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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.06.2003

Auf dem Weg
zum Doktor
Wenn ein Politiker Visionen hat
GEORG MILBRADT / THOMAS RIETZSCHEL: Kraft der Visionen, Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 2003. 240 Seiten, 16,50 Euro.
Wer den sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt mit wenigen Worten charakterisieren wollte, würde wohl Begriffe wie zupackend, nüchtern und vor allem pragmatisch wählen. Der Nachfolger von Kurt Biedenkopf ist für viele Menschen ein Inbegriff des scharfsinnigen, aber streng an der Sachlage orientierten Politikers, der dem Muster eines klassischen Helmut-Schmidt- Ausspruchs folgt: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!”
Nun soll Milbradt Visionen gehabt und diese einem Verlag anvertraut haben. In seinem Buch „Kraft der Visionen”, dessen Kapitel wolkige Titel wie „Freiheit und Verantwortung” oder „Die Bürgergesellschaft” tragen, hat der Journalist Thomas Rietzschel nach Gesprächen mit Milbradt dessen Ideen aufgeschrieben. Das Buch ist vom Verlag und dem Ministerpräsidenten mit großem Aufwand beworben worden. CDU-Chefin Angela Merkel hat es in Berlin vorgestellt, Helmut Kohl in Dresden.
Dass es dennoch kaum Resonanz erfährt, kann schlicht damit erklärt werden, dass in den zehn Kapiteln nichts Überraschendes steht. Nicht einmal über Milbradts Werdegang erfährt der Leser Neues. Schlimmer gar, das Buch geht nonchalant über Prozesse hinweg, die man genau betrachten müsste, um Milbradts Entwicklung zu verstehen – vor allem seinen schmerzlichen Konflikt mit Biedenkopf. Ehrfürchtig verbeugt sich Rietzschel ein ums andere Mal vor dem Politiker und zitiert ihn ohne kritische Reflektion über lange Passagen, in denen Milbradt Allgemeinplätze ablädt.
Zu diesem Umgang passen die putzigen Fotos mit ihren drolligen Unterschriften, die dem Werk beinahe hagiographische Züge geben. Da wird Biedenkopfs Gratulation an seinen Nachfolger – unzweifelhaft ein quälendes Schauspiel – zum „souveränen Handschlag” erklärt. Ein Milbradt-Foto mit seinem Generalsekretär Hermann Winkler erhält den Kommentar „Für die Zukunft verbunden”. Amüsanter Höhepunkt ist die Zeile unter einem Foto, das Kanzler Schröder und Milbradt während der Jahrhundertflut zeigt: „Der erschrockene Kanzler und ein Krisenmanager mit kühlem Kopf”. Man hätte Milbradt genug Distanz zugetraut, die Peinlichkeit zu erkennen.
JENS SCHNEIDER
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