Richard Kraft, Rhetorikprofessor in Tübingen, unglücklich verheiratet und finanziell gebeutelt, hat womöglich einen Ausweg aus seiner Misere gefunden. Sein alter Weggefährte István, Professor an der Stanford Uni versity, lädt ihn zur Teilnahme an einer wissenschaftlichen Preisfrage ins Silicon Valley ein. In Anlehnung an Leibniz' Antwort auf die Theodizeefrage soll Kraft in einem 18-minütigen Vortrag begründen, weshalb alles, was ist, gut ist und wir es dennoch verbessern können. Für die beste Antwort ist eine Million Dollar ausgelobt. Damit könnte Kraft sich von seiner anspruchsvollen Frau endlich freikaufen ...
Komisch, furios und böse erzählt Jonas Lüscher in diesem klugen Roman von einem Mann, der vor den Trümmern seines Lebens steht, und einer zu jedem Tabubruch bereiten Machtelite, die scheinbar nichts und niemand aufhalten kann.
Komisch, furios und böse erzählt Jonas Lüscher in diesem klugen Roman von einem Mann, der vor den Trümmern seines Lebens steht, und einer zu jedem Tabubruch bereiten Machtelite, die scheinbar nichts und niemand aufhalten kann.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.02.2017Gottesbeweis
nach Google
Jonas Lüschers fulminantes Romandebüt
„Kraft“ erzählt vom Clash
zwischen Old Europe und New Economy
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Disruptive Energie – seit dem Wahlsieg Donald Trumps ist es das Wort der Stunde. Auch Richard Kraft, Rhetorikprofessor und Titelheld von Jonas Lüschers erstem Roman, hat den Begriff nicht nur unzählige Male gehört und gelesen, sondern ihn vielmehr „theoretisch durchdrungen und ihm so, durch das nahtlose Einsetzen in sein Gedankengebäude, die scharfen Kanten gebrochen“. Das glaubte er zumindest.
Jetzt aber, im Arbuckle Dining Pavilion der Stanford Business School, klingt es für ihn wie eine Drohung, wenn die zwei jungen Start-up-Unternehmer, mit denen Kraft ins Gespräch kommt, sagen, es liege „a lot of disruptive energy“ in der Luft. Es geht um Selbstoptimierung durch ein Nahrungsmittelsubstitut namens Soylent, das den zeitraubenden Verzehr von „rotting ingredients“ ersetzt. Und einer der beiden hat eine Streaming-App entwickelt.
Zu Demonstrationszwecken zoomt er sich in die intime Unterhaltung zweier halbwüchsiger Mädchen aus Krafts Heimatstadt Tübingen hinein. An der Wand hängt ein Poster der Rapperin Nicki Minaj, auf dem sie ihr gewaltiges Hinterteil präsentiert. Birnenspalier, murmelt Kraft vor sich hin und lässt das Wort „wie ein beruhigendes Mantra in seinem Geist zirkulieren“. Schließlich ruft es Hölderlins Gedicht „Hälfte des Lebens“ in ihm wach, das mit den Worten „Mit gelben Birnen hänget …“ anhebt, und befördert Kraft aus dem vulgären Kalifornien der Bots, Boobs und Bootys, der künstlichen Körper und der künstlichen Intelligenz, zurück ins dichterisch verträumte Tübingen. Mit dem Stocherkahn der Imagination setzt er hinüber ans rettende Neckar-Ufer altehrwürdiger Bildung, vertraute Gefilde.
Denn es hat Kraft vom Hölderlinturm in einen ganz anderen Turm verschlagen, den Hoover Tower, markanter Blickfang auf dem Campus der Stanford University und Sitz eines neoliberalen Thinktanks. Hier bereitet Kraft seinen Vortrag vor, unter dem versteinernden Medusenblick seines einstigen Idols, des „Falken“ Donald Rumsfeld, berühmt-berüchtigt für sein Verdikt über das „alte Europa“. Das Porträt des ehemaligen US-Verteidigungsministers wacht an der Wand gegenüber seinem Platz. Der Dotcom-Milliardär Tobias Erkner, für den reale Figuren wie Mark Zuckerberg, Elon Musk, Peter Thiel oder Jeff Bezos Modell gestanden haben, hat einen Wettbewerb ausgeschrieben. „Warum alles, was ist, gut ist, und warum wir es dennoch verbessern können“, lautet in Anlehnung an Leibniz’ Essay zur Theodizee die Preisfrage. Ein säkularer Gottesbeweis in Zeiten der kapitalistischen Universalreligion soll erbracht werden, die Antwort des Silicon Valley auf die Weltlage.
Krafts Studienfreund Ivan hat ihm eine Einladung zugespielt. Es winkt das geradezu obszöne Preisgeld von einer Million Dollar. Kraft braucht das Geld, um sich freizukaufen, denn seine kaputte Ehe mit Heike ist „ein Klein-Klein aus Begehrlichkeiten, Eitelkeiten, Wichtigkeiten und gegenseitigem Aufrechnen von Verzicht und Leistung“. Das Verlangte sollte eigentlich eine leichte Übung sein für einen mit allen akademischen Wassern gewaschenen Meisterdenker wie ihn, Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Walter Jens. „Für die Anschlussfähigkeit ein roter Faden vom späten Heidegger, Nietzsche oder Schopenhauer, dann zur Abgrenzung ein paar Randmaschen aus der dichten Unterwolle Huntingtons, aus dem Querfaden heraus ein paar rechte Maschen eines obskuren, vermutlich zu Recht in Vergessenheit geratenen chilenischen Ökonomen aus der Chicagoer Schule, den er in den frühen Achtzigern gelesen und dank seines phänomenalen Gedächtnisses auch nach dreißig Jahren noch zitieren kann, eine halbe Nadellänge Finkielkraut für die Empörung, eine halbe Nadellänge Hölderlin fürs Gemüt, für die Authentizität ein paar Schläge aus einem eigenen, kürzlich im Merkur publizierten Aufsatz, und zur ironischen Imprägnierung, aber auch als vorsorglich offen gehaltener Fluchtweg, lässt er gerne noch ein paar Maschen Karl Kraus fallen.“
Doch, so sehr Kraft sich auch müht, die Nadeln klappern zu lassen, es gelingt ihm nicht, den nötigen Fortschrittsoptimismus zu mobilisieren. In ihm herrscht ein Vakuum, als habe die mexikanische Putzfrau mit ihrem vacuum cleaner in seinem Kopf gestaubsaugt. Und die Hoover Institution, in der Kraft sich befindet, ist selbst so etwas wie ein Gedankenstaubsauger, eine Blase, ein Vakuum. Dieses Vakuum, das seit dem Zusammenbruch des Ostblocks auch ein politisches ist, bildet eine Hohlform, in die Kraft seine privaten Reminiszenzen und Reflexionen hineingießt.
Als Student in den Achtzigerjahren hatten Kraft und sein ungarischer Freund István Pánzél, genannt Ivan, sich in der dandyhaften Pose junger Salon-Reaktionäre gefallen. Sie jubelten Ronald Reagan bei dessen Berlin-Besuch zu, fuhren nach Bonn, um die Bundestagsreden von Kohl, Geißler und Otto Graf Lambsdorff zu hören, neben Margaret Thatcher war er ihr politisches Vorbild. Sie standen „Seite an Seite in ihrem gemeinsamen Kampf für Freiheit und gegen den starken Staat, für atomare Abschreckung, niedrige Steuern, Eigenverantwortung, Investitionsanreize und Privatisierungen, aber sie erlegten sich eine strenge Arbeitsteilung auf.“
István spezialisiert sich auf sicherheitspolitische Fragen und macht sich einen Namen als Nuklearstratege. Er wird als Vorzeige-Dissident herumgereicht, dabei war er 1981 bloß vergessen worden bei einem Turnier der ungarischen Universitäts-Schachmannschaft im Westen.
Bei der Reagan-Demo am Nollendorfplatz dann hatte eine Friedensaktivistin Ivan mit dem Draht einer Gerbera fast das Auge ausgestochen. Als Kraft, der die Frauen in seinem Leben stets nur ins Bett bekommt, indem er sie so lange zuschwafelt, bis sie sich seiner erbarmen, ein Verhältnis mit ihr anfängt, kommt es zum Bruch zwischen den Freunden. Ivan macht Karriere als politisch einäugiger Zyklop, doch Kraft beginnt in der Tech-Community an seinen einstigen Idealen zu zweifeln. Hier, wo jene marktfromme Geisteshaltung, mit der er stets nur provokativ kokettierte, ihn wie eine Fratze anstarrt, bricht die Herkunft in ihm durch. Plötzlich lehnt sich alles in ihm auf: das alte Europa gegen die New Economy, Hermeneutik gegen Algorithmen, Humanismus gegen Engineering. Er fragt sich, eine Denkfigur von Isaiah Berlin aufgreifend, ob er ein Fuchs ist oder ein Igel, einer, der viele Dinge weiß oder nur eine einzige große Sache, ein starrer, aber effizienter Systemdenker oder ein flexibler Eklektiker und geschmeidiger Situationist. Und an welchem Punkt sich das eine womöglich in das andere verkehrt. In einer Szene führt Tobias Erkner ihn in ein Gourmet-Restaurant, wo eine High-End-Version des Allerweltsessens Macaroni and Cheese serviert wird, gastronomisches Banausentum in der Millionärsvariante. Und in einer anderen halluziniert Kraft das Strafgericht eines Tsunamis herbei, der das Silicon Valley begräbt. In der Realität geht nur er selbst unter. Bei einem Ausflug kentert er mit dem Ruderboot.
Dieser Richard Kraft ist die Karikatur des europäischen Intellektuellen, sein Versagen spiegelt den geistigen Bankrott einer Elite wider, die dem drohenden digitalen Totalitarismus nicht das Geringste entgegenzusetzen hat. Jonas Lüschers Buch vereint Campus-Roman, Gelehrtensatire und beinharte Kapitalismus-Kritik in sich. Die Souveränität und Leichtfüßigkeit, mit der Lüscher philosophische Exkurse und ein fein gewobenes Motivnetz auf nur knapp 240 Seiten zu einer luziden Gegenwartsparabel verdichtet, ist staunenswert. Schon sein Erstling „Frühling der Barbaren“ war 2014 ein echter Wurf. Die Novelle handelt von einer britischen Hochzeitsgesellschaft in einem tunesischen Luxus-Resort, die durch den Zusammenfall von Bankenkrise und arabischem Frühling buchstäblich in die Wüste geschickt wird. Aus dem Stand hatte der 1976 geborene, in München lebende Schweizer Lüscher eines der eindrücklichsten Bücher des Jahres vorgelegt.
Wie damals wählt Lüscher auch diesmal einen betont altmodisch-gediegenen, ironisch unterlegten Erzählton, der mal an W. G. Sebald, mal an Christian Kracht erinnert. Lüscher etabliert eine Chronistenstimme, für die Thomas Manns Serenus Zeitblom aus dem „Doktor Faustus“ Pate gestanden hat, schwankend zwischen „frommer Verehrung“ und „erschrockenem Zweifel“. Auch Umberto Eco hat sich in „Der Name der Rose“ diese Haltung angeeignet, „alles begreiflich zu machen durch einen, der nichts begreift“. Um den Roman zu schreiben, hat Lüscher seine Dissertation sausen lassen und die Stipendien, die ihn unter anderem zu Hans Ulrich Gumbrecht nach Stanford führten, auf denkbar beste Weise zweckentfremdet.
Die kühle Intellektualität dieses Autors ist ein schöner Fremdkörper in einer Zeit, in der Reflexionsprosa nicht allzu hoch im Kurs steht. So berechtigt es auch sein mag, Literatur zu einer Hilfskraft der Einfühlung zu machen, um der Diversität der Lebenswelten gerecht zu werden, so wohltuend ist der Laserblick eines Jonas Lüscher, der unsere Gegenwart mit einem eisigen Sengstrahl analysiert.
Jonas Lüscher: Kraft. Roman. Verlag C. H. Beck, München 2017. 237 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Der Kopf des Protagonisten
ist so leer, als habe die Putzfrau
darin gestaubsaugt
Im kalifornischen Restaurant
werden Macaroni and Cheese in
der Gourmet-Version serviert
Statt seiner Dissertation
hat Lüscher diesen Roman
geschrieben, gut so
Der Hoover Tower an
der Stanford University
(Bild oben) ist im Buch
des Autors Jonas Lüscher
(unten) ein durchaus
babylonisches Bauwerk.
Fotos: David Madison / Getty, oh
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
nach Google
Jonas Lüschers fulminantes Romandebüt
„Kraft“ erzählt vom Clash
zwischen Old Europe und New Economy
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Disruptive Energie – seit dem Wahlsieg Donald Trumps ist es das Wort der Stunde. Auch Richard Kraft, Rhetorikprofessor und Titelheld von Jonas Lüschers erstem Roman, hat den Begriff nicht nur unzählige Male gehört und gelesen, sondern ihn vielmehr „theoretisch durchdrungen und ihm so, durch das nahtlose Einsetzen in sein Gedankengebäude, die scharfen Kanten gebrochen“. Das glaubte er zumindest.
Jetzt aber, im Arbuckle Dining Pavilion der Stanford Business School, klingt es für ihn wie eine Drohung, wenn die zwei jungen Start-up-Unternehmer, mit denen Kraft ins Gespräch kommt, sagen, es liege „a lot of disruptive energy“ in der Luft. Es geht um Selbstoptimierung durch ein Nahrungsmittelsubstitut namens Soylent, das den zeitraubenden Verzehr von „rotting ingredients“ ersetzt. Und einer der beiden hat eine Streaming-App entwickelt.
Zu Demonstrationszwecken zoomt er sich in die intime Unterhaltung zweier halbwüchsiger Mädchen aus Krafts Heimatstadt Tübingen hinein. An der Wand hängt ein Poster der Rapperin Nicki Minaj, auf dem sie ihr gewaltiges Hinterteil präsentiert. Birnenspalier, murmelt Kraft vor sich hin und lässt das Wort „wie ein beruhigendes Mantra in seinem Geist zirkulieren“. Schließlich ruft es Hölderlins Gedicht „Hälfte des Lebens“ in ihm wach, das mit den Worten „Mit gelben Birnen hänget …“ anhebt, und befördert Kraft aus dem vulgären Kalifornien der Bots, Boobs und Bootys, der künstlichen Körper und der künstlichen Intelligenz, zurück ins dichterisch verträumte Tübingen. Mit dem Stocherkahn der Imagination setzt er hinüber ans rettende Neckar-Ufer altehrwürdiger Bildung, vertraute Gefilde.
Denn es hat Kraft vom Hölderlinturm in einen ganz anderen Turm verschlagen, den Hoover Tower, markanter Blickfang auf dem Campus der Stanford University und Sitz eines neoliberalen Thinktanks. Hier bereitet Kraft seinen Vortrag vor, unter dem versteinernden Medusenblick seines einstigen Idols, des „Falken“ Donald Rumsfeld, berühmt-berüchtigt für sein Verdikt über das „alte Europa“. Das Porträt des ehemaligen US-Verteidigungsministers wacht an der Wand gegenüber seinem Platz. Der Dotcom-Milliardär Tobias Erkner, für den reale Figuren wie Mark Zuckerberg, Elon Musk, Peter Thiel oder Jeff Bezos Modell gestanden haben, hat einen Wettbewerb ausgeschrieben. „Warum alles, was ist, gut ist, und warum wir es dennoch verbessern können“, lautet in Anlehnung an Leibniz’ Essay zur Theodizee die Preisfrage. Ein säkularer Gottesbeweis in Zeiten der kapitalistischen Universalreligion soll erbracht werden, die Antwort des Silicon Valley auf die Weltlage.
Krafts Studienfreund Ivan hat ihm eine Einladung zugespielt. Es winkt das geradezu obszöne Preisgeld von einer Million Dollar. Kraft braucht das Geld, um sich freizukaufen, denn seine kaputte Ehe mit Heike ist „ein Klein-Klein aus Begehrlichkeiten, Eitelkeiten, Wichtigkeiten und gegenseitigem Aufrechnen von Verzicht und Leistung“. Das Verlangte sollte eigentlich eine leichte Übung sein für einen mit allen akademischen Wassern gewaschenen Meisterdenker wie ihn, Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Walter Jens. „Für die Anschlussfähigkeit ein roter Faden vom späten Heidegger, Nietzsche oder Schopenhauer, dann zur Abgrenzung ein paar Randmaschen aus der dichten Unterwolle Huntingtons, aus dem Querfaden heraus ein paar rechte Maschen eines obskuren, vermutlich zu Recht in Vergessenheit geratenen chilenischen Ökonomen aus der Chicagoer Schule, den er in den frühen Achtzigern gelesen und dank seines phänomenalen Gedächtnisses auch nach dreißig Jahren noch zitieren kann, eine halbe Nadellänge Finkielkraut für die Empörung, eine halbe Nadellänge Hölderlin fürs Gemüt, für die Authentizität ein paar Schläge aus einem eigenen, kürzlich im Merkur publizierten Aufsatz, und zur ironischen Imprägnierung, aber auch als vorsorglich offen gehaltener Fluchtweg, lässt er gerne noch ein paar Maschen Karl Kraus fallen.“
Doch, so sehr Kraft sich auch müht, die Nadeln klappern zu lassen, es gelingt ihm nicht, den nötigen Fortschrittsoptimismus zu mobilisieren. In ihm herrscht ein Vakuum, als habe die mexikanische Putzfrau mit ihrem vacuum cleaner in seinem Kopf gestaubsaugt. Und die Hoover Institution, in der Kraft sich befindet, ist selbst so etwas wie ein Gedankenstaubsauger, eine Blase, ein Vakuum. Dieses Vakuum, das seit dem Zusammenbruch des Ostblocks auch ein politisches ist, bildet eine Hohlform, in die Kraft seine privaten Reminiszenzen und Reflexionen hineingießt.
Als Student in den Achtzigerjahren hatten Kraft und sein ungarischer Freund István Pánzél, genannt Ivan, sich in der dandyhaften Pose junger Salon-Reaktionäre gefallen. Sie jubelten Ronald Reagan bei dessen Berlin-Besuch zu, fuhren nach Bonn, um die Bundestagsreden von Kohl, Geißler und Otto Graf Lambsdorff zu hören, neben Margaret Thatcher war er ihr politisches Vorbild. Sie standen „Seite an Seite in ihrem gemeinsamen Kampf für Freiheit und gegen den starken Staat, für atomare Abschreckung, niedrige Steuern, Eigenverantwortung, Investitionsanreize und Privatisierungen, aber sie erlegten sich eine strenge Arbeitsteilung auf.“
István spezialisiert sich auf sicherheitspolitische Fragen und macht sich einen Namen als Nuklearstratege. Er wird als Vorzeige-Dissident herumgereicht, dabei war er 1981 bloß vergessen worden bei einem Turnier der ungarischen Universitäts-Schachmannschaft im Westen.
Bei der Reagan-Demo am Nollendorfplatz dann hatte eine Friedensaktivistin Ivan mit dem Draht einer Gerbera fast das Auge ausgestochen. Als Kraft, der die Frauen in seinem Leben stets nur ins Bett bekommt, indem er sie so lange zuschwafelt, bis sie sich seiner erbarmen, ein Verhältnis mit ihr anfängt, kommt es zum Bruch zwischen den Freunden. Ivan macht Karriere als politisch einäugiger Zyklop, doch Kraft beginnt in der Tech-Community an seinen einstigen Idealen zu zweifeln. Hier, wo jene marktfromme Geisteshaltung, mit der er stets nur provokativ kokettierte, ihn wie eine Fratze anstarrt, bricht die Herkunft in ihm durch. Plötzlich lehnt sich alles in ihm auf: das alte Europa gegen die New Economy, Hermeneutik gegen Algorithmen, Humanismus gegen Engineering. Er fragt sich, eine Denkfigur von Isaiah Berlin aufgreifend, ob er ein Fuchs ist oder ein Igel, einer, der viele Dinge weiß oder nur eine einzige große Sache, ein starrer, aber effizienter Systemdenker oder ein flexibler Eklektiker und geschmeidiger Situationist. Und an welchem Punkt sich das eine womöglich in das andere verkehrt. In einer Szene führt Tobias Erkner ihn in ein Gourmet-Restaurant, wo eine High-End-Version des Allerweltsessens Macaroni and Cheese serviert wird, gastronomisches Banausentum in der Millionärsvariante. Und in einer anderen halluziniert Kraft das Strafgericht eines Tsunamis herbei, der das Silicon Valley begräbt. In der Realität geht nur er selbst unter. Bei einem Ausflug kentert er mit dem Ruderboot.
Dieser Richard Kraft ist die Karikatur des europäischen Intellektuellen, sein Versagen spiegelt den geistigen Bankrott einer Elite wider, die dem drohenden digitalen Totalitarismus nicht das Geringste entgegenzusetzen hat. Jonas Lüschers Buch vereint Campus-Roman, Gelehrtensatire und beinharte Kapitalismus-Kritik in sich. Die Souveränität und Leichtfüßigkeit, mit der Lüscher philosophische Exkurse und ein fein gewobenes Motivnetz auf nur knapp 240 Seiten zu einer luziden Gegenwartsparabel verdichtet, ist staunenswert. Schon sein Erstling „Frühling der Barbaren“ war 2014 ein echter Wurf. Die Novelle handelt von einer britischen Hochzeitsgesellschaft in einem tunesischen Luxus-Resort, die durch den Zusammenfall von Bankenkrise und arabischem Frühling buchstäblich in die Wüste geschickt wird. Aus dem Stand hatte der 1976 geborene, in München lebende Schweizer Lüscher eines der eindrücklichsten Bücher des Jahres vorgelegt.
Wie damals wählt Lüscher auch diesmal einen betont altmodisch-gediegenen, ironisch unterlegten Erzählton, der mal an W. G. Sebald, mal an Christian Kracht erinnert. Lüscher etabliert eine Chronistenstimme, für die Thomas Manns Serenus Zeitblom aus dem „Doktor Faustus“ Pate gestanden hat, schwankend zwischen „frommer Verehrung“ und „erschrockenem Zweifel“. Auch Umberto Eco hat sich in „Der Name der Rose“ diese Haltung angeeignet, „alles begreiflich zu machen durch einen, der nichts begreift“. Um den Roman zu schreiben, hat Lüscher seine Dissertation sausen lassen und die Stipendien, die ihn unter anderem zu Hans Ulrich Gumbrecht nach Stanford führten, auf denkbar beste Weise zweckentfremdet.
Die kühle Intellektualität dieses Autors ist ein schöner Fremdkörper in einer Zeit, in der Reflexionsprosa nicht allzu hoch im Kurs steht. So berechtigt es auch sein mag, Literatur zu einer Hilfskraft der Einfühlung zu machen, um der Diversität der Lebenswelten gerecht zu werden, so wohltuend ist der Laserblick eines Jonas Lüscher, der unsere Gegenwart mit einem eisigen Sengstrahl analysiert.
Jonas Lüscher: Kraft. Roman. Verlag C. H. Beck, München 2017. 237 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Der Kopf des Protagonisten
ist so leer, als habe die Putzfrau
darin gestaubsaugt
Im kalifornischen Restaurant
werden Macaroni and Cheese in
der Gourmet-Version serviert
Statt seiner Dissertation
hat Lüscher diesen Roman
geschrieben, gut so
Der Hoover Tower an
der Stanford University
(Bild oben) ist im Buch
des Autors Jonas Lüscher
(unten) ein durchaus
babylonisches Bauwerk.
Fotos: David Madison / Getty, oh
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2017Kann die Literatur mehr als die Wissenschaft?
Der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher will mit seinem Roman "Kraft" genau das beweisen. Gelingt es ihm?
Dieser Roman ist ein Befreiungsschlag. Er ist das Resultat eines langen zähen Kampfes mit dem erkenntnistheoretischen Hegemonialanspruch der Wissenschaft. Das Eingeständnis einer Niederlage, durchaus auch ein Dokument des Scheiterns und doch gleichzeitig und vor allem ein geglückter Ausbruch aus den Gefängnismauern der Dogmatik, ein Triumph der freien Erzählung über die streng abgesicherten Tastversuche der kritischen Analyse.
Ursprünglich wollte Jonas Lüscher eine Dissertation schreiben über die Frage, wie sich mit Hilfe von Literatur komplexe soziale Probleme beschreiben lassen. Am Lehrstuhl für Philosophie bei Michael Hampe in Zürich hatte er ein Stipendium bekommen und an der Beweisführung seiner zentralen These gearbeitet: der literarische Blick auf die Welt ist der wissenschaftlichen Sichtweise überlegen. Drei Jahre lang forschte er, suchte nach Referenzen und Theorieansätzen, ging auf Tagungen, las die Schriften des Philosophen Odo Marquard und flog nach Stanford, um das Ganze mit dem dort lehrenden Hans Ulrich Gumbrecht zu besprechen. Aber statt an einem weiteren "Werkstattbericht" zu arbeiten, streifte er durch das Silicon Valley und besuchte ein Seminar über Hiob. Und langsam, sehr langsam begann er zu begreifen, dass kein Mensch und kein Theorie-Gott ihm bei der Untermauerung seiner These helfen würde, sondern er selbst den Beweis führen müsste, indem er praktisch das tat, was er theoretisch zu belegen suchte: Einen Roman schreiben, in dem die Komplexität der Welt besser eingefangen wird als in den tausend Fußnoten einer wissenschaftlichen Abhandlung. Das war der hochgelegene Ausgangspunkt von Lüschers Unternehmung. Die Luft war dabei von Anfang an dünn und der Aufstieg steil, deshalb gab er seinem Buch und Protagonisten einen autosuggestiven Namen: "Kraft".
Richard Kraft ist ein renommierter Rhetorikprofessor in Tübingen auf dem Lehrstuhl von Walter Jens. Seine Ehe ist unglücklich, aber sein Geld zu knapp, um eine weitere Scheidung zu finanzieren. Die Ausschreibung einer hochdotierten Preisfrage, die ihm Ivan - ein alter Studienfreund - weiterleitet, bietet da eine unerwartete Fluchtmöglichkeit. Aus Anlass des 307. Jahrestages eines Leibniz-Essays zur Theodizee stellt ein verrückter Silicon-Valley-Investor eine Million Dollar für denjenigen Forscher in Aussicht, der in einem achtzehnminütigen Kurzvortrag in Stanford am überzeugendsten auf die Frage antwortet: "Warum alles, was ist, gut ist und wir es trotzdem verbessern können?"
Kraft fliegt also nach Amerika, setzt sich im Lesesaal des Hoover Towers einem Rumsfeldporträt gegenüber und beginnt nach einer überzeugenden Argumentationsstrategie zu suchen, um das Übel der Welt schönzureden. Aber so sehr er sich auch um Konzentration bemüht, immer wieder drängen sich die Erinnerungen an sein eigenes Leben dazwischen, in dem bisher eigentlich nichts gutgegangen ist und das wie eine große, hämische Antithese über seiner geplanten Theoriebildung schwebt.
Weder im Politischen noch im Privaten haben nämlich Krafts Verbindungen gehalten: Die Hinwendung zum Thatcherismus, die er als arroganter Jungakademiker aus Distinktionsgier behauptet hatte, seine wirtschaftsliberale Überzeugung und Bewunderung für starke Männer hat sich mit der Zeit ebenso abgenutzt wie die Beziehungen zu den Frauen an seiner Seite. Auf die hat er meist so lange eingeschwafelt, bis sie Kinder mit ihm zeugten, die ihm dann allerdings schnell egal wurden. Ebenso wie seine Freundschaften.
Mit Ivan, bei dem Kraft jetzt in Stanford unterkommt, hatte er in den achtziger Jahren in einer West-Berliner Wohngemeinschaft gelebt. Als Provokationsduo waren sie in den Hörsälen der Freien Universität und auf der Zuschauertribüne des Bonner Parlaments aufgetreten, hatten Reagan zugejubelt und "Kommunistenweibern" den Kampf angesagt. Eine von ihnen hatte Ivan - der sich als ungarischer Dissident ausgab, in Wahrheit aber nur zufällig von seiner Schachmannschaft in einem Berliner Hotel vergessen worden war - im Juni 1982 mit einer Gerbera so heftig ins Gesicht geschlagen, dass sein halbes Augenlicht dran glauben musste. Ein misslicher Zwischenfall, der Kraft aber nicht davon abhielt, mit der temperamentvollen Kunststudentin ins Bett zu gehen. Loyalität war für ihn schon immer nur ein theoretischer Wert. Als am Abend des Mauerfalls sein bis dahin unbekannter sechsjähriger Sohn auftaucht und Ivan auf diese Weise vom Betrug erfährt, bleibt immer noch Zeit für einen geschichtsphilosophischen Grundsatz: "Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen, als finde dieses Jahrzehnt sein Ende nicht; aus der Vergangenheit drang eine Kraft in dieses Dreieck und wollte die Körper weit auseinandertreiben, aber es gab kein Entkommen."
Es ist ein Leben voller Flüchtigkeitsfehler, auf das Kraft ohne Rührung oder Reue zurückblickt. Mit einer Cola Light in der Hand und einer Polemik gegen Slavoj Zizek auf den Lippen lässt sich das Ganze bis auf weiteres ertragen. Erst ganz am Schluss verliert Kraft sein Selbstbewusstsein und stürzt in die Tiefe.
Eine der Besonderheiten dieses dramaturgisch so außergewöhnlich präzise gearbeiteten Buches ist die Erzählhaltung. Lüscher hat einen ganz eigenen Ton der distanzierten Nähe gefunden, der sich nicht plakativ an seine Figuren ranschmeißt und doch eine dichte Beschreibung von ihnen liefert. Obwohl auf jeder Seite von Kraft die Rede ist, erfährt man von seiner Persönlichkeit im Grunde recht wenig. Und was man erfährt - dass er ohne Vater aufwuchs, ein manischer Schwafler ist, einer der sich selbst gefallen möchte und dem seine Kinder und Frauen egal sind -, nimmt einen nicht gerade für ihn ein. Trotzdem ist man auf den letzten, sehr traurigen Seiten dann doch sein Verbündeter geworden und hat den Impuls, ihn gegen den Erzähler, der sich immer wieder gegen seine Hauptfigur wendet, sich über ihn mokiert und ihm Ratschläge "zurufen" möchte, in Schutz zu nehmen.
Gekonnt springt Lüscher auch zwischen den Schauplätzen hin und her, ohne dass man je den Anschluss verlöre. Eben noch ein David-Hasselhoff-Konzert auf der Berliner Mauer, jetzt ein Barbesuch im Financial District von San Francisco - die Orte und Zeiten wechseln rasant, aber der Ton bleibt immer gleich und zieht einen mit seiner unaufgeregten Hochgeschwindigkeit in den Erzählstrom hinein.
Und dann staunt man auch immer wieder über besonders gelungene Szenen: Etwa wenn Kraft, ein Skeptiker des digitalen Fortschritts ("Weder für das Verfassen der Odyssee noch von Eschenbachs Parzival oder gar Hölderlins Hyperion, so argumentiert Kraft gerne, habe es einen Computer gebraucht"), nach einem Kanubootunfall nackt, mit aufgeschlagenen Knien vor den funkelnden Türmen des Silicon Valleys steht und vom "Motor des Fortschritts" niedergerungen wird. Oder wie der junge Kraft im Bonner Plenarsaal nach dem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt den Söhnen von Helmut Kohl gegenübersitzt, die nicht klatschen, sondern nur leise und ungläubig den Kopf schütteln: "Kraft hatte die Befürchtung, die gesamte Familie Kohl habe dem Patriarchen im Augenblick seines größten Triumphes die charakterliche Eignung für das eben erreichte Amt abgesprochen." In Lüschers Buch geht es ständig zwischen bundesdeutscher Historienfiktion und amerikanischer Gegenwartsdystopie hin und her, laufen Ansätze eines Wenderomans in Anfänge einer Milleniumsfarce über. Zusammengehalten wird alles von einer lakonischen Melancholie über das Ende einer alten und den Beginn einer neuen Zeit.
"Kraft" ist aber auch und vor allem ein Buch über den Wissenschaftsbetrieb und seine absurden Ausformungen. Der vorauseilende Gehorsam einer statussüchtigen Forschergeneration, die immer gerade dahin forscht, wo sie das meiste Geld vermutet, wird darin ebenso aufs Korn genommen wie die Webtechnik persifliert, mit der hier schamlos Theorieversatzstücke zusammengewoben werden, als handele es sich bei Wissenschaft um einen Handarbeitskurs im regionalen Kulturzentrum: "Für die Anschlussfähigkeit ein roter Faden vom späten Heidegger, Nietzsche oder Schopenhauer, dann zur Abgrenzung ein paar Randmaschen aus der dichten Unterwolle Huntingtons, aus dem Querfaden heraus ein paar rechte Maschen eines obskuren, vermutlich zu Recht in Vergessenheit geratenen chilenischen Ökonomen aus der Chicagoer Schule, eine halbe Nadellänge Finkelkraut für die Empörung, eine halbe Nadellänge Hölderlin fürs Gemüt und zur ironischen Imprägnierung, aber auch als vorsorglich offen gehaltener Fluchtweg, ein paar Maschen Karl Kraus."
Lüscher ironisiert nicht leichtfertig, nicht überheblich. Dafür hat er sich zu intensiv mit dem beschäftigt, was er hier in seiner ganzen hoffnungslosen Verirrung vorführt. Er zeigt viel eher, wie sehr der Geisteswissenschaft ihr Ethos abhandengekommen ist, wie sie sich darauf verlässt, dass die Welt mit mathematischen Modellen angemessen beschrieben werden kann und sich so selbst all ihrer narrativen Kraft beraubt. Manche werden Lüscher vorhalten, dass sein Roman nur das persönliche Scheitern an den Anforderungen der Wissenschaft überspiele, dass er die Erzählung heroisiere, weil ihm für die kritische Theorie die Geduld nicht reichte. Sollen sie nur! Sollen sie weiter nach strategischen Erklärungen suchen, wo er schon dichte Beschreibungen gefunden hat. Bilder, Szenen, Dialoge, die viel wissen lassen von dem, worum es in der Welt geht.
Jonas Lüscher, der 2013 mit "Frühling der Barbaren", einer Novelle über den Irrsinn der Finanzkrise, erstmals Beachtung fand, hat für seinen ersten Roman den richtigen Titel gewählt: Kraft ist nicht nur der Name der Hauptfigur, sondern auch das Wesen seiner Erkenntnis: Die Kraft der Erzählung gegenüber der Schwäche von Wissenschaft, die hat er mit diesem Buch jedenfalls eindrücklich bewiesen.
SIMON STRAUSS
Jonas Lüscher: "Kraft". Roman. C. H. Beck, 237 Seiten, 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher will mit seinem Roman "Kraft" genau das beweisen. Gelingt es ihm?
Dieser Roman ist ein Befreiungsschlag. Er ist das Resultat eines langen zähen Kampfes mit dem erkenntnistheoretischen Hegemonialanspruch der Wissenschaft. Das Eingeständnis einer Niederlage, durchaus auch ein Dokument des Scheiterns und doch gleichzeitig und vor allem ein geglückter Ausbruch aus den Gefängnismauern der Dogmatik, ein Triumph der freien Erzählung über die streng abgesicherten Tastversuche der kritischen Analyse.
Ursprünglich wollte Jonas Lüscher eine Dissertation schreiben über die Frage, wie sich mit Hilfe von Literatur komplexe soziale Probleme beschreiben lassen. Am Lehrstuhl für Philosophie bei Michael Hampe in Zürich hatte er ein Stipendium bekommen und an der Beweisführung seiner zentralen These gearbeitet: der literarische Blick auf die Welt ist der wissenschaftlichen Sichtweise überlegen. Drei Jahre lang forschte er, suchte nach Referenzen und Theorieansätzen, ging auf Tagungen, las die Schriften des Philosophen Odo Marquard und flog nach Stanford, um das Ganze mit dem dort lehrenden Hans Ulrich Gumbrecht zu besprechen. Aber statt an einem weiteren "Werkstattbericht" zu arbeiten, streifte er durch das Silicon Valley und besuchte ein Seminar über Hiob. Und langsam, sehr langsam begann er zu begreifen, dass kein Mensch und kein Theorie-Gott ihm bei der Untermauerung seiner These helfen würde, sondern er selbst den Beweis führen müsste, indem er praktisch das tat, was er theoretisch zu belegen suchte: Einen Roman schreiben, in dem die Komplexität der Welt besser eingefangen wird als in den tausend Fußnoten einer wissenschaftlichen Abhandlung. Das war der hochgelegene Ausgangspunkt von Lüschers Unternehmung. Die Luft war dabei von Anfang an dünn und der Aufstieg steil, deshalb gab er seinem Buch und Protagonisten einen autosuggestiven Namen: "Kraft".
Richard Kraft ist ein renommierter Rhetorikprofessor in Tübingen auf dem Lehrstuhl von Walter Jens. Seine Ehe ist unglücklich, aber sein Geld zu knapp, um eine weitere Scheidung zu finanzieren. Die Ausschreibung einer hochdotierten Preisfrage, die ihm Ivan - ein alter Studienfreund - weiterleitet, bietet da eine unerwartete Fluchtmöglichkeit. Aus Anlass des 307. Jahrestages eines Leibniz-Essays zur Theodizee stellt ein verrückter Silicon-Valley-Investor eine Million Dollar für denjenigen Forscher in Aussicht, der in einem achtzehnminütigen Kurzvortrag in Stanford am überzeugendsten auf die Frage antwortet: "Warum alles, was ist, gut ist und wir es trotzdem verbessern können?"
Kraft fliegt also nach Amerika, setzt sich im Lesesaal des Hoover Towers einem Rumsfeldporträt gegenüber und beginnt nach einer überzeugenden Argumentationsstrategie zu suchen, um das Übel der Welt schönzureden. Aber so sehr er sich auch um Konzentration bemüht, immer wieder drängen sich die Erinnerungen an sein eigenes Leben dazwischen, in dem bisher eigentlich nichts gutgegangen ist und das wie eine große, hämische Antithese über seiner geplanten Theoriebildung schwebt.
Weder im Politischen noch im Privaten haben nämlich Krafts Verbindungen gehalten: Die Hinwendung zum Thatcherismus, die er als arroganter Jungakademiker aus Distinktionsgier behauptet hatte, seine wirtschaftsliberale Überzeugung und Bewunderung für starke Männer hat sich mit der Zeit ebenso abgenutzt wie die Beziehungen zu den Frauen an seiner Seite. Auf die hat er meist so lange eingeschwafelt, bis sie Kinder mit ihm zeugten, die ihm dann allerdings schnell egal wurden. Ebenso wie seine Freundschaften.
Mit Ivan, bei dem Kraft jetzt in Stanford unterkommt, hatte er in den achtziger Jahren in einer West-Berliner Wohngemeinschaft gelebt. Als Provokationsduo waren sie in den Hörsälen der Freien Universität und auf der Zuschauertribüne des Bonner Parlaments aufgetreten, hatten Reagan zugejubelt und "Kommunistenweibern" den Kampf angesagt. Eine von ihnen hatte Ivan - der sich als ungarischer Dissident ausgab, in Wahrheit aber nur zufällig von seiner Schachmannschaft in einem Berliner Hotel vergessen worden war - im Juni 1982 mit einer Gerbera so heftig ins Gesicht geschlagen, dass sein halbes Augenlicht dran glauben musste. Ein misslicher Zwischenfall, der Kraft aber nicht davon abhielt, mit der temperamentvollen Kunststudentin ins Bett zu gehen. Loyalität war für ihn schon immer nur ein theoretischer Wert. Als am Abend des Mauerfalls sein bis dahin unbekannter sechsjähriger Sohn auftaucht und Ivan auf diese Weise vom Betrug erfährt, bleibt immer noch Zeit für einen geschichtsphilosophischen Grundsatz: "Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen, als finde dieses Jahrzehnt sein Ende nicht; aus der Vergangenheit drang eine Kraft in dieses Dreieck und wollte die Körper weit auseinandertreiben, aber es gab kein Entkommen."
Es ist ein Leben voller Flüchtigkeitsfehler, auf das Kraft ohne Rührung oder Reue zurückblickt. Mit einer Cola Light in der Hand und einer Polemik gegen Slavoj Zizek auf den Lippen lässt sich das Ganze bis auf weiteres ertragen. Erst ganz am Schluss verliert Kraft sein Selbstbewusstsein und stürzt in die Tiefe.
Eine der Besonderheiten dieses dramaturgisch so außergewöhnlich präzise gearbeiteten Buches ist die Erzählhaltung. Lüscher hat einen ganz eigenen Ton der distanzierten Nähe gefunden, der sich nicht plakativ an seine Figuren ranschmeißt und doch eine dichte Beschreibung von ihnen liefert. Obwohl auf jeder Seite von Kraft die Rede ist, erfährt man von seiner Persönlichkeit im Grunde recht wenig. Und was man erfährt - dass er ohne Vater aufwuchs, ein manischer Schwafler ist, einer der sich selbst gefallen möchte und dem seine Kinder und Frauen egal sind -, nimmt einen nicht gerade für ihn ein. Trotzdem ist man auf den letzten, sehr traurigen Seiten dann doch sein Verbündeter geworden und hat den Impuls, ihn gegen den Erzähler, der sich immer wieder gegen seine Hauptfigur wendet, sich über ihn mokiert und ihm Ratschläge "zurufen" möchte, in Schutz zu nehmen.
Gekonnt springt Lüscher auch zwischen den Schauplätzen hin und her, ohne dass man je den Anschluss verlöre. Eben noch ein David-Hasselhoff-Konzert auf der Berliner Mauer, jetzt ein Barbesuch im Financial District von San Francisco - die Orte und Zeiten wechseln rasant, aber der Ton bleibt immer gleich und zieht einen mit seiner unaufgeregten Hochgeschwindigkeit in den Erzählstrom hinein.
Und dann staunt man auch immer wieder über besonders gelungene Szenen: Etwa wenn Kraft, ein Skeptiker des digitalen Fortschritts ("Weder für das Verfassen der Odyssee noch von Eschenbachs Parzival oder gar Hölderlins Hyperion, so argumentiert Kraft gerne, habe es einen Computer gebraucht"), nach einem Kanubootunfall nackt, mit aufgeschlagenen Knien vor den funkelnden Türmen des Silicon Valleys steht und vom "Motor des Fortschritts" niedergerungen wird. Oder wie der junge Kraft im Bonner Plenarsaal nach dem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt den Söhnen von Helmut Kohl gegenübersitzt, die nicht klatschen, sondern nur leise und ungläubig den Kopf schütteln: "Kraft hatte die Befürchtung, die gesamte Familie Kohl habe dem Patriarchen im Augenblick seines größten Triumphes die charakterliche Eignung für das eben erreichte Amt abgesprochen." In Lüschers Buch geht es ständig zwischen bundesdeutscher Historienfiktion und amerikanischer Gegenwartsdystopie hin und her, laufen Ansätze eines Wenderomans in Anfänge einer Milleniumsfarce über. Zusammengehalten wird alles von einer lakonischen Melancholie über das Ende einer alten und den Beginn einer neuen Zeit.
"Kraft" ist aber auch und vor allem ein Buch über den Wissenschaftsbetrieb und seine absurden Ausformungen. Der vorauseilende Gehorsam einer statussüchtigen Forschergeneration, die immer gerade dahin forscht, wo sie das meiste Geld vermutet, wird darin ebenso aufs Korn genommen wie die Webtechnik persifliert, mit der hier schamlos Theorieversatzstücke zusammengewoben werden, als handele es sich bei Wissenschaft um einen Handarbeitskurs im regionalen Kulturzentrum: "Für die Anschlussfähigkeit ein roter Faden vom späten Heidegger, Nietzsche oder Schopenhauer, dann zur Abgrenzung ein paar Randmaschen aus der dichten Unterwolle Huntingtons, aus dem Querfaden heraus ein paar rechte Maschen eines obskuren, vermutlich zu Recht in Vergessenheit geratenen chilenischen Ökonomen aus der Chicagoer Schule, eine halbe Nadellänge Finkelkraut für die Empörung, eine halbe Nadellänge Hölderlin fürs Gemüt und zur ironischen Imprägnierung, aber auch als vorsorglich offen gehaltener Fluchtweg, ein paar Maschen Karl Kraus."
Lüscher ironisiert nicht leichtfertig, nicht überheblich. Dafür hat er sich zu intensiv mit dem beschäftigt, was er hier in seiner ganzen hoffnungslosen Verirrung vorführt. Er zeigt viel eher, wie sehr der Geisteswissenschaft ihr Ethos abhandengekommen ist, wie sie sich darauf verlässt, dass die Welt mit mathematischen Modellen angemessen beschrieben werden kann und sich so selbst all ihrer narrativen Kraft beraubt. Manche werden Lüscher vorhalten, dass sein Roman nur das persönliche Scheitern an den Anforderungen der Wissenschaft überspiele, dass er die Erzählung heroisiere, weil ihm für die kritische Theorie die Geduld nicht reichte. Sollen sie nur! Sollen sie weiter nach strategischen Erklärungen suchen, wo er schon dichte Beschreibungen gefunden hat. Bilder, Szenen, Dialoge, die viel wissen lassen von dem, worum es in der Welt geht.
Jonas Lüscher, der 2013 mit "Frühling der Barbaren", einer Novelle über den Irrsinn der Finanzkrise, erstmals Beachtung fand, hat für seinen ersten Roman den richtigen Titel gewählt: Kraft ist nicht nur der Name der Hauptfigur, sondern auch das Wesen seiner Erkenntnis: Die Kraft der Erzählung gegenüber der Schwäche von Wissenschaft, die hat er mit diesem Buch jedenfalls eindrücklich bewiesen.
SIMON STRAUSS
Jonas Lüscher: "Kraft". Roman. C. H. Beck, 237 Seiten, 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Jonas Lüscher erzählt mit Furor, Sinn für Komik und düsterer Wucht (...) Er zeigt, wie eindringlich Literatur sein kann."
Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 24. September 2017
"Neben seiner Klugheit ist 'Kraft' auch noch ein überaus witziges Buch."
Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 23. September 2017
"Lüscher's sense of humour and willingness to poke fun at his characters combined with his skill as a writer make this novel that is both intellectually challenging and a pleasure to read."
New Books in German Nr. 41.1, 2017
"Das Buch der Stunde, das Buch zu unserer Zeit."
Dina Netz, Deutschlandfunk, 07. März 2017
"Ein großer Wurf mit philosophischen Exkursen und umwerfend komischen Szenen."
Karin Großmann, Sächsische Zeitung, 11. Februar 2017
"Eine kühl-heitere Gelehrtensatire mit Zeitgeistkritik."
Welt am Sonntag kompakt, 12. Februar 2017
"Jonas Lüschers fulminantes Romandebüt 'Kraft' erzählt vom Clash zwischen Old Europe und New Economy [...] Die kühle Intellektualität dieses Autors ist ein schöner Fremdkörper in einer Zeit, in der Reflexionsprosa nicht allzu hoch im Kurs steht."
Süddeutsche Zeitung, 04. Februar 2017
"Ein ironisch gebrochener intellektueller Diskurs und eine spannende, sinnliche Geschichte."
Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 4. Februar 2017 Platz 1 der SWR-Bestenliste Februar 2017
"Jonas Lüschers neuer Roman 'Kraft' gehört zum Besten, was die Schweizer Literatur seit Jahren zu bieten hat."
Peter Bruni, Basler Zeitung, 31. Januar 2017
"Eine Geschichte über einen Mann und eine Million Dollar, die einen gleich mit Haut und Haar ergreift und regelrecht hineinsaugt in die existentielle Bredouille unseres Helden."
Denis Scheck, Das Erste "druckfrisch", 29. Januar 2017
"Es ist die Mischung aus Pfeifenraucherjargon und vor fast nichts zurückschreckender Ironie, die 'Kraft' zu einem jener Bücher macht, nach dessen Lektüre man intuitiv nach Platz sucht im Regal, nicht nur für dieses, sondern auch für alle anderen, die von Lüscher noch kommen."
Sebastian Hammelehle, LiteraturSPIEGEL, 28. Januar 2017
"Bilder, Szenen, Dialoge, die viel wissen lassen von dem, worum es in der Welt geht."
Simon Strauss, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29. Januar 2017
"Ein aufregender, komischer und vor allem hoch politischer Roman (...) Ein Glücksfall."
Heide Soltau, NDR Kultur, 26. Januar 2017
"Lüscher erweist sich auch in diesem Roman als außergewöhnlich präziser Beobachter, der mehrschichtig ein Psychogramm mit der Zeitgeschichte und dem Zeitgeist verbindet."
Hansruedi Kugler, St. Galler Tagblatt, 26. Januar 2017
"Nach 'Frühling der Barbaren' hat man Großes von Jonas Lüschers erstem Roman erwartet. Er liefert es."
Martin Ebel, Der Bund, 27. Januar 2017
"Ein hochintelligenter Lesegenuss, der an vielen Stellen sogar saukomische Wendungen bereithält."
Holger Ehling, Buchkultur, Februar/März 2017
"Dieses Buch wird für Furore sorgen."
Anne-Sophie Scholl, Berner Zeitung, 22. Januar 2017
"Lüscher is a perceptive commentator on Silicon Valley's heady and hubristic ideological climate, with its smug boasts of 'disruption' and death-denying (or rather 'posthuman transtheotechnist') longings."
The New York Times, Rob Doyle
Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 24. September 2017
"Neben seiner Klugheit ist 'Kraft' auch noch ein überaus witziges Buch."
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"Lüscher's sense of humour and willingness to poke fun at his characters combined with his skill as a writer make this novel that is both intellectually challenging and a pleasure to read."
New Books in German Nr. 41.1, 2017
"Das Buch der Stunde, das Buch zu unserer Zeit."
Dina Netz, Deutschlandfunk, 07. März 2017
"Ein großer Wurf mit philosophischen Exkursen und umwerfend komischen Szenen."
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"Eine kühl-heitere Gelehrtensatire mit Zeitgeistkritik."
Welt am Sonntag kompakt, 12. Februar 2017
"Jonas Lüschers fulminantes Romandebüt 'Kraft' erzählt vom Clash zwischen Old Europe und New Economy [...] Die kühle Intellektualität dieses Autors ist ein schöner Fremdkörper in einer Zeit, in der Reflexionsprosa nicht allzu hoch im Kurs steht."
Süddeutsche Zeitung, 04. Februar 2017
"Ein ironisch gebrochener intellektueller Diskurs und eine spannende, sinnliche Geschichte."
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"Eine Geschichte über einen Mann und eine Million Dollar, die einen gleich mit Haut und Haar ergreift und regelrecht hineinsaugt in die existentielle Bredouille unseres Helden."
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"Es ist die Mischung aus Pfeifenraucherjargon und vor fast nichts zurückschreckender Ironie, die 'Kraft' zu einem jener Bücher macht, nach dessen Lektüre man intuitiv nach Platz sucht im Regal, nicht nur für dieses, sondern auch für alle anderen, die von Lüscher noch kommen."
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"Lüscher is a perceptive commentator on Silicon Valley's heady and hubristic ideological climate, with its smug boasts of 'disruption' and death-denying (or rather 'posthuman transtheotechnist') longings."
The New York Times, Rob Doyle