Arthur Rimbaud ist zum Mythos geronnen. Seine Werke sind zu Meteoriten verklärt und gelten vielen Lesern immer noch als Kronzeugen für die vermeintliche Unverständlichkeit moderner Lyrik. Rimbauds vollständige Korrespondenz, sämtliche zu Lebzeiten gedruckten Werke (auf Grundlage der Handschriften neu übersetzt) sowie alle zeitgenössischen Rezensionen liegen mit Lefrères monumentaler Rimbaud-Edition nun erstmals auf Deutsch vor. Ein hierzulande noch weitgehend unbekannter Rimbaud offenbart sich. Seine zwei Leben begegnen sich zwischen Buchdeckeln. Umblättern heißt ungeheure Entfernungen zurücklegen: Während 1889 in einer kleinen Pariser Zeitschrift zum ersten Mal Rimbauds "An die Musik" erscheint, sitzt der Verfasser in Harar und schreibt Rechnungen für die mit ihm in Verbindung stehenden Kaufleute in Schoa oder Aden. Und verweigert jeden Bezug zwischen sich und den Heften, in denen er gedruckt wird, jeden Bezug zwischen seinem Leben und der speziellen Lebensweise der Veröffentlichung, die ihm widerfährt - zu spät. Wie kaum ein Dichter vor ihm hatte Rimbaud die Dichtung aus ihrer Zeit hervorgehen lassen. Aus der und gegen die Literatur seiner Zeit bezog er den Stoff für sein dichterisches Denkmal der Pariser Kommune. In der Überfülle unterschiedlichster Dokumente wird lesbar, wie der Dichter zum Schweigen gebracht, aus dem Schreiben vertrieben wurde - und wie er sich letztlich in dieses Schicksal fügte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.2018Stützstrumpf der Poesie
Die Situationskomik ist zuweilen hoch: Eine kühne deutsche Edition bettet Arthur Rimbauds literarische Werke in seine gesammelten Briefe ein
Worüber man nicht dichten kann, darüber soll man schweigen. Doch er, er konnte doch über alles dichten: Arthur Rimbaud, ewiger Rebell und ewig-junges Idol poetischer Spannkraft. Seine Reime verbanden das Niedrigste mit dem Höchsten, er legte selbst über die obszönen Abgründe der besungenen After-Rose den himmlischen Hauch vokalischer Laute, reimte Unerhörtes wie: "Mein tristes Herz sabbert am Heck/ Ithyphallisch und piepiesk." Und versank dann doch im Schweigen. Denn worüber er nicht dichten wollte, darüber sollte er schweigen. Es ist das beredteste Schweigen der Weltliteratur.
Mit zwanzig Jahren hat der Frühvollendete der Poesie den Rücken gekehrt und sich in Afrika dem Waffenhandel hingegeben. Er, der die Alchimie der Worte wie keiner in esoterische Verse fassen konnte, gürtete nun das reale Gold und zog in Gewaltmärschen durch die Hochebene von Äthiopien, acht Kilo im Gürtel bergend, Märsche ohne Ende, bis ihn zuletzt der Wundbrand befiel. Da bestellte er in einem Brief vom 8. November 1891 Stützstrümpfe bei der Mutter, natürlich aus Seide. Doch es war nichts mehr zu wollen, das Bein faulte ihm ab, und man musste ihn auf einer Bahre zwölf Tage durch Hitze und Regen zum nächsten Hafen tragen und zurück in die verhasste Heimat verschiffen, nach Frankreich, das er höchstens in Paris ertrug, aber nun sollte er in einem Hospital in Marseille verenden.
Das weiß man schon lange, doch jetzt erfährt man aus den gesammelten Briefen des Dichters verstörende Details: Das Bein band man an den Hals eines Maultiers, was beim steilen Abstieg hinunter an die Küste entsetzliche Schmerzen auslöste, in den Nächten flüchtete er sich unter "Häute aus Äthiopien" und scharrte daneben ein Loch, um - kriechend - seine Notdurft zu verrichten. Das Bild des poetischen Heros kippt in Horror, den reinen Horror mitten aus dem Reich der Finsternis.
Während seine Jünger in Paris auf neue Sendschreiben hofften, verharrte Rimbaud in seinem Schweigen und bestellte ein Holzbein, "lackiert und gepolstert" zwar, doch hüpfte er damit nur noch wie ein Idiot, Tränen im Gesicht, durch den Hof des Spitals in Marseille, schreiend und sich die früh ergrauten Haare raufend.
Nach seinem Tod stürzte man sich auf die Briefe, um sich das Rätsel seines Schweigens zu erklären. Wie Rimbauds Zeitgenossen legt man nun beim Lesen der monumentalen dreibändigen deutschen Edition seiner Korrespondenz jedes Wort von Rimbaud, jeden Brief, den man fand, auf die Goldwaage der Interpretation, in der Hoffnung, auf Briefe zu stoßen wie jene, in denen er, Schüler noch, für Jahre und Jahrzehnte das Programm der Avantgarde auf den Punkt brachte: "Ich will Dichter sein, und ich arbeite daran, mich sehend zu machen zu machen: . . . Es geht darum, zum Unbekannten zu gelangen durch die Zügellosigkeit aller Sinne. Es ist falsch zu sagen: Ich denke: man müsste sagen Man denkt mich - Verzeihen Sie das Wortspiel. Ich ist ein anderer. Pech für das Holz, das sich als Geige wiederfindet".
Bevor man sich fragt, weshalb der Übersetzer Tim Trzaskalik nicht die aktive Wendung "Entregelung" für "dérèglement" anstelle der passiven "Zügellosigkeit" übernommen hat, fragt man sich: Weshalb wollte Rimbaud nun keine solchen Briefe mehr schreiben? Denn kein einziger Brief kreist um seine radikale Entscheidung, als Poet, als "Dieb des Feuers" abzudanken. Dafür erhellen die Dokumente sein rätselreiches Leben.
Als in Paris - quasi postum, denn man vermutete, Rimbaud wäre in Afrika längst gestorben - seine Hauptwerke "Eine Zeit in der Hölle" und "Die Illuminationen" erschienen, schrieb er aus Harar: "Wir glauben, dass es in Frankreich spezielle Wolfsfallen aus Stahl gibt, die auch für Leoparden sehr gut geeignet sein könnten." Es ist zum Verzweifeln. Zweitausend Seiten Briefe - und doch kein Schlüsselwort zur Moderne?
Über Hunderte von Seiten irrt das Auge durch endlose Abrechnungen, in denen der Wert von Stoßzähnen, die in Aden aufgrund des italo-abessinischen Krieges gerade wieder gestiegen sind, mit dem Futter für Kamele, an dem Rimbaud sparte, aufgerechnet oder der Lohn eines Dolmetschers abgerechnet wird, der Arabisch in Amhrigna übersetzt, bevor Rimbaud eine arabisch-französische Ausgabe des Korans bestellt und selbst die Sprachen Omoro und Amhrigna lernte. Das kühle Kalkül des Kapitals lässt die Engelszunge des Dichters in Eis erstarren. Und am Horizont irrlichtert Rimbauds Enttäuschung, dass er nun keine Frau mehr finden wird, um sie zu heiraten und einen Sohn zu zeugen, den er zum Ingenieur ausbilden würde: "Heirat ade, Familie ade."
Einen wohl ungewollten Höhepunkt bilden die Gerichtsakten über einen Zwischenfall in Belgien. Gerade noch hatten Rimbaud und Verlaine - auf der Flucht vor Verlaines Frau und dem Gespött in Paris - in London ihre Dienste als Französischlehrer angeboten, um ihrerseits Englisch zu lernen, da nimmt Verlaine Reißaus. Selbst ihm, dem Dichter des Absinths, wird der Rausch von Rimbaud zu viel. Doch Rimbaud reist ihm nach, sendet verliebte Zeilen, in denen er beschwört: "Du kannst mich nicht vergessen. Ich trage dich noch immer in mir."
Das sollte man ganz wörtlich nehmen. Ganz sexuell: In Belgien kommt es zum Bruch, Verlaine schießt auf Rimbaud und wird verhaftet. In einer Passage, die Michel Foucaults Theorie über das Überwachen und Strafen genauso vorwegnimmt wie den Geständniszwang des Sex im Abendland, notiert der Gerichtsmediziner über Verlaine: "Der Penis ist kurz und von geringem Umfang - die Eichel vor allem ist klein und verjüngt sich in Richtung ihrer Spitze vom Eichelrand aus - dieser ist nicht sehr ausgeprägt und glatt."
Die Situationskomik ist, wie man sieht, zuweilen hoch. Und Tim Trzaskalik hat sich dafür entschieden, alles ins Deutsche zu übersetzen, dank neuer Funde mehr noch als in der französischen Edition der "Correspondance", und auch deren Anmerkungen um eigene Betrachtungen und den neusten Forschungsstand zu ergänzen, wobei namentlich seine eigenen Erläuterungen zu einzelnen Gedichten durch Wissen und Einfühlung bestechen.
Bei der Lektüre verfolgt man die Wirren all der kleinen und größeren Betrügereien des poetischen Prometheus. Bis das erschöpfte Auge, ein letztes Mal, doch noch hängenbleibt. Denn da, nach Marseille zurückgekehrt, den Holzstumpf verfluchend, mit dem er durch das Spital humpelt, bevor ihn der Krebs ganz zerfrisst, da lässt er im letzten Delirium doch noch den surrealen Abglanz seines verpfuschten Lebens aufgleißen - vielleicht ein Wink für eine ganz neue poésie concrète:
"Ein Posten 1 Zahn einzeln
Ein Posten 2 Zähne
Ein Posten 3 Zähne
Ein Posten 4 Zähne
Ein Posten 2 Zähne."
Es ist die elende moderne Antwort auf das Rätsel, das die Sphinx Ödipus stellte: Der Mensch geht zunächst auf allen vieren, dann auf zwei Beinen und zuletzt auf drei, eine Krücke in der Hand. Und so träumte Rimbaud davon, vielleicht doch noch einmal auf zwei Zähnen in die Fremde reisen zu können . . . Rimbauds letzte Sätze vom 9. November 1891 an den Direktor einer Schifffahrtslinie lauten ebenso lapidar wie rätselreich: "Ich bin völlig gelähmt. Daher wünsche ich, frühzeitig an Bord zu sein, sagen Sie mir, um wie viel Uhr ich an Bord gebracht werden soll."
1984 hat derselbe deutsche Verlag, Matthes & Seitz, Rimbaud ins Jetzt übersetzen lassen. Mit typographischen Spielereien im Stil von Arno Schmidt hatten Hans Therre und Rainer G. Schmidt den Funkenflug von Rimbauds Rebellion eingefangen, auch wenn sie in ihrem postpubertären Furor oft Fehler und Fehldeutungen begingen. Diesen Furor aber lässt die neue Übersetzung vermissen. Es gelingt ihr auch nicht, wie Paul Celan in seiner Version des "Trunkenen Schiffs" die lautlichen Verstrebungen ins Schweben zu bringen oder wie Stefan George aus Rimbaud - wenigstens - einen George zu machen.
Man kann eine Übersetzung immer leicht mit wenigen Fehlgriffen in Frage stellen, man könnte ihr wie Handkes Übertragung von Sophokles' "Ödipus in Kolonos" wegen der Verwendung von "dalli, dalli" den Prozess machen oder wegen Wendungen wie "Depp" und "deppert", "flippig" und "echt dufte". Man könnte auch monieren, dass "glisser" mit "eintüten" wiedergegeben wird. Da verendet Rimbaud in Prenzlauer Berg.
Doch diese Fragwürdigkeiten wiegen schöne Findungen wie "Erdriftungen" in der Version des Gedichts "Das trunkene Schiff" auf oder der Aufschrei rund um das Wort "encrapuler": "Ich werde ein Arbeiter sein / Jetzt arbeiten? Niemals, niemals, ich streike. Jetzt verabschaume ich mich soweit wie nur möglich."
Während die Briefe meist korrekt wiedergegeben werden, fällt die Prosaübersetzung von "Eine Zeit in der Hölle" bereits ab. Und ein Fragezeichen muss man leider hinter die Gedichte setzen. Dass die Reime fallengelassen werden, geschenkt. Schwerer wiegt, dass die freischwebenden französischen Konstruktionen zu Substantivmonstern verklumpen: Man humpelt durch Wortgeröll wie "Heliotropenklauer" und "Aquäduktgewimper". Dieses Klumpenrisiko überdeckt den Ehrgeiz von Tim Trzaskalik, Rimbauds Bruch mit den Gesetzen des Alexandriners auch für deutsche Ohren hörbar zu machen.
Das kühne Konstrukt der Edition aber besticht dadurch, dass unter dem tiefstapelnden Titel "Korrespondenz" nicht nur die Briefe übersetzt, sondern auch alle Hauptwerke zum Zeitpunkt ihres Erscheinens in die Korrespondenz eingebettet sind. Das führt zu wunderbar surrealen Korrespondenzen.
Die Briefe sind, so viel darf man zu sagen wagen, eine Art verstörender Stützstrumpf der Poesie. Er ist kaum je aus Seide, aber er erklärt die Krampfadern, die nach Rimbauds Tod die Poesie all jener durchziehen, die seinem Aufruf folgten: "Man muss absolut modern sein." Eine Aufgabe, an der Rimbaud zerbrach, auf heroische Weise.
STEFAN ZWEIFEL
Arthur Rimbaud: "Korrespondenz".
Aus dem Französischen und kommentiert von Tim Trzaskalik. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 3 Bände im Schuber, zus. 2288 S., geb. und br., 128,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Situationskomik ist zuweilen hoch: Eine kühne deutsche Edition bettet Arthur Rimbauds literarische Werke in seine gesammelten Briefe ein
Worüber man nicht dichten kann, darüber soll man schweigen. Doch er, er konnte doch über alles dichten: Arthur Rimbaud, ewiger Rebell und ewig-junges Idol poetischer Spannkraft. Seine Reime verbanden das Niedrigste mit dem Höchsten, er legte selbst über die obszönen Abgründe der besungenen After-Rose den himmlischen Hauch vokalischer Laute, reimte Unerhörtes wie: "Mein tristes Herz sabbert am Heck/ Ithyphallisch und piepiesk." Und versank dann doch im Schweigen. Denn worüber er nicht dichten wollte, darüber sollte er schweigen. Es ist das beredteste Schweigen der Weltliteratur.
Mit zwanzig Jahren hat der Frühvollendete der Poesie den Rücken gekehrt und sich in Afrika dem Waffenhandel hingegeben. Er, der die Alchimie der Worte wie keiner in esoterische Verse fassen konnte, gürtete nun das reale Gold und zog in Gewaltmärschen durch die Hochebene von Äthiopien, acht Kilo im Gürtel bergend, Märsche ohne Ende, bis ihn zuletzt der Wundbrand befiel. Da bestellte er in einem Brief vom 8. November 1891 Stützstrümpfe bei der Mutter, natürlich aus Seide. Doch es war nichts mehr zu wollen, das Bein faulte ihm ab, und man musste ihn auf einer Bahre zwölf Tage durch Hitze und Regen zum nächsten Hafen tragen und zurück in die verhasste Heimat verschiffen, nach Frankreich, das er höchstens in Paris ertrug, aber nun sollte er in einem Hospital in Marseille verenden.
Das weiß man schon lange, doch jetzt erfährt man aus den gesammelten Briefen des Dichters verstörende Details: Das Bein band man an den Hals eines Maultiers, was beim steilen Abstieg hinunter an die Küste entsetzliche Schmerzen auslöste, in den Nächten flüchtete er sich unter "Häute aus Äthiopien" und scharrte daneben ein Loch, um - kriechend - seine Notdurft zu verrichten. Das Bild des poetischen Heros kippt in Horror, den reinen Horror mitten aus dem Reich der Finsternis.
Während seine Jünger in Paris auf neue Sendschreiben hofften, verharrte Rimbaud in seinem Schweigen und bestellte ein Holzbein, "lackiert und gepolstert" zwar, doch hüpfte er damit nur noch wie ein Idiot, Tränen im Gesicht, durch den Hof des Spitals in Marseille, schreiend und sich die früh ergrauten Haare raufend.
Nach seinem Tod stürzte man sich auf die Briefe, um sich das Rätsel seines Schweigens zu erklären. Wie Rimbauds Zeitgenossen legt man nun beim Lesen der monumentalen dreibändigen deutschen Edition seiner Korrespondenz jedes Wort von Rimbaud, jeden Brief, den man fand, auf die Goldwaage der Interpretation, in der Hoffnung, auf Briefe zu stoßen wie jene, in denen er, Schüler noch, für Jahre und Jahrzehnte das Programm der Avantgarde auf den Punkt brachte: "Ich will Dichter sein, und ich arbeite daran, mich sehend zu machen zu machen: . . . Es geht darum, zum Unbekannten zu gelangen durch die Zügellosigkeit aller Sinne. Es ist falsch zu sagen: Ich denke: man müsste sagen Man denkt mich - Verzeihen Sie das Wortspiel. Ich ist ein anderer. Pech für das Holz, das sich als Geige wiederfindet".
Bevor man sich fragt, weshalb der Übersetzer Tim Trzaskalik nicht die aktive Wendung "Entregelung" für "dérèglement" anstelle der passiven "Zügellosigkeit" übernommen hat, fragt man sich: Weshalb wollte Rimbaud nun keine solchen Briefe mehr schreiben? Denn kein einziger Brief kreist um seine radikale Entscheidung, als Poet, als "Dieb des Feuers" abzudanken. Dafür erhellen die Dokumente sein rätselreiches Leben.
Als in Paris - quasi postum, denn man vermutete, Rimbaud wäre in Afrika längst gestorben - seine Hauptwerke "Eine Zeit in der Hölle" und "Die Illuminationen" erschienen, schrieb er aus Harar: "Wir glauben, dass es in Frankreich spezielle Wolfsfallen aus Stahl gibt, die auch für Leoparden sehr gut geeignet sein könnten." Es ist zum Verzweifeln. Zweitausend Seiten Briefe - und doch kein Schlüsselwort zur Moderne?
Über Hunderte von Seiten irrt das Auge durch endlose Abrechnungen, in denen der Wert von Stoßzähnen, die in Aden aufgrund des italo-abessinischen Krieges gerade wieder gestiegen sind, mit dem Futter für Kamele, an dem Rimbaud sparte, aufgerechnet oder der Lohn eines Dolmetschers abgerechnet wird, der Arabisch in Amhrigna übersetzt, bevor Rimbaud eine arabisch-französische Ausgabe des Korans bestellt und selbst die Sprachen Omoro und Amhrigna lernte. Das kühle Kalkül des Kapitals lässt die Engelszunge des Dichters in Eis erstarren. Und am Horizont irrlichtert Rimbauds Enttäuschung, dass er nun keine Frau mehr finden wird, um sie zu heiraten und einen Sohn zu zeugen, den er zum Ingenieur ausbilden würde: "Heirat ade, Familie ade."
Einen wohl ungewollten Höhepunkt bilden die Gerichtsakten über einen Zwischenfall in Belgien. Gerade noch hatten Rimbaud und Verlaine - auf der Flucht vor Verlaines Frau und dem Gespött in Paris - in London ihre Dienste als Französischlehrer angeboten, um ihrerseits Englisch zu lernen, da nimmt Verlaine Reißaus. Selbst ihm, dem Dichter des Absinths, wird der Rausch von Rimbaud zu viel. Doch Rimbaud reist ihm nach, sendet verliebte Zeilen, in denen er beschwört: "Du kannst mich nicht vergessen. Ich trage dich noch immer in mir."
Das sollte man ganz wörtlich nehmen. Ganz sexuell: In Belgien kommt es zum Bruch, Verlaine schießt auf Rimbaud und wird verhaftet. In einer Passage, die Michel Foucaults Theorie über das Überwachen und Strafen genauso vorwegnimmt wie den Geständniszwang des Sex im Abendland, notiert der Gerichtsmediziner über Verlaine: "Der Penis ist kurz und von geringem Umfang - die Eichel vor allem ist klein und verjüngt sich in Richtung ihrer Spitze vom Eichelrand aus - dieser ist nicht sehr ausgeprägt und glatt."
Die Situationskomik ist, wie man sieht, zuweilen hoch. Und Tim Trzaskalik hat sich dafür entschieden, alles ins Deutsche zu übersetzen, dank neuer Funde mehr noch als in der französischen Edition der "Correspondance", und auch deren Anmerkungen um eigene Betrachtungen und den neusten Forschungsstand zu ergänzen, wobei namentlich seine eigenen Erläuterungen zu einzelnen Gedichten durch Wissen und Einfühlung bestechen.
Bei der Lektüre verfolgt man die Wirren all der kleinen und größeren Betrügereien des poetischen Prometheus. Bis das erschöpfte Auge, ein letztes Mal, doch noch hängenbleibt. Denn da, nach Marseille zurückgekehrt, den Holzstumpf verfluchend, mit dem er durch das Spital humpelt, bevor ihn der Krebs ganz zerfrisst, da lässt er im letzten Delirium doch noch den surrealen Abglanz seines verpfuschten Lebens aufgleißen - vielleicht ein Wink für eine ganz neue poésie concrète:
"Ein Posten 1 Zahn einzeln
Ein Posten 2 Zähne
Ein Posten 3 Zähne
Ein Posten 4 Zähne
Ein Posten 2 Zähne."
Es ist die elende moderne Antwort auf das Rätsel, das die Sphinx Ödipus stellte: Der Mensch geht zunächst auf allen vieren, dann auf zwei Beinen und zuletzt auf drei, eine Krücke in der Hand. Und so träumte Rimbaud davon, vielleicht doch noch einmal auf zwei Zähnen in die Fremde reisen zu können . . . Rimbauds letzte Sätze vom 9. November 1891 an den Direktor einer Schifffahrtslinie lauten ebenso lapidar wie rätselreich: "Ich bin völlig gelähmt. Daher wünsche ich, frühzeitig an Bord zu sein, sagen Sie mir, um wie viel Uhr ich an Bord gebracht werden soll."
1984 hat derselbe deutsche Verlag, Matthes & Seitz, Rimbaud ins Jetzt übersetzen lassen. Mit typographischen Spielereien im Stil von Arno Schmidt hatten Hans Therre und Rainer G. Schmidt den Funkenflug von Rimbauds Rebellion eingefangen, auch wenn sie in ihrem postpubertären Furor oft Fehler und Fehldeutungen begingen. Diesen Furor aber lässt die neue Übersetzung vermissen. Es gelingt ihr auch nicht, wie Paul Celan in seiner Version des "Trunkenen Schiffs" die lautlichen Verstrebungen ins Schweben zu bringen oder wie Stefan George aus Rimbaud - wenigstens - einen George zu machen.
Man kann eine Übersetzung immer leicht mit wenigen Fehlgriffen in Frage stellen, man könnte ihr wie Handkes Übertragung von Sophokles' "Ödipus in Kolonos" wegen der Verwendung von "dalli, dalli" den Prozess machen oder wegen Wendungen wie "Depp" und "deppert", "flippig" und "echt dufte". Man könnte auch monieren, dass "glisser" mit "eintüten" wiedergegeben wird. Da verendet Rimbaud in Prenzlauer Berg.
Doch diese Fragwürdigkeiten wiegen schöne Findungen wie "Erdriftungen" in der Version des Gedichts "Das trunkene Schiff" auf oder der Aufschrei rund um das Wort "encrapuler": "Ich werde ein Arbeiter sein / Jetzt arbeiten? Niemals, niemals, ich streike. Jetzt verabschaume ich mich soweit wie nur möglich."
Während die Briefe meist korrekt wiedergegeben werden, fällt die Prosaübersetzung von "Eine Zeit in der Hölle" bereits ab. Und ein Fragezeichen muss man leider hinter die Gedichte setzen. Dass die Reime fallengelassen werden, geschenkt. Schwerer wiegt, dass die freischwebenden französischen Konstruktionen zu Substantivmonstern verklumpen: Man humpelt durch Wortgeröll wie "Heliotropenklauer" und "Aquäduktgewimper". Dieses Klumpenrisiko überdeckt den Ehrgeiz von Tim Trzaskalik, Rimbauds Bruch mit den Gesetzen des Alexandriners auch für deutsche Ohren hörbar zu machen.
Das kühne Konstrukt der Edition aber besticht dadurch, dass unter dem tiefstapelnden Titel "Korrespondenz" nicht nur die Briefe übersetzt, sondern auch alle Hauptwerke zum Zeitpunkt ihres Erscheinens in die Korrespondenz eingebettet sind. Das führt zu wunderbar surrealen Korrespondenzen.
Die Briefe sind, so viel darf man zu sagen wagen, eine Art verstörender Stützstrumpf der Poesie. Er ist kaum je aus Seide, aber er erklärt die Krampfadern, die nach Rimbauds Tod die Poesie all jener durchziehen, die seinem Aufruf folgten: "Man muss absolut modern sein." Eine Aufgabe, an der Rimbaud zerbrach, auf heroische Weise.
STEFAN ZWEIFEL
Arthur Rimbaud: "Korrespondenz".
Aus dem Französischen und kommentiert von Tim Trzaskalik. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 3 Bände im Schuber, zus. 2288 S., geb. und br., 128,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Stefan Zweifel liest die dreibändige Ausgabe der Korrespondenz des großen Arthur Rimbaud mit Verstörung und einiger Ernüchterung. Rimbaud als lyrischer Heros wird für ihn aus den Briefen kaum sichtbar, eher ein bürokratischer Zahlenfuchs, der sich um sein Kapital sorgt. Erhellend das rätselhafte Leben des Dichters betreffend findet er die Briefe aber schon. Und die Sorgfalt bei der Kommentierung scheint ihm aller Ehre wert. Die Übersetzung der in die Briefedition mit eingebetteten Gedichte weniger. Hier fühlt sich der Rezensent nicht selten um den sprachlichen Furor des jungen Wilden gebracht und dafür mit "Substantivmonstern" und allerhand "Wortgeröll" abgespeist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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