Mit Entschlusskraft und dem richtigen Anzug ist alles möglich - selbst als Vertreter für Eisenwaren (Marke Kramp!) in Chile Anfang der 80er Jahre. Und weil Kinderaugen auch Schraubenhändler herzen schmelzen lassen, nimmt der Vater kurzerhand seine siebenjährige Tochter auf Verkaufstour mit. Die Kleine genießt ihre »Parallelerziehung« auf der Straße, sahnt Lackschuhe und Zigaretten ab und verschweigt ihr Doppelleben dafür der Mutter, die aber ohnehin ganz andere Sorgen zu haben scheint. Da ist der nette Filmvorführer, der zugleich Fotograf und Geisterjäger ist, doch viel unterhaltsamer. Alles könnte für immer so weitergehen, wenn, ja wenn diese Geschichte nicht zu Chiles schlimmsten Zeitenspielte. So aber findet dieses VaterTochterRoadmovie à la Paper Moon ein jähes Ende - und damit auch eine Kindheit, die doch so munter glänzen sollte wie ein Fuchsschwanz der Marke Kramp.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Katharina Teutsch schwärmt von dieser "Preziose" von Roman, die der kleine Berliner Berenberg Verlag wieder einmal hervorgebracht hat. Nur an der Oberfläche handle es sich bei der Geschichte um einen Eisenwarenvertreter, der in den 80er Jahren seine siebenjährige Tochter mit auf seine Berufsreisen durch Chile nimmt, um eine heitere Vater-Tochter-Road-Novel; darunter geht es auch um die Gräuel der Diktatur Augusto Pinochets, wie Teutsch schnell merkt. Erzählt werde aber auch davon subtil, durch die berührend unbefangene und weise Kinderperspektive der Tochter (Ferreda hat bereits als Kinderbuchautorin "brilliert", erwähnt Teutsch), die aber mit "Erwachsenendummheit" kombiniert werde - eine Mischung, in der die Kritikerin sowohl Komik als auch Tragik findet. Eine äußerst einprägsame und dichte Darstellung einer traumatisierten Gesellschaft, so die begeisterte Kritikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Kinderweisheit, verheiratet mit Erwachsenblödheit
Unschuldig erzählt und existenziell fordernd: In María José Ferradas Debüt "Kramp" tingelt eine Tochter mit ihrem Vater durch Chiles Hinterland
Was befindet sich in dem Köfferchen, das die Chilenin María José Ferrada dem Eisenwaren-Vertreter D. in die Hand drückt? "Nägel, Fuchsschwänze, Hämmer, Türklinken und Türspione, alles von der Firma Kramp." Und weil alles von den Kramps ist, einem bis heute tätigen deutschen Unternehmen, das in den Achtzigerjahren auch in Chile guten Umsatz machte, heißt Ferradas Debütroman ebenfalls so: "Kramp".
Mit Kramp-Schrauben nimmt die Geschichte ihren Lauf: Ein gewisser D. beginnt am Tag der Mondlandung sein abenteuerliches Vertreterleben und notiert auf einer Papierserviette: "In jedem Leben kommt es irgendwann zur Mondlandung." Schon eine Woche später verkauft er "ein halbes Dutzend Fuchsschwänze und ein ganzes Dutzend Türspione". Es sind die Anfänge einer Existenzform, von der das Töchterchen M. - die rührend ungerührte siebenjährige Ich-Erzählerin - bald selbst ausgiebig kosten wird. Ihr Papa nimmt sie nämlich mit auf seine Tourneen durch das chilenische Hinterland und lässt ihr dadurch eine vor der Mutter verborgen gehaltene "Parallelerziehung" auf der Straße angedeihen. "Meine Mutter", heißt es einmal, "war zwar so gut wie nie wirklich anwesend, ausnutzen durften wir das aber trotzdem nicht."
In den Dörfern um Santiago kennen D. und M. schnell jeden Eisenwarenladenbesitzer mit persönlicher Lebensgeschichte und erzielen als gewieftes Vertreter-Duo gute Umsätze. Gemeinsam können Vater und Tochter ihre Auftritte, sollte das nötig werden, auch besser theatralisieren: "Richtete der Verkäufer seinen Blick auf meine Pupillen, fand er dort nicht mich, sondern alle nur denkbaren Formen der Zerbrechlichkeit vor - den Hunger der Welt, die wunderschönen Schneemänner, die sich allen Anstrengungen zum Trotz zuletzt unweigerlich wieder in Wasser auflösten, oder die Hündin Laika, die sich in der endlosen Nacht des Weltraums unaufhörlich um sich selbst drehte."
Für den Leser beginnt mit dem Parallel-Erziehungsprojekt des D. ein ebenso komisches wie existenziell forderndes Roadmovie. Darin geht es viel um Schrauben, Türspione und Fuchsschwänze. Aber eben auch um nicht sofort konkretisierbare immaterielle Dinge, die dem der Kramp-Stabilität des Romans etwas Instabiles geben.
Vorgetragen wird die Geschichte in einem unschuldigen Cortázar-Ton. Also einem, der Kinderweisheit ungerührt mit Erwachsenblödheit verheiratet und somit einprägsame Realitäten schafft: "Als ich Jahre später meinen Freunden hiervon erzählte, bemühte ich mich, klarzustellen, dass D. keineswegs 'gewissenlos' gehandelt habe - wie meine Großmutter mütterlicherseits es ausdrückte -, im Gegenteil, er war ein Pionier der systemischen Pädagogik." Das Resultat ist immer komisch. Nur, dass dieser Komik von Anfang an auch eine unterschwellige Tragik eingeschrieben ist.
Eines Tages trifft D. einen gewissen E., der leidenschaftlicher Filmvorführer ist und ein Fotograf, der auf Geisterjagd geht mit seiner Kamera. Im letzten Drittel des Buchs wird von einer merkwürdigen Begebenheit berichtet, bei der E. in einem Dorf nach verscharrten Toten buddelt, um deren Knochen zu fotografieren. Es fallen Schüsse, D. und E. werden verhaftet und wohl gefoltert. M. übernachtet auf dem Dorfplatz unter einem Maulbeerenbaum, wo man sie am nächsten Morgen mit Unterkühlungen findet und mit Hilfe von Alkohol aus dem Dorfladen wieder zu Bewusstsein bringt.
Langsam dämmert einem, dass es in diesem vordergründig heiteren Vater-Tochter-Roman, auch noch um ganz andere Dinge geht. Dass die Autorin unter der Abenteuergeschichte eigentlich noch eine Gespenstergeschichte miterzählt, deren Wurzeln in der chilenischen Diktatur unter Augusto Pinochet mit ihren Tausenden von Regimeopfern zu suchen sind. Und tatsächlich hat auch M.'s Mutter einen schmerzlichen Verlust zu verarbeiten. Das Verschwinden ihrer großen ersten Liebe.
Als eines Tages E. zu D. nach Hause kommt und die beiden Männer sich über den Zweiten Weltkrieg unterhalten, hat M. eine "Offenbarung". Ihre erste, wie sie berichtet: "Beim Blick auf den Teller mit Spargelsuppe vor mir nahm ich wahr, dass der aufsteigende Dampf sich in ein etwa daumengroßes Gespenst verwandelte. Diesem gesellte sich ein zweites und ein drittes und schließlich noch ein viertes Gespenst hinzu. Der Gespensterzug erhob sich aus der Suppe, bewegte sich über dem Tisch in der Luft und versuchte, Verbindung zum Diesseits aufzunehmen. Was ihm allerdings nicht gelang. Die armen Gespenster. Als ich aus meiner Trance erwachte und von meiner seltsamen Vision berichtete, brach meine Mutter in Tränen aus, woraufhin E. sagte, es sei Zeit zu gehen."
María José Ferrada, die schon als Kinderbuchautorin brilliert hat, präsentiert in ihrem Erstling auf denkbar unverstellte Weise eine traumatisierte Gesellschaft, in deren Obhut die Autorin selbst aufgewachsen ist: als kindliche Verkäuferin eines Produktportfolios, von dem D. immer wieder sagt, wer sein Haus zu achtzig Prozent aus Kramp-Kleinteilen errichte, der sei sicher vor Zerstörung. Gleiches kann man von den tollkühnen Helden und Heldinnen dieses kleinen Romans nicht behaupten. Er enthält auf knapp hundertdreißig Seiten all das, woraus andere 1300 machen würden. Liebe und Abenteuer, Trauma und Selbsterhaltung, nicht Anklage, sondern Akzeptanz.
Wieder mal hat der kleine Berenberg Verlag aus Berlin, der mit Christine Wunnicke schon die Raabe-Preisträgerin aus dem Jahr 2020 im Programm hatte, eine literarische Preziose veröffentlicht. "Kramp", mit feinem Humor übersetzt von Peter Kultzen, ist ein Buch der tausend Wahrheiten. Diese könnte man auch auf die unvoreingenommene Seele dieser erstaunlichen Ich-Erzählerin anwenden: "In den Dorfläden herrschte keine Unordnung, sondern eine dynamische Ordnung. Man brauchte kein Genie zu sein, um ihren wahren Charakter zu erfassen - Dorfläden waren protoanarchistische Systeme." KATHARINA TEUTSCH
María José Ferrada: "Kramp". Roman.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg Verlag, Berlin 2021. 128 S., geb., 22,- Euro.
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Unschuldig erzählt und existenziell fordernd: In María José Ferradas Debüt "Kramp" tingelt eine Tochter mit ihrem Vater durch Chiles Hinterland
Was befindet sich in dem Köfferchen, das die Chilenin María José Ferrada dem Eisenwaren-Vertreter D. in die Hand drückt? "Nägel, Fuchsschwänze, Hämmer, Türklinken und Türspione, alles von der Firma Kramp." Und weil alles von den Kramps ist, einem bis heute tätigen deutschen Unternehmen, das in den Achtzigerjahren auch in Chile guten Umsatz machte, heißt Ferradas Debütroman ebenfalls so: "Kramp".
Mit Kramp-Schrauben nimmt die Geschichte ihren Lauf: Ein gewisser D. beginnt am Tag der Mondlandung sein abenteuerliches Vertreterleben und notiert auf einer Papierserviette: "In jedem Leben kommt es irgendwann zur Mondlandung." Schon eine Woche später verkauft er "ein halbes Dutzend Fuchsschwänze und ein ganzes Dutzend Türspione". Es sind die Anfänge einer Existenzform, von der das Töchterchen M. - die rührend ungerührte siebenjährige Ich-Erzählerin - bald selbst ausgiebig kosten wird. Ihr Papa nimmt sie nämlich mit auf seine Tourneen durch das chilenische Hinterland und lässt ihr dadurch eine vor der Mutter verborgen gehaltene "Parallelerziehung" auf der Straße angedeihen. "Meine Mutter", heißt es einmal, "war zwar so gut wie nie wirklich anwesend, ausnutzen durften wir das aber trotzdem nicht."
In den Dörfern um Santiago kennen D. und M. schnell jeden Eisenwarenladenbesitzer mit persönlicher Lebensgeschichte und erzielen als gewieftes Vertreter-Duo gute Umsätze. Gemeinsam können Vater und Tochter ihre Auftritte, sollte das nötig werden, auch besser theatralisieren: "Richtete der Verkäufer seinen Blick auf meine Pupillen, fand er dort nicht mich, sondern alle nur denkbaren Formen der Zerbrechlichkeit vor - den Hunger der Welt, die wunderschönen Schneemänner, die sich allen Anstrengungen zum Trotz zuletzt unweigerlich wieder in Wasser auflösten, oder die Hündin Laika, die sich in der endlosen Nacht des Weltraums unaufhörlich um sich selbst drehte."
Für den Leser beginnt mit dem Parallel-Erziehungsprojekt des D. ein ebenso komisches wie existenziell forderndes Roadmovie. Darin geht es viel um Schrauben, Türspione und Fuchsschwänze. Aber eben auch um nicht sofort konkretisierbare immaterielle Dinge, die dem der Kramp-Stabilität des Romans etwas Instabiles geben.
Vorgetragen wird die Geschichte in einem unschuldigen Cortázar-Ton. Also einem, der Kinderweisheit ungerührt mit Erwachsenblödheit verheiratet und somit einprägsame Realitäten schafft: "Als ich Jahre später meinen Freunden hiervon erzählte, bemühte ich mich, klarzustellen, dass D. keineswegs 'gewissenlos' gehandelt habe - wie meine Großmutter mütterlicherseits es ausdrückte -, im Gegenteil, er war ein Pionier der systemischen Pädagogik." Das Resultat ist immer komisch. Nur, dass dieser Komik von Anfang an auch eine unterschwellige Tragik eingeschrieben ist.
Eines Tages trifft D. einen gewissen E., der leidenschaftlicher Filmvorführer ist und ein Fotograf, der auf Geisterjagd geht mit seiner Kamera. Im letzten Drittel des Buchs wird von einer merkwürdigen Begebenheit berichtet, bei der E. in einem Dorf nach verscharrten Toten buddelt, um deren Knochen zu fotografieren. Es fallen Schüsse, D. und E. werden verhaftet und wohl gefoltert. M. übernachtet auf dem Dorfplatz unter einem Maulbeerenbaum, wo man sie am nächsten Morgen mit Unterkühlungen findet und mit Hilfe von Alkohol aus dem Dorfladen wieder zu Bewusstsein bringt.
Langsam dämmert einem, dass es in diesem vordergründig heiteren Vater-Tochter-Roman, auch noch um ganz andere Dinge geht. Dass die Autorin unter der Abenteuergeschichte eigentlich noch eine Gespenstergeschichte miterzählt, deren Wurzeln in der chilenischen Diktatur unter Augusto Pinochet mit ihren Tausenden von Regimeopfern zu suchen sind. Und tatsächlich hat auch M.'s Mutter einen schmerzlichen Verlust zu verarbeiten. Das Verschwinden ihrer großen ersten Liebe.
Als eines Tages E. zu D. nach Hause kommt und die beiden Männer sich über den Zweiten Weltkrieg unterhalten, hat M. eine "Offenbarung". Ihre erste, wie sie berichtet: "Beim Blick auf den Teller mit Spargelsuppe vor mir nahm ich wahr, dass der aufsteigende Dampf sich in ein etwa daumengroßes Gespenst verwandelte. Diesem gesellte sich ein zweites und ein drittes und schließlich noch ein viertes Gespenst hinzu. Der Gespensterzug erhob sich aus der Suppe, bewegte sich über dem Tisch in der Luft und versuchte, Verbindung zum Diesseits aufzunehmen. Was ihm allerdings nicht gelang. Die armen Gespenster. Als ich aus meiner Trance erwachte und von meiner seltsamen Vision berichtete, brach meine Mutter in Tränen aus, woraufhin E. sagte, es sei Zeit zu gehen."
María José Ferrada, die schon als Kinderbuchautorin brilliert hat, präsentiert in ihrem Erstling auf denkbar unverstellte Weise eine traumatisierte Gesellschaft, in deren Obhut die Autorin selbst aufgewachsen ist: als kindliche Verkäuferin eines Produktportfolios, von dem D. immer wieder sagt, wer sein Haus zu achtzig Prozent aus Kramp-Kleinteilen errichte, der sei sicher vor Zerstörung. Gleiches kann man von den tollkühnen Helden und Heldinnen dieses kleinen Romans nicht behaupten. Er enthält auf knapp hundertdreißig Seiten all das, woraus andere 1300 machen würden. Liebe und Abenteuer, Trauma und Selbsterhaltung, nicht Anklage, sondern Akzeptanz.
Wieder mal hat der kleine Berenberg Verlag aus Berlin, der mit Christine Wunnicke schon die Raabe-Preisträgerin aus dem Jahr 2020 im Programm hatte, eine literarische Preziose veröffentlicht. "Kramp", mit feinem Humor übersetzt von Peter Kultzen, ist ein Buch der tausend Wahrheiten. Diese könnte man auch auf die unvoreingenommene Seele dieser erstaunlichen Ich-Erzählerin anwenden: "In den Dorfläden herrschte keine Unordnung, sondern eine dynamische Ordnung. Man brauchte kein Genie zu sein, um ihren wahren Charakter zu erfassen - Dorfläden waren protoanarchistische Systeme." KATHARINA TEUTSCH
María José Ferrada: "Kramp". Roman.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg Verlag, Berlin 2021. 128 S., geb., 22,- Euro.
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