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Produktdetails
  • Verlag: verlag christians
  • ISBN-13: 9783767214293
  • ISBN-10: 3767214296
  • Artikelnr.: 12626655
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2004

Altersschwacher Wolf unter Wölfen
Der Einfluß des Alldeutschen Verbandes während der Weimarer Republik wird überschätzt

Rainer Hering: Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939. Hans Christians Verlag, Hamburg 2003. 600 Seiten, 34,80 [Euro].

"Gedenke, daß du ein Deutscher bist!" Mit einem derart altväterlichen Wahlspruch betraten gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Honoratioren des Alldeutschen Verbandes - verankert im protestantischen Bildungs- und Besitzbürgertum - die politische Bühne. Fixiert auf nationale Ideen, suchten sie jedoch für ein halbes Jahrhundert eher die Zukunft zu steuern, die schließlich tatsächlich von grassierenden imperialistischen Wahnideen und Menschheitskatastrophen geprägt war. Das eigene Zutun definierte der Verband stets als Defensive in einer feindlichen Welt sowie als staatsmännische Sachpolitik fern allen Parteiengezänks. Das stimmte jedoch allenfalls anfangs und ansatzweise, als der Verband bisweilen als nationaler Wächter und entsprechende Sammlungsbewegung fungierte. Maßgeblich wurde vielmehr, daß die Honoratioren, deren gesellschaftliche und politische Führungsposition zunehmend bedroht war, mehr und mehr einem aggressiven Chauvinismus huldigten. Nicht zufällig wählten sie zu Beginn der Weimarer Republik die neue Parole "Deutschland den Deutschen" und präsentierten damit den Verband als Kampforganisation reinsten Wassers. Neue Programmpunkte wie jener von einer "planmäßigen Höherentwicklung des deutschen Volkes" bezeugten zudem seine nunmehr auch voll entfaltete rassisch-völkische Position mit Stoßrichtung vornehmlich gegen Juden. Endgültig fühlte man sich als Gemeinschaft völkischer Lichtgestalten, die im Kampf gegen eine Welt von Feinden stand. Nicht zufällig sollte Hitler 1923 seinen politischen Fundus als "alldeutsch" bezeichnen.

Höhepunkte im Wirken des Verbandes, der sich stolz "nationalpolitisches Offizierscorps" nannte und meist nur über 20 000 Mitgliedern verfügte, weil er auf eine Massenbasis keinen Wert legte, waren das Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg und der Weltkrieg selbst. Alles Streben war ausgerichtet auf ein starkes mitteleuropäisches Deutsches Reich mit kolonialen Ergänzungsräumen, das seinen Platz an der Sonne eingenommen hatte, also Weltmacht war oder Weltherrschaft ausübte. Im Weltkrieg, als eine Siegfriedenspolitik angesagt war und mit ihr sich im Innern präfaschistische Regierungsformen und im Äußern gewaltige Annexionen abzeichneten, fiel der Verband folgerichtig durch die Unterstützung der Deutschen Vaterlandspartei als Vorläuferorganisation der NSDAP und durch extreme Eroberungsprogramme auf. Wo immer eine entsprechende völkische Propaganda sinnvoll schien, war man zur Stelle und suchte gleichzeitig, das boomende System nationaler Agitationsverbände mit dem gewaltigen Flottenverein an der Spitze national zu munitionieren, zu koordinieren oder gar zu steuern.

Zum abschreckenden Sündenregister des Verbandes gehörte, daß der Einsatz für das "Deutschtum im Ausland" alsbald mit dem Motto eines deutschen "Drangs nach Osten" gekoppelt wurde und daß früh auf einen Weltkrieg hingearbeitet wurde. Immer neue Steigerungen erfuhr der Kampf gegen sogenannte innere Reichsfeinde, wobei der Haß auf alle parlamentarisch-demokratischen sowie "internationalistischen" Kräfte verteilt wurde, in massivster Weise aber Juden, Sozialdemokraten und die Vertreter der polnischen Minderheit traf. Bemerkenswert war, daß schon im Kaiserreich auch dessen konstitutionelle Staatsform und Regierung von Angriffen nicht verschont blieben, zumal die Reichsleitung ab 1903 gegenüber dem Verband auf Distanz gegangen war. Fortan trat dieser als "nationale Opposition" auf, maßvoll nur dann, wenn es galt, nicht alle Brücken zu Konstitutionellen wie zur Regierung abzubrechen. Im übrigen rief man nach Führerstaat oder Diktatur und diskreditierte die politische Führung als "schlapp".

Es ist das Verdienst Rainer Herings, in einer quellennahen Untersuchung dies alles einleuchtend herausgearbeitet beziehungsweise zusammengefaßt zu haben. Frühere Studien über den Alldeutschen Verband brachten vor allem Überblicke und Organisationsgeschichten sowie Kennzeichnungen von dessen Blütezeit und außenpolitischen Ambitionen. Herings Tableau ist stärker auf innenpolitische Konzepte der Alldeutschen ausgerichtet, so die Positionen in Sachen völkischer Staat, Parteien, Wahlrecht oder Geschlechterrollen. Die Leitaussagen des Autors kreisen um die These, daß die Alldeutschen an exponierter Stelle zu jenen gehörten, die im deutschen Volk durch Radikalnationalismus und völkische Ideologie jene verheerende gedankliche Konstruktion von einer deutschen Nation schufen und populär machten, die Hitler ermöglichte. "Der Alldeutsche Verband war einer der einflußreichsten Agitationsverbände im Kaiserreich und in der Weimarer Republik weiterhin sehr bedeutend." Vor allem dieser Satz liegt im Trend bisheriger Forschungen und scheint ein abschließendes Ergebnis zu präsentieren. Doch gerade im Hinblick auf eine Beantwortung der Frage, wie maßgeblich und herausragend denn nun die Tätigkeit des Verbandes gewesen ist, vermittelt die Studie keinen völlig klaren Befund.

Der Autor ist darauf fixiert, bei seinen vielen Recherchen immer wieder Aktivitäten und Verbindungen des Verbandes vorzulegen und diese als wichtig oder "äußerst" bedeutsam zu kennzeichnen, und suggeriert so unabhängig von dem obengenannten Zitat, daß die Alldeutschen bis hin zu den politischen Katastrophen 1930 bis 1933 die Szenerie in Deutschland geradezu geprägt hätten. Umgekehrt werden bisweilen Rahmenbedingungen vernachlässigt, die davon zeugen, daß andere Kräfte, unabhängig vom Alldeutschen Verband, bei der nationalen Verseuchung des deutschen Volkes kräftig oder gar noch durchschlagender als dieser mitmischten. Allenfalls zu ahnen ist, daß zur Zeit der Gründung des Verbandes ein imperialistisches Denken in Deutschland schon ein halbes Jahrhundert verwurzelt war. Das gewaltige Ausmaß völkischer Defekte und Heimsuchungen im Ersten Weltkrieg ist nicht voll erfaßt. Schließlich legen beiläufig vorgetragenen Beobachtungen der Studie den Befund nahe, daß der Alldeutsche Verband keineswegs nur oder auch nur meistens der dominierende nationalistische Bösewicht in Deutschland war, eher ein Wolf unter Wölfen, spätestens ab 1918 - vermutlich aber schon deutlich früher - von Altersschwächen geplagt.

Generell ist für die Zeit des Kaiserreichs nicht recht zu sehen, wo Alldeutsche effektiv an wirklich bedeutenden Schalthebeln saßen. Ein ums andere Mal drängt sich der Verdacht auf, daß sie nicht selten Nutznießer und Trittbrettfahrer nationalistischer Trends waren. Für die Zeit nach 1918 weist der Autor darauf hin, daß den Alldeutschen der Wind ins Gesicht blies. Für den Normalbürger waren sie wegen ihres traditionell überzogenen Chauvinismus erledigt, doch auch die NSDAP in ihrem "unaufhaltsamen Aufstieg" sah zu ihnen keineswegs als zu Vaterfiguren auf. Im Gegenteil, Hitler ging früh auf Distanz zu alldeutschen Intellektuellen und Honoratioren, die er nicht ohne Grund für von Resten rechtsstaatlichen Denkens angekränkelt hielt. Schließlich liefen die Alldeutschen dem "Führer" in eher peinlicher Weise hinterher. Im Gegensatz zu den Intentionen des Autors sieht der Rezensent durch die Untersuchung Herings den Verdacht erhärtet, daß zur Geschichte des Alldeutschen Verbandes dessen hartnäckig beibehaltene Überschätzung gehört.

GÜNTER WOLLSTEIN

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Keinen klaren Befund konnte diese Studie Rezensent Günter Wollstein vermitteln. Vielmehr sieht er sie im Trend bisheriger Forschung liegen und nicht zu wirklich eigenständigen Ergebnissen gelangen. Quellennah findet Wollstein allerdings Geschichte und Sündenregister des Alldeutschen Verbandes herausgearbeitet. Rainer Herings Leitaussagen kreisen dem Rezensenten zufolge um die These, "dass die Alldeutschen... durch Radikalnationalismus und völkische Ideologie" jene "verheerende gedankliche Konstruktion" von einer deutschen Nation erschaffen und populär gemacht hätten, die Hitler ermöglichte. Doch gerade in diesem Punkt hält Wollstein im Gegensatz zum Autor der Studie den Einfluss des Verbandes für deutlich überschätzt.

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