Die hier versammelten Studien zur Rechts- und Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts umfassen nicht nur wesentliche Aspekte der Ideengeschichte der Bürgerlichen Revolution, sondern auch - am Beispiel Bayerns - das konkrete Material der Mobilisierung des Grundeigentums, den Zusammenhang von jüdischer Emanzipation und liberaler Staatsrechtslehre, die zwischen Nationalismus und Internationa-lität entstehende Disziplin der »Rechtsvergleichung« sowie die Rechtsvereinheitlichung nach der Reichsgründung von 1871.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2001Nachtwächter, Tagesmutter
Michael Stolleis blickt auf den Staat durch den Schleier seines Rechts
Michael Stolleis gehört zu den wenigen deutschen Rechtshistorikern, deren Hauptaugenmerk nicht dem Straf- oder Privat-, sondern dem öffentlichen Recht gilt. In zahlreichen Einzelstudien und großen, enzyklopädischen Werken, vor allem der mehrbändigen "Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland", hat er das öffentliche Recht als Chiffre für Sozial-, Wirtschafts- und Politikgeschichte entdeckt und entfaltet. Historie aus dessen Blickwinkel zu betreiben liegt denkbar nahe, denn von ihm hängen Gestalt und Handeln des Staates ebenso ab wie der Grad der Freiheit, der eine Gesellschaft kennzeichnet.
In dem Band "Konstitution und Intervention", der ausgewählte Studien aus den vergangenen fünfundzwanzig Jahren versammelt, wendet sich Stolleis dem neunzehnten Jahrhundert zu, das er als Schlüssel zum Verständnis der heutigen Lage begreift. Er nennt es ein Jahrhundert der hundertfünfundzwanzig Jahre, das mit der Französischen Revolution beginnt und bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs endet. Während dieser Zeit, dies ist Stolleis' zentrale These, kommt es zu Entwicklungen, die den sogenannten Interventionsstaat der Industriegesellschaft und seine Aporien entstehen lassen. Der Staat wandelt sich vom Gegner der Gesellschaft zu ihrem Mediator, indem er zunehmend in die als frei gedachten Prozesse gesellschaftlicher Selbstregulierung interveniert. Als allkompetenter Ordnungsgarant und -gestalter wird er zur Möglichkeitsbedingung der modernen Gesellschaft. Ihre Konstitution, die den Staat ursprünglich als Freiheitsgefahr verstanden hat, droht unter dem Druck wohlfahrtsstaatlicher Intervention zu zerbrechen.
Stolleis beleuchtet die vielschichtigen Prozesse in Texten, deren thematischer Schwerpunkt variiert. Neben eher systematisch angelegten Arbeiten, die den Verfassungsbegriff des Vormärz darlegen, stehen solche, die die Wandlungen des neunzehnten Jahrhunderts am Leitfaden exemplarischer Biographien (Denker im Umfeld der Revolution von 1848) oder ideologisch aufgeladener Rechtsprobleme (Bodenrecht) nachzeichnen. Hinzu kommen Studien, die detailliert über die Hintergründe der Entstehung des Verwaltungsrechts im Interventionsstaat informieren.
Der Beginn des Gestaltwandels moderner Staatlichkeit läßt sich nach Stolleis auf das Jahr 1878 fixieren. In diesem Jahr verdichtet sich die spannungsreiche Stimmung der Zeit. Das "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" wird erlassen, es ist das Jahr der bekannten parlamentarischen Initiative der Schwerindustrie (Antrag Stumm) zur Einrichtung von Altersversorgungs- und Invalidenkassen. Altständische Ordnung und moderne Industriegesellschaft arrangieren sich. Die Monarchie von Bismarcks Gnaden setzt auf die Karte des sozialen Königtums, um die wirtschaftliche Depression zu korrigieren und die an der sozialen Frage verzweifelnden Arbeiter zu integrieren. Es dominiert ein christlich inspiriertes Bild von der "guten Polizey" des Wohlfahrtsstaates, die den Wirkungsradius des seit 1848/49 geschwächten Liberalismus auf das Ökonomische verengt. Indiz ist die weitreichende Regulierung des Arbeits- und Wirtschaftslebens. Zeitgleich kommt es zu einer umfänglichen Sozialgesetzgebung, die eine "Aufgabe staatserhaltender Politik" ist, wie es in der amtlichen Begründung zum 1884 erlassenen Unfallversicherungsgesetz heißt. Im Interventionsstaat, der sozio-ökonomische Großlagen steuern will, bilden öffentliches Wirtschaftsrecht und Sozialrecht zwei Seiten einer Medaille.
Die Genese der Rechtsnormen macht deutlich, daß der Interventionsstaat zum Hybridwesen mutiert. Die Grenzen zwischen Gesellschaft und Staat verflüssigen sich, die Inhalte der ständig novellierten Interventionen werden zwischen politisch-administrativem System und gesellschaftlichen Gruppen ausgehandelt, bevor man sie in die staatstypischen Formen imperativen oder informellen Zwangs kleidet. Namentlich die Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts ist ein frühes Exempel für die Wirkkraft des Korporatismus, der die Wirtschafts- und Sozialordnung in Deutschland bis heute prägt. Der Staat gibt die traditionelle Distanz zur Gesellschaft auf. Es entsteht eine Staatsgesellschaft, die nicht das vielbeschworene Ende, sondern eine subtile Überbietung bisheriger Staatlichkeit darstellt. Im Gewand der Staatsferne verbirgt der Staat seine Macht, die nunmehr ein antihoheitliches Antlitz trägt.
Stolleis präsentiert kein antiquarisch verstaubtes Panoptikum gewesenen Rechts, er läßt ein lebendiges Bild der sich im neunzehnten Jahrhundert nachhaltig verändernden Struktur der gesamten Rechts- und Sozialordnung entstehen. Am Ende der Lektüre steht die beunruhigende Einsicht, daß das Recht des heutigen Interventionsstaates im vorletzten Jahrhundert gelernt hat, seinen freiheitsgefährdenden Charakter hinter sozialer Wohltätigkeit zu verbergen. Die Dialektik von Hilfe und Kontrolle gehört seither zu den ungelösten Problemen des öffentlichen Rechts.
STEPHAN RIXEN
Michael Stolleis: "Konstitution und Intervention". Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts im 19. Jahrhundert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 288 S., br., 23,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Stolleis blickt auf den Staat durch den Schleier seines Rechts
Michael Stolleis gehört zu den wenigen deutschen Rechtshistorikern, deren Hauptaugenmerk nicht dem Straf- oder Privat-, sondern dem öffentlichen Recht gilt. In zahlreichen Einzelstudien und großen, enzyklopädischen Werken, vor allem der mehrbändigen "Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland", hat er das öffentliche Recht als Chiffre für Sozial-, Wirtschafts- und Politikgeschichte entdeckt und entfaltet. Historie aus dessen Blickwinkel zu betreiben liegt denkbar nahe, denn von ihm hängen Gestalt und Handeln des Staates ebenso ab wie der Grad der Freiheit, der eine Gesellschaft kennzeichnet.
In dem Band "Konstitution und Intervention", der ausgewählte Studien aus den vergangenen fünfundzwanzig Jahren versammelt, wendet sich Stolleis dem neunzehnten Jahrhundert zu, das er als Schlüssel zum Verständnis der heutigen Lage begreift. Er nennt es ein Jahrhundert der hundertfünfundzwanzig Jahre, das mit der Französischen Revolution beginnt und bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs endet. Während dieser Zeit, dies ist Stolleis' zentrale These, kommt es zu Entwicklungen, die den sogenannten Interventionsstaat der Industriegesellschaft und seine Aporien entstehen lassen. Der Staat wandelt sich vom Gegner der Gesellschaft zu ihrem Mediator, indem er zunehmend in die als frei gedachten Prozesse gesellschaftlicher Selbstregulierung interveniert. Als allkompetenter Ordnungsgarant und -gestalter wird er zur Möglichkeitsbedingung der modernen Gesellschaft. Ihre Konstitution, die den Staat ursprünglich als Freiheitsgefahr verstanden hat, droht unter dem Druck wohlfahrtsstaatlicher Intervention zu zerbrechen.
Stolleis beleuchtet die vielschichtigen Prozesse in Texten, deren thematischer Schwerpunkt variiert. Neben eher systematisch angelegten Arbeiten, die den Verfassungsbegriff des Vormärz darlegen, stehen solche, die die Wandlungen des neunzehnten Jahrhunderts am Leitfaden exemplarischer Biographien (Denker im Umfeld der Revolution von 1848) oder ideologisch aufgeladener Rechtsprobleme (Bodenrecht) nachzeichnen. Hinzu kommen Studien, die detailliert über die Hintergründe der Entstehung des Verwaltungsrechts im Interventionsstaat informieren.
Der Beginn des Gestaltwandels moderner Staatlichkeit läßt sich nach Stolleis auf das Jahr 1878 fixieren. In diesem Jahr verdichtet sich die spannungsreiche Stimmung der Zeit. Das "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" wird erlassen, es ist das Jahr der bekannten parlamentarischen Initiative der Schwerindustrie (Antrag Stumm) zur Einrichtung von Altersversorgungs- und Invalidenkassen. Altständische Ordnung und moderne Industriegesellschaft arrangieren sich. Die Monarchie von Bismarcks Gnaden setzt auf die Karte des sozialen Königtums, um die wirtschaftliche Depression zu korrigieren und die an der sozialen Frage verzweifelnden Arbeiter zu integrieren. Es dominiert ein christlich inspiriertes Bild von der "guten Polizey" des Wohlfahrtsstaates, die den Wirkungsradius des seit 1848/49 geschwächten Liberalismus auf das Ökonomische verengt. Indiz ist die weitreichende Regulierung des Arbeits- und Wirtschaftslebens. Zeitgleich kommt es zu einer umfänglichen Sozialgesetzgebung, die eine "Aufgabe staatserhaltender Politik" ist, wie es in der amtlichen Begründung zum 1884 erlassenen Unfallversicherungsgesetz heißt. Im Interventionsstaat, der sozio-ökonomische Großlagen steuern will, bilden öffentliches Wirtschaftsrecht und Sozialrecht zwei Seiten einer Medaille.
Die Genese der Rechtsnormen macht deutlich, daß der Interventionsstaat zum Hybridwesen mutiert. Die Grenzen zwischen Gesellschaft und Staat verflüssigen sich, die Inhalte der ständig novellierten Interventionen werden zwischen politisch-administrativem System und gesellschaftlichen Gruppen ausgehandelt, bevor man sie in die staatstypischen Formen imperativen oder informellen Zwangs kleidet. Namentlich die Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts ist ein frühes Exempel für die Wirkkraft des Korporatismus, der die Wirtschafts- und Sozialordnung in Deutschland bis heute prägt. Der Staat gibt die traditionelle Distanz zur Gesellschaft auf. Es entsteht eine Staatsgesellschaft, die nicht das vielbeschworene Ende, sondern eine subtile Überbietung bisheriger Staatlichkeit darstellt. Im Gewand der Staatsferne verbirgt der Staat seine Macht, die nunmehr ein antihoheitliches Antlitz trägt.
Stolleis präsentiert kein antiquarisch verstaubtes Panoptikum gewesenen Rechts, er läßt ein lebendiges Bild der sich im neunzehnten Jahrhundert nachhaltig verändernden Struktur der gesamten Rechts- und Sozialordnung entstehen. Am Ende der Lektüre steht die beunruhigende Einsicht, daß das Recht des heutigen Interventionsstaates im vorletzten Jahrhundert gelernt hat, seinen freiheitsgefährdenden Charakter hinter sozialer Wohltätigkeit zu verbergen. Die Dialektik von Hilfe und Kontrolle gehört seither zu den ungelösten Problemen des öffentlichen Rechts.
STEPHAN RIXEN
Michael Stolleis: "Konstitution und Intervention". Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts im 19. Jahrhundert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 288 S., br., 23,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ziemlich spannend findet der Rezensent Stephan Rixen, wie Michael Stolleis in seinen Büchern "das öffentliche Recht als Chiffre für Sozial-, Wirtschafts- und Politikgeschichte entdeckt und entfaltet". Da mache auch sein neues Werk keine Ausnahme, bei dem es um das 19. Jahrhundert, das in der Lesart des Autoren von der Französischen Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs währte. In dieser Zeit wurden nach Stolleis' Meinung viele Grundlagen des heutigen Staatswesens geschaffen, für "den sogenannten Interventionsstaat der Industriegesellschaft und seine Aporien". Der Rezensent zitiert hier beispielsweise die in den 1880er Jahren entstandene Sozialgesetzgebung als ein Beispiel "für die Wirkkraft des Korporatismus, der die Wirtschafts- und Sozialordnung in Deutschland bis heute prägt". Stolleis schafft nach Rixens Meinung ein "lebendiges Bild" dieser Zeit, deren positive und negative Errungenschaften bis in unsere Zeit fortwirkten. So gewinnt der Rezensent die beunruhigende Einsicht, dass der Staat damals gelernt hat, "seinen freiheitsgefährdenden Charakter hinter sozialer Wohltätigkeit zu verbergen", ein Problem, dessen grundsätzliche Dialektik die Gesellschaft bis heute noch nicht bewältigt habe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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