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Die erste Bloggerin der Weltliteratur - tagesaktuelle Notizen aus einer sagenhaften Hochkultur
Ein Bündel edlen Papiers diente Sei Shônagon vor tausend Jahren als Tagebuch. Diesem vertraute sie ihre intimsten Geheimnisse an, darunter allerlei Delikates aus den Privatgemächern des Kaiserpalasts. Freimütig schwärmt die selbstbewusste junge Frau von Stil und Schönheit, macht sich über die Marotten der Männer lustig und ergründet mit heiterem Eigensinn Himmel und Erde. Ob sie vom prachtvollen Schwertlilienfest erzählt, vom Ausrücken der Kaiserlichen Gewittergarde oder von klammheimlichen…mehr

Produktbeschreibung
Die erste Bloggerin der Weltliteratur - tagesaktuelle Notizen aus einer sagenhaften Hochkultur

Ein Bündel edlen Papiers diente Sei Shônagon vor tausend Jahren als Tagebuch. Diesem vertraute sie ihre intimsten Geheimnisse an, darunter allerlei Delikates aus den Privatgemächern des Kaiserpalasts. Freimütig schwärmt die selbstbewusste junge Frau von Stil und Schönheit, macht sich über die Marotten der Männer lustig und ergründet mit heiterem Eigensinn Himmel und Erde. Ob sie vom prachtvollen Schwertlilienfest erzählt, vom Ausrücken der Kaiserlichen Gewittergarde oder von klammheimlichen Tête-à-Têtes - dank des lebendigen Stils wirken ihre höfischen Impressionen wie mit dem Tuschepinsel hingetupfte Ewigkeitsbilder.
Autorenporträt
Sei Shônagon (ca. 966-nach 1010) stammte aus einer literarisch und wissenschaftlich hochbegabten Familie - ihr Vater war ein bekannter Dichter -, trat mit sechsundzwanzig Jahren in den Dienst der Kaiserin Sadako und verbrachte ein Jahrzehnt bis zu deren Tod im Hofdienst. In dieser Zeit schrieb sie ihre zauberhaften Aufzeichnungen nieder, mit denen sie japanische Weltliteratur begründete.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.05.2019

Was es nur selten gibt
Das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shōnagon
Listen dürften eines der ältesten literarischen Stilmittel sein. Von der Bibel und Homer über Jules Verne und Jorge Luis Borges bis zur neuesten „100 Dinge, die …“-Sammlung auf Buzzfeed – Kataloge und Aufzählungen finden sich zu allen Zeiten und in allen Genres. Sie sind säkulare, nicht weit entfernte Verwandte von Gebeten und Zaubersprüchen, die versuchen, Sprache als eine Art magisches Werkzeug zum Eingriff in die Welt zu gebrauchen.
Jede Liste nimmt, wie die Japanologin Jacqueline Pigeot schreibt, eine „Reorganisation des Realen“ vor, indem sie ein eigenes Ordnungssystem setzt. Wer eine Liste anlegt, spielt ein bisschen Gott, oder behauptet zumindest, dass die eigenen Kategorien eine überpersönliche Bedeutung hätten: Ich fasse zweiundzwanzig Dinge unter einer Überschrift zusammen, und sofort entwickeln sie Gemeinsamkeiten. In der Literaturgeschichte der Liste hat niemand diese Anmaßung mit verspielterer Willkür in Anspruch genommen als die Dichterin Sei Shōnagon.
Das „Kopfkissenbuch“, das die japanische Hofdame vor gut tausend Jahren in Kyoto verfasste, enthält eine wilde Mischung aus Anekdoten vom Leben am Kaiserhof, Miniatur-Essays, Gedichten, Notizen, Abschweifungen und den erwähnten Listen, die ein gutes Drittel des Buchs ausmachen und sich durch eine wunderbar dreiste Vermischung von Subjektivem und Abstraktem auszeichnen. Shōnagons kurze, assoziative Texte erinnern nicht nur in ihrer Form an gegenwärtige Formate wie Tweets oder Blogposts; dank Michael Steins zeitgenössischer Übersetzung sind sie auch auf Deutsch in einer Sprache lesbar, die von klebrigen Kolonialismen und exotistischen Japanklischees befreit ist. Steins Version des Kopfkissenbuchs war bisher nur in einer teuren bibliophilen Ausgabe erhältlich, und man kann es dem Manesse-Verlag kaum genug danken, dass er dieses Meisterwerk nun in einer erschwinglicheren Auflage zugänglich gemacht hat.
Um ein solches handelt es sich vor allem deshalb, weil Sei Shōnagons Listen fast immer einen Überraschungseffekt enthalten, der das Denken ins Stolpern oder zu einem verunsicherten Lachen bringt. Das geschieht einerseits, indem sie unter einer gewöhnlich erscheinenden Kategorie unerwartete Dinge versammelt – unter der Überschrift „Nachahmungen“ führt sie zum Beispiel lediglich zwei Punkte auf, „Gähnen“ und „Kleinkinder“. Andererseits zeigt sich ihre selbstbewusste Welteinteilung oft schon in den Listentiteln. So beschäftigt sie sich zwar mit den abstrakten Kategorien „Großartiges“, „Peinliches“ und „Gegensätzliches“, aber genauso auch mit „Worüber ich mich totärgern könnte“, „Was es leider nur selten gibt“, „Was sich anders als sonst anhört“, „Was mir Zuversicht gibt“, „Wobei man nicht unachtsam sein darf“, „Was besser kurz sein sollte“, „Was einst großartig war, heute aber nutzlos ist“, und nicht zuletzt mit „Dingen, die nicht sonderlich auffallen, beim Schreiben aber erheblichen Aufwand erfordern“.
Nicht selten explodieren Sei Shōnagons Listen, verlassen den Modus der Aufzählung und wandern in eine andere Richtung, zu einer persönlichen Reflexion oder einer Erinnerung. Immer aber führen sie vor, wie wir die Welt mittels Sprache in Kategorien einteilen – und auch, wie willkürlich und kontingent diese Einteilungen sind. Ihre Kataloge sind, mit einem Begriff des Literaturwissenschaftlers Philippe Hamon, „lexikalische Wucherungen“, die die Definitionsmacht des Lexikons außer Kraft setzen, indem sie seine Regeln spielerisch so lange übererfüllen, bis sie relativ werden: Eine tausend Jahre alte Aufforderung zu eigenständigem Denken und lustvollem Umgang mit der Sprache.
LEA SCHNEIDER
Sei Shōnagon: Kopfkissenbuch. Aus dem Japanischen von Michael Stein. Manesse-Verlag, München 2019. 736 Seiten, 24 Euro.
Vor gut tausend Jahren wurde
diese Mischung aus Essays,
Listen, Gedichten verfasst
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»Sh_nagons kurze, assoziative Texte erinnern nicht nur in ihrer Form an gegenwärtige Formate wie Tweets oder Blogposts; dank Michael Steins zeitgenössischer Übersetzung sind sie auch auf Deutsch in einer Sprache lesbar, die von klebrigen Kolonialismen und exotistischen Japanklischees befreit ist. Ein Meisterwerk.« Süddeutsche Zeitung, Lea Schneider

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2015

Wie eine belesene Hofdame den ganzen Kaiserpalast elektrisierte

Weltliteratur nicht nur für Herrschende: Sei Shonagons tausend Jahre altes "Kopfkissenbuch" lässt die Welt der fernöstlichen Dichtung neu vor uns erstehen.

Von Andreas Platthaus

Dieses Buch sieht aus und fühlt sich an, wie es heißt. Quadratisch kommt es daher, der Einband weich gepolstert und bezogen mit floral bedrucktem Satin. Die roten Blüten darauf gehören zu einem Pflaumenbaum, natürlich, denn die Verfasserin beginnt eine ihrer Ausführungen mit dem Satz: "Ob blassrosa oder tiefrot, ich mag rote Pflaumenblüten." Und so ist auch am Fuß jeder Seite als Vignette eine solche zu finden. Eine schöne Buchkunst-Spielerei, mit der sich der stolze Preis dieses Werks wohl auch bei denjenigen rechtfertigen lässt, die nicht sofort wissen, was es bedeutet, Sei Shonagons "Kopfkissenbuch" endlich vollständig auf Deutsch zu haben.

Es bedeutet für Liebhaber der japanischen Kultur unendlich viel. Sei Shonagon - ihr wirklicher Name ist nicht überliefert, aber am Kaiserhof wurde sie so genannt -, geboren 966, schrieb in den Jahren um die Jahrtausendwende etwas, das sie selbst als private Reflexionen ansah: "Ich hatte nicht damit gerechnet, dass irgendjemand diese Aufzeichnungen zu Gesicht bekommt, und daher vorgehabt, auch Unschönes und Unangenehmes freiweg aufzuschreiben, so wie es mir in den Sinn kommt." Heute würden wir das, was daraus entstand, am ehesten ein Tagebuch nennen, und man kann den Reiz ermessen, den es bedeutet, tausend Jahre zurückgeführt zu werden, nach Kyoto an den japanischen Kaiserhof der Heian-Zeit, wo die Verfasserin zum Gefolge der Kaiserin gehörte.

Entsprechend intim war ihr Einblick. Es gibt keine vergleichbare Quelle, auch nicht die nahezu gleichzeitig entstandene "Geschichte vom Prinzen Genji" von Murasaki Shikibu, einer weiteren japanischen Hofdame. Auch sie erzählt von den minutiös ausgearbeiteten Regularien und Raffinements in der Kaiserresidenz, bettet diese Betrachtungen aber in einen Roman ein. Sei Shonagon spricht dagegen nicht nur von ihrer Umgebung - dem gerade erst der Minderjährigkeit entwachsenen Kaiser und seiner kaum älteren Gemahlin, all den Hofbeamten und -damen -, sondern vor allem von sich selbst und den eigenen Erlebnissen; und da sie eine ungemein gewitzte und offenherzige Beobachterin ist, bekommen wir ein Sittenbild der farbigsten Art. Die seit Jahrhunderten im Westen gebrauchte Übersetzung "Kopfkissen" für den japanischen Begriff makura des Originaltitels ist zu harmlos - und überdies zu erotisch konnotiert - für einen Text dieses Ranges. Auch wenn Michael Stein, der die Herkulesaufgabe der ersten vollständigen deutschen Übersetzung übernommen hat, am eingeführten Namen festhält, merkt er doch an, dass man mit mehr Recht vom "Sattelbuch" zu sprechen hätte. Und das wäre denn fürwahr ein geeigneter Buchtitel gewesen, denn erst Sei Shonagons Werk gibt uns festen Halt in der japanischen Mentalität.

Wie überfällig war es also, dass der 1948 geborene Michael Stein, der seit Jahrzehnten in Tokio lebt und lehrt, sich dem Ganzen angenommen hat und nicht, wie bislang üblich, den Lesern nur besonders schöne Passagen bietet. Denn erst die gesamten 326 von der Forschung als authentisch anerkannten Abschnitte des nur in späteren japanischen Abschriften unterschiedlichen Umfangs überlieferten Buchs lassen jenen Eindruck entstehen, auf den es der Autorin ankam: eines Spiegels ihrer Welt. Die darf jedoch nicht missverstanden werden als das gesamte Japan vor tausend Jahren. Der Kaiserhof war eine Welt für sich, vom Alltag der Untertanen sorgsam geschieden, und nicht selten verleiht Shonagon ihrer Verachtung für das Leben außerhalb auch deutlich Ausdruck. Doch zugleich geben gerade solche Passagen aus der Arroganz heraus wichtige Auskünfte. So etwa, wenn die Hofdame jungen Frauen bei der Landarbeit zusieht: "Reiskörner schälen und dazu Lieder singen. Wir lachten vor Begeisterung, es war so amüsant!"

Was sich aus dieser herablassenden Bemerkung ablesen lässt, ist nicht Verachtung für körperliche Arbeit, sondern stilisierte Unwissenheit. Es gehörte sich für eine Palastangehörige einfach nicht, etwas von Landarbeit zu verstehen, also stellt Shonagon sich in ihren Aufzeichnungen diesbezüglich bewusst dumm. Tatsächlich waren diese Texte nämlich doch verbreitete Lektüre bei Hofe. Michael Stein vermutet, dass die Notizen in einer heiklen politischen Situation, als die Position der Kaiserin eine Schwächung erfuhr und Shonagon sich dafür entscheiden musste, ihrer Herrin treu zu bleiben oder die Seite zu wechseln, zum Zwecke der Selbstüberprüfung angelegt wurden. In einem Postskriptum zu dem Textkonvolut heißt es: "Ich wollte diese Aufzeichnungen nach Möglichkeit verborgen halten, doch entgegen meinen Absichten sind sie nun allgemein bekanntgeworden." Im Wissen darum darf man bei etlichen Abschnitten eine bereits auf Außenwirkung gerichtete Absicht unterstellen.

Umso wichtiger ist die von Stein in Fußnoten und einem biographischen Personenregister mustergültig besorgte Kommentierung dieses "Tagebuchs", das sich um Chronologie gar nicht schert. Die geschilderten Ereignisse sind jedoch oft über die erhaltenen Annalen jener Epoche datierbar, und der Verzicht auf eine zeitliche Reihenfolge wird ausgeglichen durch einen inneren Zusammenhang der Abschnitte, der thematischen wie rhythmischen Gesetzen gehorcht. Letztere sind in einer Übersetzung nicht zu retten, aber allein die Leistung, die Stein mit der Übertragung und Annotation der zahlreichen Gedichte vollbringt - Shonagon war bei Hofe berühmt-berüchtigt für ihre Fähigkeiten als vorwitzige Stegreifdichterin, die in der hochgeschätzten Kunst der Variation klassischer chinesischer Poesie brillierte -, ist eine Pioniertat. Zusammen mit dem japanischen Kaiserhof entsteht durch seine Arbeit auch die ganze Welt der fernöstlichen Dichtung jener Zeit vor uns neu.

Und Stein hat einen Tonfall für Sei Shonagons "Kopfkissenbuch" gefunden, der dessen Entstehungszeit und -situation gerecht wird, ohne archaisch oder exotisch zu klingen. Es genügen in den Palastszenen die Spezifika des seinerzeit gebräuchlichen Kalendariums oder der Architektur (die natürlich jeweils in den aus unerfindlichen Gründen leider senkrecht zum Satzspiegel gedruckten Fußnoten und dem Nachwort erläutert werden) und vor allem die Eleganz von Shonagons durch Stein verliehener Sprache, um aus der prinzipiellen Vieldeutigkeit des Japanischen einen in unseren Ohren höfischen und somit auch vertrauten Klang herauszudestillieren. Nur ein Beispiel: "An einem müßigen, sonnigen Tag um den 20. Tag des 2. Monats saß der Kaiser auf der westlichen Balustrade des Zwischenflügels und spielte Flöte. Herr Fujiwara no Takato, der Leiter des Ministeriums für Militärwesen, weilte als Kaiserlicher Flötenlehrer an seiner Seite; mir fällt leider nur die Allerweltsfloskel ,schlichtweg hinreißend und wundervoll' ein, um zu beschreiben, wie sie zu zweit das Stück Takasago spielten."

Aber auch für katalogartige Auflistungen von Vorlieben und Abneigungen der Autorin, für ironische Spitzen oder kleine Entrüstungen, für neckische Bosheiten oder selbstverliebte Reminiszenzen steht Michael Stein jeweils der richtige Klang zur Verfügung - wie überhaupt das "Kopfkissenbuch" eines jener Werke der Weltliteratur ist, die wie große musikalische Kompositionen angelegt sind, was nicht verwundert angesichts der Bedeutung, die das Musizieren am kaiserlichen Hof von Kyoto hatte. Auch dazu ist dem Buch viel zu entnehmen, wie zu religiösen, offiziösen oder amourösen Praktiken.

Und zugleich sind die Aufzeichnungen geschrieben für Leser - egal, ob Sei Shonagon dabei nur an sich selbst oder auch an andere Höflinge dachte -, die ihr größtes intellektuelles und soziales Vergnügen im strengen Spiel mit literarischen Formen suchten. Als die Autorin von einem Hofbeamten einen Pflaumenzweig, dessen Blüten abgefallen waren, zugesandt bekam, schickte sie als Antwort eine Formulierung aus den Erläuterungen einer berühmten Gedichtsammlung. "Daraufhin ließen sich zahlreiche Privilegierte vor unserer Holztür nieder und rezitierten das betreffende Gedicht." Nie war Literatur so zentral für Herrschaft wie im Japan der Heian-Zeit. Und nie ist Herrschaft wieder zu so herrlicher Literatur geworden wie bei Sei Shonagon.

Sei Shonagon: "Kopfkissenbuch".

Hrsg. und aus dem Japanischen von Michael Stein. Manesse Verlag, München 2015. 383 S., geb., 59,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ludger Lütkehaus singt eine Hymne auf Sei Shonagons "Kopfkissenbuch" aus der "Heian-Periode", das Michael Stein neu und meisterhaft aus dem Japanischen übersetzt hat. Pornografische Erwartungen werden allerdings enttäuscht, baut der Kritiker falschen Erwartungen vor. Dafür wird der Leser mit einem ungeheuren Reichtum an humorvollen, anspielungsreichen Notaten über das Leben am kaiserlichen Hof, Glossen über Männer, Mode, Leidenschaften und Liebeswirren sowie zeitgenössischen Reflexionen belohnt, verspricht der Rezensent. Tief beeindruckt zeigt sich Lütkehaus nicht nur von Shonagons Intelligenz und Spracheleganz, ihren "erotischen Sprachspielen" und ihrem philosophischen und psychologischen Gespür, sondern auch von ihrem modernen Selbstbewusstsein und ihrer Selbstironie. Jeder dieser faszinierenden "Miszellen" ist es wert, auf dem "heiligen Gott des Papiers" festgehalten zu werden, versichert der Kritiker.

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