother Wandervogel während der Schulzeit, Junghegelianer und Jungkonservativer, der 1929 bis 1933 zahlreiche anonyme und pseudonyme Artikel für den "Ring" und "Deutsches Volkstum" schrieb, hochbegabter Bonner Doktorand des Staatskirchenrechts und der eigentliche Begründer des Faches "Wirtschaftsverwaltungsrecht", enger Begleiter Carl Schmitts in den Jahren des Übergangs zum Nationalsozialismus, Berater bei den in den Kreisen um Papen und Schleicher erwogenen Staatsstreichplänen.
Dieser junge Mann erhielt mit 27 Jahren 1933/34 seine erste Professur in Kiel, übrigens jene des vertriebenen Völkerrechtspazifisten Walther Schücking. Er war nicht nur ein disziplinierter Arbeiter, er hatte auch die generationstypischen Visionen: Von der parlamentarischen Demokratie hielt er nichts, von "Führung" erwartete er alles. Ihm schwebte ein über den Parteien und Interessenverbänden stehender "neutraler" und starker Staat vor, eine starke Reichsregierung (hier liegen Differenzen zu Carl Schmitt, der damals auf den Reichspräsidenten setzte) sowie eine korporativ gegliederte Wirtschaft.
Generationstypisch war er auch "Antipositivist". Er sah in der Weimarer Verfassung weniger das positiv geltende Verfassungsrecht, und den Grundrechtsteil betrachtete er nicht als Dokument des liberalen Rechtsstaats. Statt dessen deutete er die Verfassung als eine von Pflichten dominierte Wertordnung, in der das Versprechen einer "Volksordnung" enthalten sei. Ebenso hatte er schon zuvor im Staatskirchenrecht die dialektische Überwindung von Gegensätzen gepredigt, sowohl zwischen den Konfessionen als auch vor allem zwischen Staat und Kirche, von deren Bündnis er Resistenzen gegen "staatsauflösende Tendenzen" erwartete und die er auf der Ebene "Nation" oder "Reich" zusammendenken wollte.
Der Dreischritt von Paradies, Sündenfall und Erlösung schien für diese jungen Rechtsnationalen reale Gestalt anzunehmen, als im Frühjahr 1933 mit Reichstagsbrandverordnung und Ermächtigungsgesetz die Weimarer Verfassung zerbrach und die schon lange herbeigewünschte autoritäre Staatsführung auf den Plan trat. Was Huber nun erlebte, war ihm die Epiphanie der Erfüllung. Er sah eine "echte Revolution", einen "deutschen Sozialismus" und schöpferische Kräfte, und er fühlte sich berufen, ihnen "Wesen und Inhalt der politischen Verfassung" auszulegen. Huber wurde nun zu einem Protagonisten des NS-Staates, gehörte zur "Kieler Schule" (1933-1937), gab die einst von Robert von Mohl gegründete "Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften" mit heraus und entwickelte auf der Grundlage des Rechtshegelianismus ein neues Konzept der "Staatswissenschaften" - nur eben weit an der universitären und gesellschaftlichen Realität vorbei.
Anders als Schmitt drängte sich Huber nicht nach Ämtern, er blieb stets distanzierter Gelehrter, suchte die innere Einheit seines Gegenstandes, beschwor "Gestalt", "Einheit" und "Ganzheit", "Führung" und "Ordnung". Für ihn führte der Weg von unten, vom "natürlichen Volk" über die "Bewegung" zum "Staat", der etwa ab 1938 wiederum vom Begriff des "Reiches" überstiegen wurde. Sein Hauptwerk jener Zeit ist das 1937 und (erweitert) 1939 erschienene "Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches".
Juristischer Sachverstand, Kraft zur Synthese, eine der Hegelschen Dialektik nachempfundene Sprache und eine bedrückende Fähigkeit zur Nichtwahrnehmung des verbrecherischen Charakters des Regimes vereinigten sich hier. Es war zweifellos eine brillante Darstellung des NS-Staatsrechts, fundamental falsch oder naiv nur in der Annahme, hier könne eine "Verfassung" im Sinne einer bindenden Ordnung traktiert werden oder man könne eine solche durch wissenschaftliche Überredung herstellen. An rechtlichen Bindungen waren Hitler und Himmler, Heydrich und Bormann, um nur diese zu nennen, aber nun einmal nicht interessiert.
Man hat später gesagt, dieses Buch sei nur ein "Phantasiestück" gewesen, das sich manche Kreise der NSDAP von der "Verfassung" gemacht hätten. Das mag sein, aber Huber war kein Mann der Partei oder der praktischen Politik. Man schätzte den 1937 nach Leipzig und 1941 nach Straßburg gewechselten Professor gewiß als loyalen und anerkannten Vertreter seines Fachs. Aber er war eben auch Schüler des 1936 durch eine SS-Intrige entmachteten Carl Schmitt, er war Hegelianer, was ihm das Mißtrauen Rosenbergs und anderer einbrachte, er setzte ganz auf den "Staat" und warnte mit sanften Worten vor Korruption und Rechtszerfall, was wiederum den völkischen und rassistischen Kreisen der SS nicht paßte.
Dies führte zwischen 1939 und 1945 zwar nicht zu einer wirklichen Distanzierung, wohl aber zu einer intensiven Hinwendung zur Geschichte. Das Buch "Heer und Staat in der deutschen Geschichte" (1938, 1941) und zahlreiche Aufsätze kreisten nun um das "Reich" und die "sinnhafte" Erfassung dessen, was sich vom Ende des Alten Reichs über Bismarck bis zu Hitler ereignet hatte.
In dieser Zeit mag der Entschluß gewachsen sein, den großen Bogen einer umfassenden deutschen Verfassungsgeschichte zu schlagen. Aber der äußere Anstoß waren die Jahre der Amtsenthebung nach 1945, in denen Huber als anonym/ pseudonym schreibender Privatgelehrter begann, dann über Lehrauftrag und Honorarprofessur 1957 an die Sozialwissenschaftliche Hochschule Wilhelmshaven-Rüstersiel und von dort 1962 nach Göttingen gelangte. In jenen Jahren ist das erwähnte Riesenwerk begonnen worden. Man muß diese lange Vorgeschichte kennen, um die historischen Perspektiven des Werks, um seine methodischen Maximen und um die hier jahrzehntelang investierte Arbeitsenergie angemessen zu würdigen.
Historiker, Verfassungshistoriker und Politikwissenschaftler haben sich mit dem Werk auseinandergesetzt. Was der Debatte bislang fehlte, war eine das Gesamtwerk Hubers abschreitende und analysierende Monographie. Diese ist nun durch Ralf Walkenhaus in einer von Wilhelm Bleek betreuten Bochumer Dissertation von 1993 geliefert worden. Er wandelte dabei auf einem schmalen Grat. Persönliche Bewunderung eines produktiven Gelehrten ist die eine Seite, Kritikfähigkeit gegenüber jener nebulösen Begrifflichkeit aus dreifacher Jugendquelle (Jugendbewegung, Jungkonservative, Junghegelianismus) ist die andere.
Die Einsicht in die politische Verderblichkeit dessen, was aus all den Schwärmereien von "starkem Staat", "Führertum", "Volksordnung" und "Reich" entstand, ist heute leicht zu haben, aber sie verdunkelt auch schnell den historischen Blick dafür, daß mit Stresemanns Tod und der Weltwirtschaftskrise das parlamentarische System wirklich am Ende zu sein schien. Walkenhaus gelingt diese Gratwanderung, indem er sich geduldig auf die immanente Begriffswendung Hubers einläßt und sich zunächst einmal darauf konzentriert, was der Autor gemeint haben könnte.
So entsteht das Bild eines gelehrten Verfassungstheoretikers und Verfassungshistorikers mit hohem Harmonie- und Gleichgewichtsbedarf, eines im Grunde Unpolitischen, der idealistischen Träumen von einem starken und neutralen Staat anhing, den es im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr geben konnte. Daß Huber dann Hitlers Staat ziemlich lange mit solchen Traumbildern verwechselte, hat er später eingesehen, ohne sich aber prinzipiell von seinen philosophischen Prämissen und Leitbildern zu trennen. Persönlich ganz untadelig, hielt er sich nach 1945 politisch zurück und konzentrierte sich auf sein historisches Werk.
Walkenhaus beschreibt diesen Weg genau, auch unter Einbeziehung der staatskirchenrechtlichen Schriften und der politischen Journalistik. Er deutet Huber im Anschluß an Karl Mannheims Wissenssoziologie, das heißt mit dem Instrumentarium der modernen Wissenschaftsgeschichte. Das fällt manchmal etwas theoretisch-pompös aus und führt zu gewissen Wiederholungen. Aber der Ertrag dieser gedankenreichen Monographie ist doch hoch. Vor allem wird klar, welche Grundlinien sich durch das Werk ziehen, und man versteht auch: Die "Verfassungsgeschichte" ist keinesfalls das Werk eines politisch Mißvergnügten, weder Bußarbeit noch "Flucht in die Geschichte", sondern eine der großen Leistungen der deutschen Historiographie. Daß hierbei auch der verborgene Wunsch nach Deutung der eigenen Position in jener Zeit eine Rolle gespielt habe, ist ein normales Begleitphänomen aller Geschichtsschreibung.
Was bleibt von diesem großen Werk? Die staatskirchenrechtlichen Beiträge sind weiterhin wertvoll und von historischem Interesse. Die politische Publizistik ist eine wichtige Quelle für Gemütslage und Illusion im Dunstkreis der "Konservativen Revolution". Das Wirtschaftsverwaltungsrecht wird Huber stets als Gründungsvater nennen, auch wenn das ältere korporative Gedankengut der ersten Auflage in die dreißiger Jahre gehört.
Historisch bleibend ist jedenfalls die Deutung des Staates der Industriegesellschaft als Interventionsstaat, der die individuelle Freiheit im Namen der von ihm verwalteten Großinteressen einzwängt. Ob die Rekonstruktion eines liberalen Privatrechts der richtigere Weg ist oder die demokratische und rechtsstaatliche Kontrolle der öffentlich-rechtlichen Intervention, mag hier offenbleiben.
Im Zeichen subtiler Rempeleien zwischen dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und dem Bundesverfassungsgericht würde Hubers Wirtschaftsverwaltungsrecht nur in europäischer Dimension fortgeführt werden können. Was also wirklich bleiben wird, sind die unersetzbaren elf Bände der "Verfassungsgeschichte" und ihrer Dokumente. Alle Interessierten nutzen sie, viele davon bisher ohne genauere Kenntnis des Autors. Das kann sich nun ändern. Ralf Walkenhaus hat das Hubersche Gebirgsmassiv in höchst verdienstvoller Weise untertunnelt und von innen erleuchtet.
Ralf Walkenhaus: "Konservatives Staatsdenken". Eine wissenssoziologische Studie zu Ernst Rudolf Huber. Akademie Verlag, Berlin 1997. 442 S., geb., 148,- DM.
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Ralf Walkenhaus verfolgt den Werdegang von Ernst Rudolf Huber / Von Michael Stolleis
Wer in historischen Instituten oder juristischen Seminaren an den Regalen vorbeiwandert, stößt unweigerlich auf den "Huber", sieben monumentale Bände "Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789" samt Registerband, daneben über 2000 Seiten dazugehörige Dokumente in vier Bänden, weiter vier Bände Dokumente "Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert", zusammen mit Wolfgang Huber verfaßt, nochmals rund 3700 Seiten. Selbst mit dem großen "Wirtschaftsverwaltungsrecht" von 1931 hat man noch nicht das ganze Werk vor Augen.
Der Autor, Ernst Rudolf Huber, 1906 in Idar-Oberstein geboren und 1990 als Patriarch einer eindrucksvollen Gelehrtenfamilie verstorben, war ein deutscher Gelehrter in vielfachem Sinn: Nerother Wandervogel während der Schulzeit, Junghegelianer und Jungkonservativer, der 1929 bis 1933 zahlreiche anonyme und pseudonyme Artikel für den "Ring" und "Deutsches Volkstum" schrieb, hochbegabter Bonner Doktorand des Staatskirchenrechts und der eigentliche Begründer des Faches "Wirtschaftsverwaltungsrecht", enger Begleiter Carl Schmitts in den Jahren des Übergangs zum Nationalsozialismus, Berater bei den in den Kreisen um Papen und Schleicher erwogenen Staatsstreichplänen.
Dieser junge Mann erhielt mit 27 Jahren 1933/34 seine erste Professur in Kiel, übrigens jene des vertriebenen Völkerrechtspazifisten Walther Schücking. Er war nicht nur ein disziplinierter Arbeiter, er hatte auch die generationstypischen Visionen: Von der parlamentarischen Demokratie hielt er nichts, von "Führung" erwartete er alles. Ihm schwebte ein über den Parteien und Interessenverbänden stehender "neutraler" und starker Staat vor, eine starke Reichsregierung (hier liegen Differenzen zu Carl Schmitt, der damals auf den Reichspräsidenten setzte) sowie eine korporativ gegliederte Wirtschaft.
Generationstypisch war er auch "Antipositivist". Er sah in der Weimarer Verfassung weniger das positiv geltende Verfassungsrecht, und den Grundrechtsteil betrachtete er nicht als Dokument des liberalen Rechtsstaats. Statt dessen deutete er die Verfassung als eine von Pflichten dominierte Wertordnung, in der das Versprechen einer "Volksordnung" enthalten sei. Ebenso hatte er schon zuvor im Staatskirchenrecht die dialektische Überwindung von Gegensätzen gepredigt, sowohl zwischen den Konfessionen als auch vor allem zwischen Staat und Kirche, von deren Bündnis er Resistenzen gegen "staatsauflösende Tendenzen" erwartete und die er auf der Ebene "Nation" oder "Reich" zusammendenken wollte.
Der Dreischritt von Paradies, Sündenfall und Erlösung schien für diese jungen Rechtsnationalen reale Gestalt anzunehmen, als im Frühjahr 1933 mit Reichstagsbrandverordnung und Ermächtigungsgesetz die Weimarer Verfassung zerbrach und die schon lange herbeigewünschte autoritäre Staatsführung auf den Plan trat. Was Huber nun erlebte, war ihm die Epiphanie der Erfüllung. Er sah eine "echte Revolution", einen "deutschen Sozialismus" und schöpferische Kräfte, und er fühlte sich berufen, ihnen "Wesen und Inhalt der politischen Verfassung" auszulegen. Huber wurde nun zu einem Protagonisten des NS-Staates, gehörte zur "Kieler Schule" (1933-1937), gab die einst von Robert von Mohl gegründete "Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften" mit heraus und entwickelte auf der Grundlage des Rechtshegelianismus ein neues Konzept der "Staatswissenschaften" - nur eben weit an der universitären und gesellschaftlichen Realität vorbei.
Anders als Schmitt drängte sich Huber nicht nach Ämtern, er blieb stets distanzierter Gelehrter, suchte die innere Einheit seines Gegenstandes, beschwor "Gestalt", "Einheit" und "Ganzheit", "Führung" und "Ordnung". Für ihn führte der Weg von unten, vom "natürlichen Volk" über die "Bewegung" zum "Staat", der etwa ab 1938 wiederum vom Begriff des "Reiches" überstiegen wurde. Sein Hauptwerk jener Zeit ist das 1937 und (erweitert) 1939 erschienene "Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches".
Juristischer Sachverstand, Kraft zur Synthese, eine der Hegelschen Dialektik nachempfundene Sprache und eine bedrückende Fähigkeit zur Nichtwahrnehmung des verbrecherischen Charakters des Regimes vereinigten sich hier. Es war zweifellos eine brillante Darstellung des NS-Staatsrechts, fundamental falsch oder naiv nur in der Annahme, hier könne eine "Verfassung" im Sinne einer bindenden Ordnung traktiert werden oder man könne eine solche durch wissenschaftliche Überredung herstellen. An rechtlichen Bindungen waren Hitler und Himmler, Heydrich und Bormann, um nur diese zu nennen, aber nun einmal nicht interessiert.
Man hat später gesagt, dieses Buch sei nur ein "Phantasiestück" gewesen, das sich manche Kreise der NSDAP von der "Verfassung" gemacht hätten. Das mag sein, aber Huber war kein Mann der Partei oder der praktischen Politik. Man schätzte den 1937 nach Leipzig und 1941 nach Straßburg gewechselten Professor gewiß als loyalen und anerkannten Vertreter seines Fachs. Aber er war eben auch Schüler des 1936 durch eine SS-Intrige entmachteten Carl Schmitt, er war Hegelianer, was ihm das Mißtrauen Rosenbergs und anderer einbrachte, er setzte ganz auf den "Staat" und warnte mit sanften Worten vor Korruption und Rechtszerfall, was wiederum den völkischen und rassistischen Kreisen der SS nicht paßte.
Dies führte zwischen 1939 und 1945 zwar nicht zu einer wirklichen Distanzierung, wohl aber zu einer intensiven Hinwendung zur Geschichte. Das Buch "Heer und Staat in der deutschen Geschichte" (1938, 1941) und zahlreiche Aufsätze kreisten nun um das "Reich" und die "sinnhafte" Erfassung dessen, was sich vom Ende des Alten Reichs über Bismarck bis zu Hitler ereignet hatte.
In dieser Zeit mag der Entschluß gewachsen sein, den großen Bogen einer umfassenden deutschen Verfassungsgeschichte zu schlagen. Aber der äußere Anstoß waren die Jahre der Amtsenthebung nach 1945, in denen Huber als anonym/ pseudonym schreibender Privatgelehrter begann, dann über Lehrauftrag und Honorarprofessur 1957 an die Sozialwissenschaftliche Hochschule Wilhelmshaven-Rüstersiel und von dort 1962 nach Göttingen gelangte. In jenen Jahren ist das erwähnte Riesenwerk begonnen worden. Man muß diese lange Vorgeschichte kennen, um die historischen Perspektiven des Werks, um seine methodischen Maximen und um die hier jahrzehntelang investierte Arbeitsenergie angemessen zu würdigen.
Historiker, Verfassungshistoriker und Politikwissenschaftler haben sich mit dem Werk auseinandergesetzt. Was der Debatte bislang fehlte, war eine das Gesamtwerk Hubers abschreitende und analysierende Monographie. Diese ist nun durch Ralf Walkenhaus in einer von Wilhelm Bleek betreuten Bochumer Dissertation von 1993 geliefert worden. Er wandelte dabei auf einem schmalen Grat. Persönliche Bewunderung eines produktiven Gelehrten ist die eine Seite, Kritikfähigkeit gegenüber jener nebulösen Begrifflichkeit aus dreifacher Jugendquelle (Jugendbewegung, Jungkonservative, Junghegelianismus) ist die andere.
Die Einsicht in die politische Verderblichkeit dessen, was aus all den Schwärmereien von "starkem Staat", "Führertum", "Volksordnung" und "Reich" entstand, ist heute leicht zu haben, aber sie verdunkelt auch schnell den historischen Blick dafür, daß mit Stresemanns Tod und der Weltwirtschaftskrise das parlamentarische System wirklich am Ende zu sein schien. Walkenhaus gelingt diese Gratwanderung, indem er sich geduldig auf die immanente Begriffswendung Hubers einläßt und sich zunächst einmal darauf konzentriert, was der Autor gemeint haben könnte.
So entsteht das Bild eines gelehrten Verfassungstheoretikers und Verfassungshistorikers mit hohem Harmonie- und Gleichgewichtsbedarf, eines im Grunde Unpolitischen, der idealistischen Träumen von einem starken und neutralen Staat anhing, den es im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr geben konnte. Daß Huber dann Hitlers Staat ziemlich lange mit solchen Traumbildern verwechselte, hat er später eingesehen, ohne sich aber prinzipiell von seinen philosophischen Prämissen und Leitbildern zu trennen. Persönlich ganz untadelig, hielt er sich nach 1945 politisch zurück und konzentrierte sich auf sein historisches Werk.
Walkenhaus beschreibt diesen Weg genau, auch unter Einbeziehung der staatskirchenrechtlichen Schriften und der politischen Journalistik. Er deutet Huber im Anschluß an Karl Mannheims Wissenssoziologie, das heißt mit dem Instrumentarium der modernen Wissenschaftsgeschichte. Das fällt manchmal etwas theoretisch-pompös aus und führt zu gewissen Wiederholungen. Aber der Ertrag dieser gedankenreichen Monographie ist doch hoch. Vor allem wird klar, welche Grundlinien sich durch das Werk ziehen, und man versteht auch: Die "Verfassungsgeschichte" ist keinesfalls das Werk eines politisch Mißvergnügten, weder Bußarbeit noch "Flucht in die Geschichte", sondern eine der großen Leistungen der deutschen Historiographie. Daß hierbei auch der verborgene Wunsch nach Deutung der eigenen Position in jener Zeit eine Rolle gespielt habe, ist ein normales Begleitphänomen aller Geschichtsschreibung.
Was bleibt von diesem großen Werk? Die staatskirchenrechtlichen Beiträge sind weiterhin wertvoll und von historischem Interesse. Die politische Publizistik ist eine wichtige Quelle für Gemütslage und Illusion im Dunstkreis der "Konservativen Revolution". Das Wirtschaftsverwaltungsrecht wird Huber stets als Gründungsvater nennen, auch wenn das ältere korporative Gedankengut der ersten Auflage in die dreißiger Jahre gehört.
Historisch bleibend ist jedenfalls die Deutung des Staates der Industriegesellschaft als Interventionsstaat, der die individuelle Freiheit im Namen der von ihm verwalteten Großinteressen einzwängt. Ob die Rekonstruktion eines liberalen Privatrechts der richtigere Weg ist oder die demokratische und rechtsstaatliche Kontrolle der öffentlich-rechtlichen Intervention, mag hier offenbleiben.
Im Zeichen subtiler Rempeleien zwischen dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und dem Bundesverfassungsgericht würde Hubers Wirtschaftsverwaltungsrecht nur in europäischer Dimension fortgeführt werden können. Was also wirklich bleiben wird, sind die unersetzbaren elf Bände der "Verfassungsgeschichte" und ihrer Dokumente. Alle Interessierten nutzen sie, viele davon bisher ohne genauere Kenntnis des Autors. Das kann sich nun ändern. Ralf Walkenhaus hat das Hubersche Gebirgsmassiv in höchst verdienstvoller Weise untertunnelt und von innen erleuchtet.
Ralf Walkenhaus: "Konservatives Staatsdenken". Eine wissenssoziologische Studie zu Ernst Rudolf Huber. Akademie Verlag, Berlin 1997. 442 S., geb., 148,- DM.
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