Sind unsere Krankenkassen wirklich pleite? Können wir es uns bald nicht mehr leisten, krank zu werden? Daß unser Gesundheitssystem keine Wohltätigkeitsveranstaltung ist, sondern ein mächtiger Wirtschaftszweig, haben wir längst begriffen. Aber wer profitiert hier eigentlich? Und warum zahlen wir als Versicherte immer mehr drauf? Hartmut Reiners, einer der erfahrensten Gesundheitsökonomen, eilt dem verwirrten Patienten nun zu Hilfe und entlarvt in dieser kritischen Einführung Schritt für Schritt die Mythen unseres Gesundheitssystems. Am Ende werden Sie endlich verstehen, worüber sich die Spezialisten des Gesundheitswesens bei Anne Will, Maybrit Illner oder Frank Plasberg eigentlich streiten. Was in unserem Gesundheitssystem schiefläuft und wie es wirklich reformiert werden könnte, zeigt einer der führenden Gesundheitsökonomen Deutschlands.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2011Mühselige Weiterentwicklung
Hartmut Reiners analysiert das deutsche Gesundheitssystem
Wenige Handlungsbereiche des deutschen Sozialstaats werden derart kontrovers diskutiert wie Fragen der Gesundheitspolitik. Zwar gibt es einen gewissen Konsens darüber, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft das Notwendige an medizinischer Versorgung und Prävention verfügbar sein sollte. Bei der Frage jedoch, wie das medizinisch Notwendige definiert werden sollte, über welche Verfahren es garantiert und finanziert werden sollte, gehen die Meinungen stark auseinander.
Gleichzeitig hat sich der Gesundheitsbereich zu einer Wachstumsbranche par excellence mit heute annähernd 5 Millionen Beschäftigten und einem Anteil von fast 11 Prozent am Bruttoinlandsprodukt gemausert. Gesundheitsberufe gehören in den modernen Ökonomien zu den am schnellsten wachsenden Kategorien. Diese wirtschaftliche Stärke hat auch dazu beigetragen, dass die verschiedenen Leistungserbringer (Ärzte, Pharma, Krankenhäuser) recht wirksame Mechanismen der Interessenvertretung entwickelt haben, an denen relevante politische Entscheider schwer vorbeikommen (Norbert Blüm: "Haifischbecken").
Der in der Reihe "medizinHuman" des renommierten Frankfurter Arztes und Publizisten Bernd Hontschik vorgelegte Band erläutert zunächst die ordnungspolitischen Besonderheiten des deutschen Gesundheitswesens, darunter die eigentümliche Kombination von Privatbereich und gesetzlicher Krankenversicherung (GKV), der Kassenwettbewerb sowie die Vertragsbeziehungen zu den Leistungserbringern.
Das zweite Kapitel geht den Ursachen für den Auftrieb der Kassenbeiträge nach und nimmt Wirkungen von Demographie und medizinischem Fortschritt in den Blick. Kapitel drei untersucht die Honorierung von Ärzten und Krankenhäusern sowie die Arzneipreisbildung. Kapitel vier beschäftigt sich mit der Finanzierung der GKV über lohnbezogene Beiträge und präsentiert in diesem Rahmen eine Philippika gegen die Ansätze des früheren Gesundheitsministers Philipp Rösler zur Durchsetzung einer Kopfpauschale. Das letzte Kapitel präsentiert Alternativen einer weiteren Reform.
Die Stärke des Bandes liegt darin, dass hier ein intimer Kenner des Systems (Reiners war lange Jahre Referatsleiter für Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik im brandenburgischen Sozialministerium) dem oft durch öffentliche Debatten verwirrten Bürger zu einem besseren Verständnis des Systems verhilft. Ausgesprochen nützlich ist auch, dass Reiners zur Relativierung von gelegentlich dramatisierenden Behauptungen über die Lage des Systems wie Unterversorgung und Ärztemangel oder Kostenexplosion beiträgt. Er schießt allerdings in seiner Abwehrbereitschaft gelegentlich über das Ziel hinaus.
Dies wird besonders dort deutlich, wo er sich mit den zu erwartenden Rückwirkungen der demographischen Entwicklungen auf Gesundheit und Pflege auseinandersetzt und diese mit Verweis auf die Unsicherheiten der Prognose und die größere Bedeutung der Effekte sozialer Ungleichheit allzu sehr relativiert. Bei der Behandlung der Alternativen werden Reiners Sympathien für eine universelle Versorgungslösung deutlich, wie sie die Niederlande und Dänemark kennen, aber letztlich vertraut der erfahrene Kenner der gesundheitspolitischen Praxis doch eher auf die Mühsal der schrittweisen Weiterentwicklung des deutschen Systems. Der Band ist eine empfehlenswerte Lektüre für den interessierten Bürger, aber auch für Ärzte und Patienten.
DIETHER DÖRING.
Der Verfasser ist Professor für Sozialpolitik in Frankfurt.
Hartmut Reiners: Krank und pleite? Das deutsche Gesundheitssystem.
Verlag Suhrkamp, Berlin 2011, 223 Seiten, 8,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hartmut Reiners analysiert das deutsche Gesundheitssystem
Wenige Handlungsbereiche des deutschen Sozialstaats werden derart kontrovers diskutiert wie Fragen der Gesundheitspolitik. Zwar gibt es einen gewissen Konsens darüber, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft das Notwendige an medizinischer Versorgung und Prävention verfügbar sein sollte. Bei der Frage jedoch, wie das medizinisch Notwendige definiert werden sollte, über welche Verfahren es garantiert und finanziert werden sollte, gehen die Meinungen stark auseinander.
Gleichzeitig hat sich der Gesundheitsbereich zu einer Wachstumsbranche par excellence mit heute annähernd 5 Millionen Beschäftigten und einem Anteil von fast 11 Prozent am Bruttoinlandsprodukt gemausert. Gesundheitsberufe gehören in den modernen Ökonomien zu den am schnellsten wachsenden Kategorien. Diese wirtschaftliche Stärke hat auch dazu beigetragen, dass die verschiedenen Leistungserbringer (Ärzte, Pharma, Krankenhäuser) recht wirksame Mechanismen der Interessenvertretung entwickelt haben, an denen relevante politische Entscheider schwer vorbeikommen (Norbert Blüm: "Haifischbecken").
Der in der Reihe "medizinHuman" des renommierten Frankfurter Arztes und Publizisten Bernd Hontschik vorgelegte Band erläutert zunächst die ordnungspolitischen Besonderheiten des deutschen Gesundheitswesens, darunter die eigentümliche Kombination von Privatbereich und gesetzlicher Krankenversicherung (GKV), der Kassenwettbewerb sowie die Vertragsbeziehungen zu den Leistungserbringern.
Das zweite Kapitel geht den Ursachen für den Auftrieb der Kassenbeiträge nach und nimmt Wirkungen von Demographie und medizinischem Fortschritt in den Blick. Kapitel drei untersucht die Honorierung von Ärzten und Krankenhäusern sowie die Arzneipreisbildung. Kapitel vier beschäftigt sich mit der Finanzierung der GKV über lohnbezogene Beiträge und präsentiert in diesem Rahmen eine Philippika gegen die Ansätze des früheren Gesundheitsministers Philipp Rösler zur Durchsetzung einer Kopfpauschale. Das letzte Kapitel präsentiert Alternativen einer weiteren Reform.
Die Stärke des Bandes liegt darin, dass hier ein intimer Kenner des Systems (Reiners war lange Jahre Referatsleiter für Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik im brandenburgischen Sozialministerium) dem oft durch öffentliche Debatten verwirrten Bürger zu einem besseren Verständnis des Systems verhilft. Ausgesprochen nützlich ist auch, dass Reiners zur Relativierung von gelegentlich dramatisierenden Behauptungen über die Lage des Systems wie Unterversorgung und Ärztemangel oder Kostenexplosion beiträgt. Er schießt allerdings in seiner Abwehrbereitschaft gelegentlich über das Ziel hinaus.
Dies wird besonders dort deutlich, wo er sich mit den zu erwartenden Rückwirkungen der demographischen Entwicklungen auf Gesundheit und Pflege auseinandersetzt und diese mit Verweis auf die Unsicherheiten der Prognose und die größere Bedeutung der Effekte sozialer Ungleichheit allzu sehr relativiert. Bei der Behandlung der Alternativen werden Reiners Sympathien für eine universelle Versorgungslösung deutlich, wie sie die Niederlande und Dänemark kennen, aber letztlich vertraut der erfahrene Kenner der gesundheitspolitischen Praxis doch eher auf die Mühsal der schrittweisen Weiterentwicklung des deutschen Systems. Der Band ist eine empfehlenswerte Lektüre für den interessierten Bürger, aber auch für Ärzte und Patienten.
DIETHER DÖRING.
Der Verfasser ist Professor für Sozialpolitik in Frankfurt.
Hartmut Reiners: Krank und pleite? Das deutsche Gesundheitssystem.
Verlag Suhrkamp, Berlin 2011, 223 Seiten, 8,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Interessierten Bürgern, Ärzten und Patienten empfiehlt Dieter Döring diesen Band des Frankfurter Arztes, früheren Referatsleiters im brandenburgischen Sozialministerium und Publizisten Hartmut Reiners. Aufklärung über den Zustand des deutschen Sozialstaats bekommt Döring mit diesem Band frei Haus. Aufschlussreich findet er die von Reiners gesammelten Informationen zu steigenden Kassensätzen, Arzthonoraren und Arzneimittelpreisen sowie zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Kritik an Röslers Kopfpauschale und das Eintreten für eine universelle Versorgungslösung nimmt er dem Autor ab, nicht zuletzt weil er in ihm einen intimen Kenner des Systems erkennt, der, wie Döring erklärt, bei seiner nüchternen Betrachtung der Verhältnisse nur manchmal allzu sehr beschwichtigt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die Stärke des Bandes liegt darin, dass hier ein intimer Kenner des Systems ... dem ... Bürger zu einem besseren Verständnis des Systems verhilft.« Diether Döring Frankfurter Allgemeine Zeitung 20110808