Bora Cosics schelmisch-nachdenkliches Buch umfasst die Zeit zwischen 1937, als er mit seinen Eltern nach Belgrad zieht, und Anfang der 1990er-Jahre, als der Protagonist die Stadt, angewidert vom Nationalismus seiner Landsleute, wieder verlässt.Ganz im Einklang mit seiner selbst gewählten Rolle als Konsul blickt der Autor mit der Distanz eines Fremden abgeklärt und sprachlich virtuos auf Kindheit, Jugend, Erwachsenenleben zurück. Er erzählt von der deutschen Besatzung, dem Sozialismus unter Tito, vom Leben als Bohemien inmitten eines faszinierenden intellektuellen Biotops, mit Akteuren wie Ivo Andric, Georges Perec, Danilo Kis,Bogdan Bogdanovic und anderen, bis herauf in die Neunzigerjahre, als der "Konsul" "demissioniert".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2016Im diplomatischen Erkennungsdienst
Bora Cosic beschwört in seinem Erinnerungsband "Konsul in Belgrad" die jugoslawische Hauptstadt, wie er sie in jungen Jahren erlebt hat.
Von Paul Ingendaay
Bora Cosic ist ein Schriftsteller mit System. Er weiß, dass Geschichten oft eines Kniffs, einer besonderen Perspektive bedürfen, um erzählbar zu werden. Bei dem Buch, mit dem der 1932 geborene serbische Erzähler auch im Westen berühmt wurde, verrät sich das System schon im Titel: "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution" (1969, auf Deutsch 1994 erschienen). Ein junger lakonischer Ich-Erzähler mischt Privates und Öffentliches, Banales und Bedeutendes, ohne dabei Unterschiede zu machen, und liefert dank seiner Einfalt und Unmittelbarkeit eine umso realistischere, von greller Komik durchzogene Kleingeschichte eines absurden, brutalen Jahrhunderts. "Alles glich einer Theatervorstellung, obwohl es in Wirklichkeit keine war."
Das Thema dieses vielseitigen, seinen inneren Aufruhr gut verbergenden Autors ist der Einzelne als Spielball geschichtlicher Mächte, aber Jammern ist nicht sein Ding. Schreiben, glaubt Cosic, sollte etwas von einem epileptischen Anfall haben. Der wahre Schriftsteller wehrt sich durch Sprachspiel, ironische Hommagen und höheren Blödsinn gegen die Zumutungen dessen, was andere Schicksal nennen. So hat der heute meist in Berlin-Charlottenburg lebende Cosic es immer gehalten und im Windschatten populärerer Balkankrisen-Kommentatoren vom Dienst ein weitverzweigtes, vielfach ausgezeichnetes literarisches Werk von hohen Graden geschaffen.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass er seit dem Verlassen seines Wohnorts Belgrad aus Protest gegen das Milosevic-Regime im Jahr 1992 den Produktionsrhythmus noch einmal erhöht hat, um der im Krieg untergegangenen Heimat ein paar heimliche Trauergesänge zu widmen. Darunter sind pessimistische, bewusst in Beamtenmetaphorik gekleidete Bilanzen wie "Die Zollerklärung" (deutsch 2001) und "Das Land null" (2004).
Als jüngste Beschwörung der verlorenen Zeit folgt nun "Konsul in Belgrad". Es ist ein kluges, poetisches, mit Abstand und Ironie erzähltes Erinnerungsbuch, voller Staunen über das sang- und klanglose Verschwinden der Dinge und die Unfähigkeit des Menschen, es zu verhindern. Im Mittelpunkt steht die Stadt Belgrad, wohin der fünfjährige Bora nach frühesten Kindheitsjahren in Zagreb 1937 verpflanzt wurde. Und wieder ist es eine zentrale Metapher, die es dem Autor erlaubt, die Wörtermaschine anzuwerfen: Er, der Erzähler, empfindet sich als Konsul, als Fremder in seiner Stadt. Er verrichtet dort gewissermaßen nur diplomatischen Dienst und hat deshalb die Pflicht, etwas Geschriebenes über seine Dienstzeit - gut fünfzig Jahre seines Lebens - zu hinterlassen. Es ist das dichte, mit einem nostalgischen Fotoanhang versehene Buch, das wir in Händen halten.
Wir kennen Belgrad noch nicht. Aber so wie Prousts Erzähler Marcel Fahrpläne studiert und in ihnen schon das eigentliche Reiseglück vorwegnimmt, das auch von der späteren Realität nicht eingeholt, geschweige denn übertroffen werden kann, so könnte der Leser dieses Buches ein imaginäres Belgrad durchstreifen, bevor er das wirkliche Belgrad kennenlernt. Cosic ist ein begnadeter Wanderer und Chronist. Er registriert, wie der Tito-Sozialismus die lebendigen Aufschriften der alten Stadt übermalt - ein Kind hat Augen für so etwas -, er späht in Treppenhäuser, Korridore und Wohnungen, prüft die Aussicht in die Hinterhöfe - Boras Mutter zog geradezu zwanghaft um und nötigte dem kleinen Konsul dadurch immer neue Diplomatenresidenzen auf - und entdeckt gerade in der Materialität des menschlichen Wohnens ein endloses Feld philosophischer Reflexion. (Ein ähnliches Verfahren charakterisiert den schönen Band "Lange Schatten in Berlin" über die Interieurs von Charlottenburg.) Schulzeit und Studentenzeit kommen stark gefiltert ins Bild; es geht nicht um die Nöte des Aufwachsens, sondern um Lebensstationen, die sich an die Topographie der Stadt knüpfen lassen.
Auch vom Eros ist die Rede, namentlich von einer jungen Tante, die den deutlich jüngeren Bora ziemlich kirre macht, später dann von der Mädchenjagd, der Lust am Betrug, der ersten Ehe und der zweiten. "So zog sich das Erwachsenwerden hin, nicht nur mein eigenes, sondern das des ganzen Milieus, in dem ich mich bewegte. In jeder Hinsicht lebte ich damals an der stillen Adresse des mittelmäßig entwickelten Sozialismus und daher an einer meist öden. Wo die Leute in ihren grauen Wohnungen saßen und es draußen fast nichts gab. Keiner weiß, dass das herrschende Regime in solchen Ländern, besonders im Sommer, gar nicht zu bemerken war, sondern das ganze Sein des Menschen von allein abrollte, ohne jede Aufsicht."
Der junge Zeitschriftenredakteur und angehende Schriftsteller, der Bora Cosic war, kam natürlich auch mit anderen Künstlern in Berührung. Die bekannteren von ihnen - Ivo Andric, Danilo Kis, der nach Amerika ausgewanderte Dichter Charles Simic - haben im Bericht dieses Diplomaten nur kürzeste Auftritte, kaum dass eine Straße an ihre Schatten erinnert, und den Franzosen Georges Perec, der einen Sommer in den fünfziger Jahren in Belgrad verbringt, verpasst der Autor ganz. Dafür erfahren wir von der Leidenschaft des Zeitungmachens im Café, spüren den Geist von Jungsein, überschießender Energie und Provinzialismus, von interessanten Schneiderinnen und der Aristokratie leerer Taschen.
Geschrieben hat Cosic, wo es gerade passte - und dann wegen eines rundlichen Mädchens alles verbrannt, Aufzeichnungen, Briefe, Fotos, Erinnerungsstücke, so dass er bestimmte Lebensetappen des Mannes, der er einmal war, nur noch aus dem Gedächtnis rekonstruiert. Doch selbst darauf kommt es nicht mehr an, hier machen es Witz, Ton und Haltung, und die verraten einen lässigen, kapitalen europäischen Schriftsteller, wenn die Ortsbezeichnung denn einen Sinn hat, was Bora Cosic vielleicht bestreiten würde. Noch etwas zum Schluss: Nicht er habe seine Stadt verlassen, hat er einmal gesagt. Sondern sie ihn. Durch Bücher wie dieses verwandelt sich der Verlust in Gewinn.
Bora Cosic: "Konsul in Belgrad".
Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Folio Verlag, Wien 2016. 240 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bora Cosic beschwört in seinem Erinnerungsband "Konsul in Belgrad" die jugoslawische Hauptstadt, wie er sie in jungen Jahren erlebt hat.
Von Paul Ingendaay
Bora Cosic ist ein Schriftsteller mit System. Er weiß, dass Geschichten oft eines Kniffs, einer besonderen Perspektive bedürfen, um erzählbar zu werden. Bei dem Buch, mit dem der 1932 geborene serbische Erzähler auch im Westen berühmt wurde, verrät sich das System schon im Titel: "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution" (1969, auf Deutsch 1994 erschienen). Ein junger lakonischer Ich-Erzähler mischt Privates und Öffentliches, Banales und Bedeutendes, ohne dabei Unterschiede zu machen, und liefert dank seiner Einfalt und Unmittelbarkeit eine umso realistischere, von greller Komik durchzogene Kleingeschichte eines absurden, brutalen Jahrhunderts. "Alles glich einer Theatervorstellung, obwohl es in Wirklichkeit keine war."
Das Thema dieses vielseitigen, seinen inneren Aufruhr gut verbergenden Autors ist der Einzelne als Spielball geschichtlicher Mächte, aber Jammern ist nicht sein Ding. Schreiben, glaubt Cosic, sollte etwas von einem epileptischen Anfall haben. Der wahre Schriftsteller wehrt sich durch Sprachspiel, ironische Hommagen und höheren Blödsinn gegen die Zumutungen dessen, was andere Schicksal nennen. So hat der heute meist in Berlin-Charlottenburg lebende Cosic es immer gehalten und im Windschatten populärerer Balkankrisen-Kommentatoren vom Dienst ein weitverzweigtes, vielfach ausgezeichnetes literarisches Werk von hohen Graden geschaffen.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass er seit dem Verlassen seines Wohnorts Belgrad aus Protest gegen das Milosevic-Regime im Jahr 1992 den Produktionsrhythmus noch einmal erhöht hat, um der im Krieg untergegangenen Heimat ein paar heimliche Trauergesänge zu widmen. Darunter sind pessimistische, bewusst in Beamtenmetaphorik gekleidete Bilanzen wie "Die Zollerklärung" (deutsch 2001) und "Das Land null" (2004).
Als jüngste Beschwörung der verlorenen Zeit folgt nun "Konsul in Belgrad". Es ist ein kluges, poetisches, mit Abstand und Ironie erzähltes Erinnerungsbuch, voller Staunen über das sang- und klanglose Verschwinden der Dinge und die Unfähigkeit des Menschen, es zu verhindern. Im Mittelpunkt steht die Stadt Belgrad, wohin der fünfjährige Bora nach frühesten Kindheitsjahren in Zagreb 1937 verpflanzt wurde. Und wieder ist es eine zentrale Metapher, die es dem Autor erlaubt, die Wörtermaschine anzuwerfen: Er, der Erzähler, empfindet sich als Konsul, als Fremder in seiner Stadt. Er verrichtet dort gewissermaßen nur diplomatischen Dienst und hat deshalb die Pflicht, etwas Geschriebenes über seine Dienstzeit - gut fünfzig Jahre seines Lebens - zu hinterlassen. Es ist das dichte, mit einem nostalgischen Fotoanhang versehene Buch, das wir in Händen halten.
Wir kennen Belgrad noch nicht. Aber so wie Prousts Erzähler Marcel Fahrpläne studiert und in ihnen schon das eigentliche Reiseglück vorwegnimmt, das auch von der späteren Realität nicht eingeholt, geschweige denn übertroffen werden kann, so könnte der Leser dieses Buches ein imaginäres Belgrad durchstreifen, bevor er das wirkliche Belgrad kennenlernt. Cosic ist ein begnadeter Wanderer und Chronist. Er registriert, wie der Tito-Sozialismus die lebendigen Aufschriften der alten Stadt übermalt - ein Kind hat Augen für so etwas -, er späht in Treppenhäuser, Korridore und Wohnungen, prüft die Aussicht in die Hinterhöfe - Boras Mutter zog geradezu zwanghaft um und nötigte dem kleinen Konsul dadurch immer neue Diplomatenresidenzen auf - und entdeckt gerade in der Materialität des menschlichen Wohnens ein endloses Feld philosophischer Reflexion. (Ein ähnliches Verfahren charakterisiert den schönen Band "Lange Schatten in Berlin" über die Interieurs von Charlottenburg.) Schulzeit und Studentenzeit kommen stark gefiltert ins Bild; es geht nicht um die Nöte des Aufwachsens, sondern um Lebensstationen, die sich an die Topographie der Stadt knüpfen lassen.
Auch vom Eros ist die Rede, namentlich von einer jungen Tante, die den deutlich jüngeren Bora ziemlich kirre macht, später dann von der Mädchenjagd, der Lust am Betrug, der ersten Ehe und der zweiten. "So zog sich das Erwachsenwerden hin, nicht nur mein eigenes, sondern das des ganzen Milieus, in dem ich mich bewegte. In jeder Hinsicht lebte ich damals an der stillen Adresse des mittelmäßig entwickelten Sozialismus und daher an einer meist öden. Wo die Leute in ihren grauen Wohnungen saßen und es draußen fast nichts gab. Keiner weiß, dass das herrschende Regime in solchen Ländern, besonders im Sommer, gar nicht zu bemerken war, sondern das ganze Sein des Menschen von allein abrollte, ohne jede Aufsicht."
Der junge Zeitschriftenredakteur und angehende Schriftsteller, der Bora Cosic war, kam natürlich auch mit anderen Künstlern in Berührung. Die bekannteren von ihnen - Ivo Andric, Danilo Kis, der nach Amerika ausgewanderte Dichter Charles Simic - haben im Bericht dieses Diplomaten nur kürzeste Auftritte, kaum dass eine Straße an ihre Schatten erinnert, und den Franzosen Georges Perec, der einen Sommer in den fünfziger Jahren in Belgrad verbringt, verpasst der Autor ganz. Dafür erfahren wir von der Leidenschaft des Zeitungmachens im Café, spüren den Geist von Jungsein, überschießender Energie und Provinzialismus, von interessanten Schneiderinnen und der Aristokratie leerer Taschen.
Geschrieben hat Cosic, wo es gerade passte - und dann wegen eines rundlichen Mädchens alles verbrannt, Aufzeichnungen, Briefe, Fotos, Erinnerungsstücke, so dass er bestimmte Lebensetappen des Mannes, der er einmal war, nur noch aus dem Gedächtnis rekonstruiert. Doch selbst darauf kommt es nicht mehr an, hier machen es Witz, Ton und Haltung, und die verraten einen lässigen, kapitalen europäischen Schriftsteller, wenn die Ortsbezeichnung denn einen Sinn hat, was Bora Cosic vielleicht bestreiten würde. Noch etwas zum Schluss: Nicht er habe seine Stadt verlassen, hat er einmal gesagt. Sondern sie ihn. Durch Bücher wie dieses verwandelt sich der Verlust in Gewinn.
Bora Cosic: "Konsul in Belgrad".
Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Folio Verlag, Wien 2016. 240 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Paul Ingendaay wird Zeuge, wie Bora Cosic den Verlust seiner Heimatstadt Belgrad an das Tito-Regime in Gewinn verwandelt. Mit Witz, Ton und Haltung, so der Rezensent, erzählt der Autor von seinen Anfängen als Autor, vom Zeitungmachen in Cafes, vom Jungsein, von den Frauen und vom Provinzialismus. Für Ingendaay eine sehr poetische, aber auch ironische Beschwörung der verlorenen Zeit, des Verschwindens von Dingen und Menschen, das dem Leser erlaubt, ein imaginäres Belgrad zu durchstreifen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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