Welchen Beitrag kann die Soziologie zu einer modernen Theorie des Rechts leisten? Das war eine der zentralen Fragen, mit der sich der große Soziologe Niklas Luhmann als ausgebildeter Jurist und ehemaliger Verwaltungsbeamter in seinem gesamten wissenschaftlichen Werk wiederholt befasst hat. Das vermutlich im Jahr 1971 entstandene und nahezu vollständig abgeschlossene Buch »Kontingenz und Recht« eröffnet nun einen fesselnden Einblick in Luhmanns ersten Versuch einer Antwort. Luhmann zeigt, wie durch die Klärung der bereits hier systemtheoretisch gefassten Voraussetzungen einer Soziologie des Rechts eine groß angelegte Uminterpretation etablierter Probleme der Rechtswissenschaft möglich wird. Im Mittelpunkt dieses ambitionierten Unternehmens steht der Begriff der Kontingenz, das Faktum alternativer Möglichkeiten im gesellschaftlichen Verkehr und die sich daraus ergebende Unsicherheit der Erwartungsbildung, die das Recht nötig machen. Die Produktivität des Rechts sieht eine systemtheoretische Rechtstheorie nun nicht mehr in der Bekämpfung von Unrecht, sondern in Generalisierungsleistungen, die Recht-/Unrecht-Konstellationen von höherer Komplexität und damit eine komplexere gesellschaftliche Wirklichkeit koordinierbar machen. Die Funktion des Rechts liegt aus dieser Perspektive in der kontrafaktischen Stabilisierung von Erwartungserwartungen. »Kontingenz und Recht« zeigt Luhmann durch seine vielfältigen Bezugnahmen nicht nur auf der Höhe der rechtstheoretischen Diskussion seiner Zeit, sondern veranschaulicht auch den heuristischen Wert seines von der Rechtsdogmatik abstrahierenden Zugriffs mittels einer kontingenztheoretischen Perspektive.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.02.2014Verstehen
und verneinen
Aus dem Nachlass: Niklas Luhmanns Rechtstheorie
Gute Juristen haben einen Sinn für Realitäten, wissen mit Begriffen umzugehen und verstehen sich darauf, Urteile zu fällen. Einzelnes unter Regeln zu bringen, gehört zu ihrem Handwerk. Angesichts solcher Kompetenzen mag es kein Zufall sein, dass nicht nur der Gründungsvater der deutschsprachigen Soziologie von Haus aus Jurist war, sondern auch sein für die Geschichte der Disziplin nicht minder bedeutender Fachkollege Niklas Luhmann. Die wissenschaftliche Gesellschaftsbeobachtung hat er im Geiste einer elaborierten Systemtheorie über dreißig Jahre lang in Bielefeld erneuert. Anders als Max Weber verfügte Luhmann sogar über praktische Erfahrung im Feld der Jurisprudenz. Vor seinem Eintritt in die akademische Welt ist er als Verwaltungsbeamter tätig gewesen. Schon während dieser Jahre hat Luhmann in weit ausgreifenden Lektüren seinen berühmt gewordenen Zettelkasten bestückt und in der Folge eine Vielzahl eigener Publikationen dazu genutzt, die Innenperspektive des ausgebildeten Juristen mit der Außenperspektive eines Soziologen zu verschalten, der nach der „sozialen Bedeutung des Rechts“ fragt.
Unpubliziert blieb freilich ein nahezu vollständig ausformuliertes Typoskript, das Johannes F.K. Schmidt jetzt unter dem Titel „Kontingenz und Recht“ aus dem Nachlass des 1998 verstorbenen Bielefelder Sozialtheoretikers herausgegeben hat. Die Monografie ist ein Torso, weil Luhmann einige projektierte Kapitel am Ende nicht mehr verfasst hat. Doch verdienen die mehr als dreihundert Seiten gestochener Darstellung, Anfang der Siebzigerjahre zu Papier gebracht, alle Aufmerksamkeit. Schließlich handelt es sich um Luhmanns ersten Versuch, eine „universelle rechtswissenschaftliche Theorie“ auszuformulieren. Es geht also nicht historisch oder hermeneutisch um variierende Arten des Rechts, vielmehr steuert Luhmann die Gattung des Rechts systematisch an. Eingedenk des Faktums, dass es zwar Gesellschaften ohne Gefängnisse, jedoch keine einzige ohne Recht gibt, thematisiert er das Recht abstrakt als „normative Struktur“.
Den letzten Versuch, eine systemtheoretische Rechtssoziologie in definitiver Gestalt vorzulegen, hat Luhmann erst dreißig Jahre später veröffentlicht. Dort steht allerdings nicht mehr die „Eigenrationalität des Rechts“ im Vordergrund. Das 1993 erschienene Buch „Das Recht der Gesellschaft“ konzentriert sich auf die Grundthese, dass das Recht als eigenständiges Funktionssystem ein „Zeitproblem“ löst. Mit der durch das Recht etablierten Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht werden Erwartungen für die gesellschaftliche Kommunikation erwartbar. Unter allen erdenklichen Erwartungen sortiert das Recht diejenigen heraus, an denen selbst dann, wenn sie faktisch enttäuscht werden, kontrafaktisch auch in Zukunft festgehalten werden kann. So ist ein Fahrraddiebstahl sicherlich ein Ärgernis, führt in der Konsequenz jedoch nicht dazu, dass Erwartungen, wie sie im Rechtsinstitut des Privateigentums niedergelegt sind, zurückgenommen werden. Deshalb darf der Ärger über den Verlust des Fahrrads mit sozialer Resonanz rechnen, während sich der Dieb zu seiner Tat nur bekennen wird, hat er sich auf für ihn negative Folgen eingestellt.
Insofern bindet das Recht Zeit tatsächlich durch Normen, versteht man „Normen“ mit Luhmann als gegen Enttäuschungen immunisierte Erwartungen, die situationsübergreifende Geltung beanspruchen dürfen. Zeitbindung heißt im selben Atemzug folglich auch, dass das Recht soziale Erfahrungs- und Erkenntnisprozesse kostensparend steuert. Es differenziert zwischen kognitiven Erwartungen, die im Enttäuschungsfall durch Erfahrung zu korrigieren sind, und normativen Erwartungen, wo Lernbereitschaft unnötig ist.
Was geschieht, werden derartige Zeitbindungen brüchig, hat Vince Gilligans Serie „Breaking Bad“ in gebotener Drastik veranschaulicht: Ohne die Erwartbarkeit von Erwartungen zerfällt die soziale Existenz der Protagonisten in überraschungsintensive Gegenwarten, die selbst bei erhöhter Lernbereitschaft kaum zu bewältigen sind. Verkettet sind sie allenfalls im Medium der Gewalt, womit exorbitante Kosten anfallen. Offensichtlich artet normativ und kognitiv ungebundene Zeit zu einer destruktiven Macht aus, die all ihre Geschöpfe – wie der Gott Chronos in der griechischen Mythologie – verschlingt.
Auch Anfang der 1970er Jahre überführt Luhmanns „Rechtstheorie“ die klassische Frage „Was ist das Recht“? funktionalistisch in die Frage: „Wozu Recht?“ Auf sie antwortet er unklassisch, das heißt nicht mit einer Theorie gesollter Gerechtigkeit, sondern verblüffender Weise mit Betrachtungen zur Funktion des Rechts im alltäglichen Management von „Kontingenz“.
Sachverhalte sind kontingent, wenn sie weder notwendig, noch unmöglich sind, in ihrer jeweiligen Gegebenheit also auch anders möglich sein könnten. Ausgehend von dieser Definition ist Luhmanns irritierender Grundgedanke, das Recht, verstanden als „Normwissen“, wie den Rechtsbetrieb, verstanden als „Entscheidungssystem“, aus der Notwendigkeit zu begreifen, die Kontingenz von Kommunikation zu strukturieren. Dabei versteht er unter Kommunikation alles Verhalten, „das für andere als eine Auswahl aus mehreren Möglichkeiten, also als Handeln, sichtbar und verständlich wird“. Erst wenn Verhalten in dieser Form als Handeln erkennbar ist, sei es durch den Akteur selbst oder durch andere Akteure, besitzt es „Informationswert“. Es verfügt dann, anders gesagt, über Sinn – „ob absichtlich oder nicht, ob sprachlich artikuliert oder nicht“. Die Pointe des Ansatzes ist deutlich: Damit Verhalten überhaupt als Handeln verständlich wird, muss es als kontingent, als auch anders möglich, beobachtet werden. Doch kommt ihm Informationswert nur zu, falls seine Kontingenz limitiert ist, wenn also aus Verhaltensmöglichkeiten ausgewählt, das heißt eben gehandelt wurde. Sobald Handeln in seinem Kontingenzbezug auffällig wird, als ein Verhalten, das aus Möglichkeiten ausgewählt hat, muss freilich nicht nur das gewählte Verhalten übermittelt werden, sondern auch die Wahl selbst. Das führt zu einer Verdoppelung von Kommunikation, nämlich dazu, dass jede Kommunikation durch Metakommunikation „überformt, interpretiert, bestätigt oder auch widerlegt“ wird. Erst diese Verdoppelung sichert die Sinnhaftigkeit von Kommunikationen und damit auch die Grundlage sozialer Interaktion; denn aufeinander abgestimmtes Handeln braucht den „Informationswert“ von Handlungen. Handeln, das unverständlich ist, bei dem mithin unentscheidbar wäre, ob wirklich Handlung vorliegt oder bloß Verhalten, lässt sich nicht mit anderen Handlungen koordinieren: Ist fraglich, ob die Körperbewegung einer Kollegin heute früh tatsächlich ein morgendlicher Gruß gewesen ist, entsteht der Zweifel, ob zurückzugrüssen ist. War sie vielleicht verstimmt oder nur zerstreut?
Unter einer solchen Beschreibung lassen sich soziale Systeme als Kommunikationsordnungen identifizieren, die einerseits Kontingenz erzeugen, sie andererseits aber selbst, nämlich metakommunikativ, begrenzen müssen. Luhmann zufolge sind „Rechtsnormen“ nichts anderes als derartige metakommunikative Selbstbegrenzungen. Dass sie weder ein außergesellschaftlicher Himmel offenbart, noch eine vorgesellschaftliche Natur aus sich entlassen hat, ist die These. Normen sind „sozial geschaffene“ und als Rechtssystem „institutionalisierte Mechanismen“, was bedeutet, dass sie ihrerseits als kontingente Regeln aufzufassen sind, kraft derer Kontingenz begrenzt wird, um Unsicherheiten im Handeln wie im Sinnverstehen zu minimieren. Indem sich Verhalten mit Recht ausstattet, wird es Handeln, das in dem Maße frei ist, wie es seine Freiheit begrenzt.
Diese Einsicht beleuchtet den „vielleicht wichtigsten“ Punkt am Wozu des Rechts. Er findet sich in einem Nebensatz versteckt. Rechtsnormen, schreibt Luhmann, ermöglichen es, Handlungen „zu verstehen und doch zu verneinen.“ Was ist gemeint? Gäbe es keine Differenz zwischen Recht und Unrecht, wäre jede Handlung, die sinnvoll, nämlich als Auswahl aus Verhaltensmöglichkeiten verständlich ist, schon im Verstehen bejaht. Und umgekehrt könnte die Ablehnung einer Handlung nur Ausdruck des Umstands sein, dass sie gar nicht als Selektion aus Möglichkeiten, streng genommen also nicht einmal als Handlung erkennbar war. Somit liegt der „letzte Grund der Notwendigkeit von Recht“ Luhmann zufolge darin, dass es Handlungen, die verständlich sind, dennoch negierbar macht. Ohne diese Option wäre Gesellschaft undenkbar. Soziale Interaktion braucht das Szenario des Sündenfalls.
MARTIN BAUER
Luhmanns Erwartbarkeit von
Erwartungen wird auch illustriert
in der TV-Serie „Breaking Bad“
Jede Kommunikation wird durch
Metakommunikation überformt,
bestätigt oder auch widerlegt
Niklas Luhmann:
Kontingenz und Recht. Hrsg. von Johannes F. K. Schmidt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
349 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und verneinen
Aus dem Nachlass: Niklas Luhmanns Rechtstheorie
Gute Juristen haben einen Sinn für Realitäten, wissen mit Begriffen umzugehen und verstehen sich darauf, Urteile zu fällen. Einzelnes unter Regeln zu bringen, gehört zu ihrem Handwerk. Angesichts solcher Kompetenzen mag es kein Zufall sein, dass nicht nur der Gründungsvater der deutschsprachigen Soziologie von Haus aus Jurist war, sondern auch sein für die Geschichte der Disziplin nicht minder bedeutender Fachkollege Niklas Luhmann. Die wissenschaftliche Gesellschaftsbeobachtung hat er im Geiste einer elaborierten Systemtheorie über dreißig Jahre lang in Bielefeld erneuert. Anders als Max Weber verfügte Luhmann sogar über praktische Erfahrung im Feld der Jurisprudenz. Vor seinem Eintritt in die akademische Welt ist er als Verwaltungsbeamter tätig gewesen. Schon während dieser Jahre hat Luhmann in weit ausgreifenden Lektüren seinen berühmt gewordenen Zettelkasten bestückt und in der Folge eine Vielzahl eigener Publikationen dazu genutzt, die Innenperspektive des ausgebildeten Juristen mit der Außenperspektive eines Soziologen zu verschalten, der nach der „sozialen Bedeutung des Rechts“ fragt.
Unpubliziert blieb freilich ein nahezu vollständig ausformuliertes Typoskript, das Johannes F.K. Schmidt jetzt unter dem Titel „Kontingenz und Recht“ aus dem Nachlass des 1998 verstorbenen Bielefelder Sozialtheoretikers herausgegeben hat. Die Monografie ist ein Torso, weil Luhmann einige projektierte Kapitel am Ende nicht mehr verfasst hat. Doch verdienen die mehr als dreihundert Seiten gestochener Darstellung, Anfang der Siebzigerjahre zu Papier gebracht, alle Aufmerksamkeit. Schließlich handelt es sich um Luhmanns ersten Versuch, eine „universelle rechtswissenschaftliche Theorie“ auszuformulieren. Es geht also nicht historisch oder hermeneutisch um variierende Arten des Rechts, vielmehr steuert Luhmann die Gattung des Rechts systematisch an. Eingedenk des Faktums, dass es zwar Gesellschaften ohne Gefängnisse, jedoch keine einzige ohne Recht gibt, thematisiert er das Recht abstrakt als „normative Struktur“.
Den letzten Versuch, eine systemtheoretische Rechtssoziologie in definitiver Gestalt vorzulegen, hat Luhmann erst dreißig Jahre später veröffentlicht. Dort steht allerdings nicht mehr die „Eigenrationalität des Rechts“ im Vordergrund. Das 1993 erschienene Buch „Das Recht der Gesellschaft“ konzentriert sich auf die Grundthese, dass das Recht als eigenständiges Funktionssystem ein „Zeitproblem“ löst. Mit der durch das Recht etablierten Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht werden Erwartungen für die gesellschaftliche Kommunikation erwartbar. Unter allen erdenklichen Erwartungen sortiert das Recht diejenigen heraus, an denen selbst dann, wenn sie faktisch enttäuscht werden, kontrafaktisch auch in Zukunft festgehalten werden kann. So ist ein Fahrraddiebstahl sicherlich ein Ärgernis, führt in der Konsequenz jedoch nicht dazu, dass Erwartungen, wie sie im Rechtsinstitut des Privateigentums niedergelegt sind, zurückgenommen werden. Deshalb darf der Ärger über den Verlust des Fahrrads mit sozialer Resonanz rechnen, während sich der Dieb zu seiner Tat nur bekennen wird, hat er sich auf für ihn negative Folgen eingestellt.
Insofern bindet das Recht Zeit tatsächlich durch Normen, versteht man „Normen“ mit Luhmann als gegen Enttäuschungen immunisierte Erwartungen, die situationsübergreifende Geltung beanspruchen dürfen. Zeitbindung heißt im selben Atemzug folglich auch, dass das Recht soziale Erfahrungs- und Erkenntnisprozesse kostensparend steuert. Es differenziert zwischen kognitiven Erwartungen, die im Enttäuschungsfall durch Erfahrung zu korrigieren sind, und normativen Erwartungen, wo Lernbereitschaft unnötig ist.
Was geschieht, werden derartige Zeitbindungen brüchig, hat Vince Gilligans Serie „Breaking Bad“ in gebotener Drastik veranschaulicht: Ohne die Erwartbarkeit von Erwartungen zerfällt die soziale Existenz der Protagonisten in überraschungsintensive Gegenwarten, die selbst bei erhöhter Lernbereitschaft kaum zu bewältigen sind. Verkettet sind sie allenfalls im Medium der Gewalt, womit exorbitante Kosten anfallen. Offensichtlich artet normativ und kognitiv ungebundene Zeit zu einer destruktiven Macht aus, die all ihre Geschöpfe – wie der Gott Chronos in der griechischen Mythologie – verschlingt.
Auch Anfang der 1970er Jahre überführt Luhmanns „Rechtstheorie“ die klassische Frage „Was ist das Recht“? funktionalistisch in die Frage: „Wozu Recht?“ Auf sie antwortet er unklassisch, das heißt nicht mit einer Theorie gesollter Gerechtigkeit, sondern verblüffender Weise mit Betrachtungen zur Funktion des Rechts im alltäglichen Management von „Kontingenz“.
Sachverhalte sind kontingent, wenn sie weder notwendig, noch unmöglich sind, in ihrer jeweiligen Gegebenheit also auch anders möglich sein könnten. Ausgehend von dieser Definition ist Luhmanns irritierender Grundgedanke, das Recht, verstanden als „Normwissen“, wie den Rechtsbetrieb, verstanden als „Entscheidungssystem“, aus der Notwendigkeit zu begreifen, die Kontingenz von Kommunikation zu strukturieren. Dabei versteht er unter Kommunikation alles Verhalten, „das für andere als eine Auswahl aus mehreren Möglichkeiten, also als Handeln, sichtbar und verständlich wird“. Erst wenn Verhalten in dieser Form als Handeln erkennbar ist, sei es durch den Akteur selbst oder durch andere Akteure, besitzt es „Informationswert“. Es verfügt dann, anders gesagt, über Sinn – „ob absichtlich oder nicht, ob sprachlich artikuliert oder nicht“. Die Pointe des Ansatzes ist deutlich: Damit Verhalten überhaupt als Handeln verständlich wird, muss es als kontingent, als auch anders möglich, beobachtet werden. Doch kommt ihm Informationswert nur zu, falls seine Kontingenz limitiert ist, wenn also aus Verhaltensmöglichkeiten ausgewählt, das heißt eben gehandelt wurde. Sobald Handeln in seinem Kontingenzbezug auffällig wird, als ein Verhalten, das aus Möglichkeiten ausgewählt hat, muss freilich nicht nur das gewählte Verhalten übermittelt werden, sondern auch die Wahl selbst. Das führt zu einer Verdoppelung von Kommunikation, nämlich dazu, dass jede Kommunikation durch Metakommunikation „überformt, interpretiert, bestätigt oder auch widerlegt“ wird. Erst diese Verdoppelung sichert die Sinnhaftigkeit von Kommunikationen und damit auch die Grundlage sozialer Interaktion; denn aufeinander abgestimmtes Handeln braucht den „Informationswert“ von Handlungen. Handeln, das unverständlich ist, bei dem mithin unentscheidbar wäre, ob wirklich Handlung vorliegt oder bloß Verhalten, lässt sich nicht mit anderen Handlungen koordinieren: Ist fraglich, ob die Körperbewegung einer Kollegin heute früh tatsächlich ein morgendlicher Gruß gewesen ist, entsteht der Zweifel, ob zurückzugrüssen ist. War sie vielleicht verstimmt oder nur zerstreut?
Unter einer solchen Beschreibung lassen sich soziale Systeme als Kommunikationsordnungen identifizieren, die einerseits Kontingenz erzeugen, sie andererseits aber selbst, nämlich metakommunikativ, begrenzen müssen. Luhmann zufolge sind „Rechtsnormen“ nichts anderes als derartige metakommunikative Selbstbegrenzungen. Dass sie weder ein außergesellschaftlicher Himmel offenbart, noch eine vorgesellschaftliche Natur aus sich entlassen hat, ist die These. Normen sind „sozial geschaffene“ und als Rechtssystem „institutionalisierte Mechanismen“, was bedeutet, dass sie ihrerseits als kontingente Regeln aufzufassen sind, kraft derer Kontingenz begrenzt wird, um Unsicherheiten im Handeln wie im Sinnverstehen zu minimieren. Indem sich Verhalten mit Recht ausstattet, wird es Handeln, das in dem Maße frei ist, wie es seine Freiheit begrenzt.
Diese Einsicht beleuchtet den „vielleicht wichtigsten“ Punkt am Wozu des Rechts. Er findet sich in einem Nebensatz versteckt. Rechtsnormen, schreibt Luhmann, ermöglichen es, Handlungen „zu verstehen und doch zu verneinen.“ Was ist gemeint? Gäbe es keine Differenz zwischen Recht und Unrecht, wäre jede Handlung, die sinnvoll, nämlich als Auswahl aus Verhaltensmöglichkeiten verständlich ist, schon im Verstehen bejaht. Und umgekehrt könnte die Ablehnung einer Handlung nur Ausdruck des Umstands sein, dass sie gar nicht als Selektion aus Möglichkeiten, streng genommen also nicht einmal als Handlung erkennbar war. Somit liegt der „letzte Grund der Notwendigkeit von Recht“ Luhmann zufolge darin, dass es Handlungen, die verständlich sind, dennoch negierbar macht. Ohne diese Option wäre Gesellschaft undenkbar. Soziale Interaktion braucht das Szenario des Sündenfalls.
MARTIN BAUER
Luhmanns Erwartbarkeit von
Erwartungen wird auch illustriert
in der TV-Serie „Breaking Bad“
Jede Kommunikation wird durch
Metakommunikation überformt,
bestätigt oder auch widerlegt
Niklas Luhmann:
Kontingenz und Recht. Hrsg. von Johannes F. K. Schmidt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
349 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Was Gesellschaft erst möglich macht, lernt Martin Bauer mit diesem aus dem Nachlass Niklas Luhmanns publizierten Typoskript. Dass der Autor einige Kapitel nicht vollendet hat und der Text also Fragment bleibt, schmälert für Bauer kaum den Erkenntnisgewinn. Luhmanns laut Rezensent in gestochener Darstellung daherkommender erster Versuch einer universellen rechtswissenschaftlichen Theorie überzeugt Bauer durch seinen systematischen Ansatz sowie durch die überraschende Betrachtung des Rechts unter den Bedingungen der Kontingenz, genauer: kontingenten Handelns. Letzteres führt Bauer zu einer wichtigen Begründung des Rechts, die ihn gleichfalls verblüfft.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Die Monografie ist ein Torso, weil Luhmann einige projektierte Kapitel am Ende nicht mehr verfasst hat. Doch verdienen die mehr als dreihundert Seiten gestochener Darstellung, Anfang der Siebzigerjahre zu Papier gebracht, alle Aufmerksamkeit. Schließlich handelt es sich um Luhmanns ersten Versuch, eine 'universelle rechtswissenschaftliche Theorie' auszuformulieren.« Martin Bauer Süddeutsche Zeitung 20140205