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Das Leben im Sertao im brasilianischen Hinterland ist hart, die Menschen arm und der Tradition verhaftet. Innerhalb weniger Jahre hatten sich dort seit 1893 etwa 20000 Menschen um den volkstümlichen und charismatischen Wanderprediger António Conselheiro (der Ratgeber) versammelt und fern von den großen Städten der Küstenregion die Ansiedlung "Canudos" im Staat Bahia gegründet. Die Gläubigen gerieten schnell in Konflikt mit der Regierung dieses Staates, und schließlich entsandte die brasilianische Zentralregierung in den Jahren 1896 und 1897 nach und nach vier militärische Expeditionen zu den "Rebellen".…mehr

Produktbeschreibung
Das Leben im Sertao im brasilianischen Hinterland ist hart, die Menschen arm und der Tradition verhaftet. Innerhalb weniger Jahre hatten sich dort seit 1893 etwa 20000 Menschen um den volkstümlichen und charismatischen Wanderprediger António Conselheiro (der Ratgeber) versammelt und fern von den großen Städten der Küstenregion die Ansiedlung "Canudos" im Staat Bahia gegründet. Die Gläubigen gerieten schnell in Konflikt mit der Regierung dieses Staates, und schließlich entsandte die brasilianische Zentralregierung in den Jahren 1896 und 1897 nach und nach vier militärische Expeditionen zu den "Rebellen".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.1995

Söldner des Unbewußten
Euclides da Cunha berichtet vom Kampf gegen eine brasilianische Sekte Von Hanspeter Brode

Euclides da Cunha ist eine der bedeutendsten und zugleich wildesten Figuren der brasilianischen Kulturgeschichte, nicht erst infolge seines tragisch absurden Todes: Im Jahre 1909 wurde der dreiundvierzigjährige Schriftsteller, als er mit der Pistole in der Hand dem Liebhaber seiner Frau nachjagte, von diesem in einem tristen Vorort Rio de Janeiros erschossen. Da Cunhas kurzes, außerordentlich bewegtes Leben hatte sich abgespielt zwischen einer Militärakademie, seinem Brotberuf als Ingenieur und Brückenbauer, der ihn zu Reisen in abgelegene Landesteile des kaum erschlossenen Riesenreiches zwang, und seiner Tätigkeit als Journalist in São Paulo.

Seine Zeitungsartikel über brasilianische Innenpolitik, aber auch über internationale Vorgänge im Zeitalter von Imperialismus und Kolonienerwerb, weisen da Cunha als entschiedenen Geopolitiker aus. Er empfahl seinen Landsleuten, der Politik des "big stick" des amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt zu folgen und durch Eisenbahnlinien Brasiliens Vorherrschaft auf dem Subkontinent zu sichern.

Die Weltdominanz der Vereinigten Staaten und Rußlands Imperium in Asien waren für ihn nach einer Epoche gewaltiger Kriege ausgemachte Sache. Der industriell und militärisch wohlgerüstete Obrigkeitsstaat Wilhelms II. mit seinen expansionistischen Anstrengungen wurde von da Cunha ebenso scharfsichtig wie wohlinformiert aufs Korn genommen. Deutschland und die Vereinigten Staaten betrachtete er als rivalisierende Großmächte, auch in Hinsicht auf die Angelegenheiten Lateinamerikas. Dieser umstrittene, in mancherlei Polemik verwickelte Mann war 1902 mit einem umfangreichen Kriegsbericht hervorgetreten, dessen erste Auflage binnen weniger Wochen ausverkauft war. "Os Sertãoes" behandelt, für heutige Leser von geradezu überwältigender Aktualität, das Geschick einer religiösen Sekte in der nordöstlichen Trockensteppe Brasiliens. Erst nach langem, zuletzt erklärtermaßen selbstmörderischem Kampf wurden die religiösen Fanatiker vom brasilianischen Bundesheer vernichtet.

Im Laufe weniger Jahre hatten sich etwa 20000 Menschen um den volkstümlich naiven, charismatischen Wanderprediger António Conselheiro ("Ratgeber") versammelt und fern von den großen Städten der Küstenregion die Ansiedlung "Canudos" gegründet. Die Gläubigen, obschon gutwillig und ganz nach innen gekehrt, waren zunächst in Konflikt geraten mit der örtlichen Kirche, dann mit lokalen Behörden, den umliegenden Ortschaften und schließlich mit der Regierung des Staates Bahia. Als immer unabweisbarer behauptet wurde, daß von der abgelegenen Christengemeinde Raubzüge ausgingen, entschloß sich die brasilianische Zentralregierung in den Jahren 1896 und 1897 endlich, nach und nach vier militärische Expeditionen zu entsenden.

Die ersten drei Kriegszüge nach Canudos scheiterten kläglich, teils wegen der ungenügenden Ausrüstung und Führung der Regierungstruppen, teils an der Unwirtlichkeit des Steppengeländes und der wohldurchdachten Guerrillataktik der Sektierer. Erst die vierte Intervention, ausgerüstet mit modernsten europäischen Feuerwaffen, zerschlug den verbissenen Widerstand. Als der Ortsrand von Canudos schon besetzt war, dauerte es noch einmal vier Monate bis zur endgültigen Eroberung des Städtchens mit seinen gut fünftausend Lehmhütten.

Beim Krieg um Canudos handelt es sich um den barbarischsten Vorgang der brasilianischen Zivilisationsgeschichte, der gewiß verdrängt worden wäre, hätte nicht Euclides da Cunha als Journalist und Augenzeuge diesen gräßlichen Krieg im Sertão beobachtet und der Nachwelt überliefert. Man muß, um die Erbitterung der Auseinandersetzung um die Sektierer im fernen Bahia zu verstehen, noch anfügen, daß Brasilien 1889 nach einem Staatsstreich der Militärs und der Verbannung des Kaisers Dom Pedro II. Republik geworden war. Die Canudos-Fanatiker wurden der monarchistischen Verschwörung bezichtigt. Daher schien die Ausrottung dieser Sektierer auch im allgemeinen Interesse der jungen Republik zu liegen.

Euclides da Cunha hatte sich als Beobachter im fernen São Paulo zunächst dieser Auffassung angeschlossen und in flammenden Zeitungsartikeln Canudos als "unsere Vendée" bezeichnet, also eine Parallele zu den royalistischen Aufständen im Zeitalter der Französischen Revolution zu ziehen gesucht, zumal man in Canudos einige antirepublikanische Pamphlete und Lieder gefunden hatte. Als da Cunha dann als Augenzeuge die letzten Wochen des blutigen Schauspiels in Canudos miterlebte, setzte für den aufgeklärten Zeitungsmann ein tiefgreifender Prozeß des Umdenkens ein. Er begann, zeitgenössische Berichte und Quellen zu studieren, und faßte den Plan zu seinem gewaltigen Buch "Os Sertãoes", in welchem er nicht nur als Chronist die Wahrheit überliefern, sondern zugleich die Frage nach dem Selbstverständnis brasilianischer Nationalität aufwerfen wollte. Der peruanische Romancier Mario Vargas Llosa hat den Sinneswandel eines zugereisten Journalisten in Canudos zum Gegenstand seines Romans ,Der Krieg am Ende der Welt" (1981) gemacht.

"Os Sertaoes" liegt nun in einer mustergültig ausgestatteten Fassung auf deutsch vor. Das enzyklopädische Werk da Cunhas ist schon für Brasilianer schwer zu lesen und bereitet außerordentliche Übertragungsschwierigkeiten. Denn der Autor verfolgt das Ziel, die modernen Wissenschaften seines Zeitalters in seine Chronik einzuarbeiten, so daß sich über weite Strecken ein wunderliches Gemisch von Evolutionismus und Sozialdarwinismus, Rassenlehre und Geopolitik, von physikalischer Geographie und morphologisch argumentierender Zivilisationstheorie ergibt.

Mit dem Selbstbewußtsein des stürmischen Autodidakten läßt Euclides da Cunha wahre Sturzbäche von Gelehrsamkeit auf seine Leser niedergehen. Bevor der Autor also zur Schilderung des Kampfes gelangt, schaltet er zunächst einmal zwei ausufernde Kapitel "Das Land" und ,Der Mensch" vor. Es geht ihm dabei unter ausdrücklicher Anlehnung an die Thesen des französischen Geschichtsphilosophen Hippolyte Taine darum, den ,sertanejo", den Bewohner der brasilianischen Trockensteppe mit seiner primitiven Zivilisation und seinem das Pathologische streifenden Wunderglauben, als Produkt der Faktoren Landschaft, Klima, Rasse, Geschichte und Religion herauszustellen, ihn also zu determinieren als Funktion des umgebenden physischen und kulturellen Milieus.

Getreu dem positivistischen Wissenschaftskonzept seiner Zeit liebt da Cunha geologische Anschauungsmuster: "Canudos war eine elende Wüstung, außerhalb unserer Landkarte gelegen, in der Ödnis verloren, eine unentzifferbare, verstümmelte und nicht numerierte Seite aus dem Buch der Überlieferungen. Es legte nur eine Auffassung nahe, nämlich, daß ebenso wie die geologischen Schichten nicht selten Störungen und Inversionen erfahren, wodurch eine junge Formation unter eine ältere geschoben wird, auch die mentale Schichtung der Völker durcheinandergerät und sich umkehrt und sich faltet zu schroffen Mulden und Sätteln und in Verwerfungen aufbricht, an denen alte, längst verflossene Stadien der Menschheitsgeschichte zutage treten. So gesehen war Canudos vor allem ein Lehrstück."

Es sei, so fährt da Cunha fort, als wenn ,unweit einer schweizerischen Industriestadt" die "Reste eines Pfahldorfes" zum Vorschein gekommen wären. Der Feldzug habe - und hier liegt die epochemachende Wirkung des Buches für die brasilianische Selbsteinschätzung - die Frage nach einheimischer Identität aufgeworfen, "denn wir - ethnisch undefiniert, ohne einheitliche nationale Traditionen, am Rande des Atlantik schmarotzerhaft von den in Europa erarbeiteten zivilisatorischen Grundlagen lebend und von der deutschen Industrie bewaffnet - spielten in jener Unternehmung die sonderbare Rolle unbewußter Söldner".

Euclides da Cunha verficht die These, in Canudos habe eine auf evolutionärem Wege fortgeschrittene Zivilisation eine um Jahrhunderte rückständige Lebenssphäre zerschlagen, wo es doch eigentlich Aufgabe hätte sein müssen, die abgelegenen Landesteile Brasiliens zivilisatorisch zu gewinnen und im Sinne nationaler Gemeinsamkeit an die entwickelteren Küstenzonen der Republik heranzuführen.

Das Buch liest sich, hat man die geologischen und anthropologischen Eingangskapitel hinter sich gebracht, außerordentlich spannend, zumal da Cunha das Geschehen auf dem Schlachtfeld und die Anführer beider Seiten plastisch schildert und scharfsinnig die psychologische Seite dieses Krieges, seine geradezu atavistischen Ausbrüche von Angst und Haß analysiert. Anmerkungen und Erläuterungen sind gründlich, ein Nachwort des Übersetzers erläutert die ideengeschichtliche Konstellation, das historische Umfeld und den stilistischen Rang des Buches. Kleine Unstimmigkeiten, etwa was die Behandlung von da Cunhas eigenen Anmerkungen und die Zwischentitel im Text anbetrifft, fallen demgegenüber nicht ins Gewicht. Bedauerlich bleibt indessen, daß der deutschen Version keine Karten beigefügt wurden. Auch hätte man sich eine Reproduktion der wenigen Fotos gewünscht, die vom Krieg im Sertão existieren, unter ihnen die ergreifende Abbildung der exhumierten Leiche des bärtigen Propheten António.

Euclides da Cunha: "Krieg im Sertao". Aus dem Portugiesischen übersetzt von Berthold Zilly. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1994. 783 S., geb., 98,- DM.

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