Mitte Mai 1866 setzt Leo Tolstoi das Wörtchen "Ende" unter ein Manuskript, das später Generationen von Lesern in seinen Bann schlagen wird. Allerdings heißt das Werk damals noch Ende gut, alles gut, nicht Krieg und Frieden.Und es endet mit einer Doppelhochzeit statt mit dem Tod des großen Helden Fürst Andrej Bolkonskij. Teile des Romans erscheinen als Fortsetzungsabdruck in einer Zeitung, während der Autor in Moskau mehrmals versucht, das Buch in dieserForm gedruckt zu bekommen. Schließlich wird es drei Jahre dauern, bis der Roman tatsächlich erscheint - nach unzähligen Überarbeitungen, Ergänzungen und Erweiterungen als Krieg und Frieden. Die nun von Dorothea Trottenberg hervorragend übersetzte, rekonstruierte Urfassung ist nur ungefähr halb so lang wie die uns bekannte Endfassung, mehr Familien- als Kriegsgeschichte, entbehrt die langen Exkurse zur Geschichtsphilosophie und wartet mit vielen anderen Entwicklungen und einem gänzlich anderen Ende auf. Damit ist auch ein neuer Tolstoi zu entdecken.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.11.2003Eh bien, mon prince
Ein großer Wurf, aber doch nur eine Vorstufe: Zur deutschen Ausgabe der Urfassung von Leo Tolstois „Krieg und Frieden”
Als Leo Tolstoi Ende September 1867 das Schlachtfeld von Borodino besichtigte, lag die Erstfassung des Romans „Krieg und Frieden” bereits hinter ihm. Im Frühjahr hatte er unter das Manuskript das Wort „Ende” gesetzt. Aber bei Tolstoi ist dies ein sehr vorläufiges Wort. Fünfzehn Anläufe hatte er genommen, ehe er den gültigen Anfang des Romans gefunden hatte, nun, da er eine erste Version abgeschlossen hatte, lagen Jahre der Umarbeitung und Ausarbeitung vor ihm. Auf das Manuskript, unter dem das Wort „Ende” stand, nahm er dabei wenig Rücksicht. Es diente ihm als Material , er ließ es unter den Korrekturen und Neufassungen, mit denen er es überschrieb, nahezu verschwinden. Die Erstausgabe, in den Jahren 1868 und 1869 erschienen, umfasste wie ihre umgearbeiteten Nachfolger mehr als die doppelte Textmenge der Rohfassung, die zu Lebzeiten Tolstois unveröffentlicht blieb. Die im 20. Jahrhundert kanonisch gewordene „Akademie-Ausgabe”, 1936 erstmals erschienen, geht unter Einbeziehung der Ausgabe von 1873 auf die Erstausgabe zurück.
Die Philologin Evelina Zajdensnur, hauptberuflich im Tolstoi-Museum in Moskau tätig, machte sich in ihren Nebenstunden daran, aus dem Palimpsest des im Nachlass erhaltenen, vielfältig überwucherten Manuskripts die Rohfassung des Romans zu rekonstruieren. Das Ergebnis ihrer jahrzentelangen Kleinarbeit erschien im Jahre 1983 in einer kritischen Ausgabe, einer Ausgabe für Wissenschaftler, mit Lesarten und der Wiedergabe von Marginalien oder Gestrichenem in Klammern.
Im Jahre 2000 machte der Moskauer Verleger Zacharov aus der Zajdensnur-Edition einen großen Bucherfolg beim russischen Publikum. Er brachte die „Urfassung” von „Krieg und Frieden” in einer Leseausgabe heraus, die nicht nur alle in den Klammern und Anmerkungen enthaltenen Spuren philologischer Vorbehalte tilgte, um den Lesefluss nicht zu hemmen, sondern zugleich die Rohfassung resolut zum vollendeten Roman in Konkurrenz treten ließ. Die Formeln dafür waren: „zweimal so kurz, fünfmal so spannend!”, „fast keine philosophischen Abschweifungen mehr!”, „Hundert mal leichter zu lesen: die französischen Passagen sind durch vom Autor selbst erstellte Übersetzungen ersetzt.”
Nun hat der Eichborn Verlag die Zacharov-Ausgabe auf Deutsch herausgebracht. Das Marktschreierische ist ihr genommen, an dessen Stelle ist ein Nachwort des Slawisten Thomas Grob getreten, das ausführlich über die Editionsgeschichte von „Krieg und Frieden” informiert. Aber die Ausgabe laboriert an den selben Problemen wie ihre Vorlage: indem sie erstens dem von Evelina Zajdensnur mühsam rekonstruierten Text der „Urfassung” nicht konsequent folgt und zweitens der Versuchung nachgibt, für diese Rohfassung auf Kosten des vollendeten Romans zu werben, statt deutlich zu sagen: wer diese Vorstufe als alternative Version auffasst und um ihretwillen auf die Lektüre des ausgewachsenen Romans verzichtet, lässt sich einen Großteil des ungeheuren Reichtums von „Krieg und Frieden” entgehen.
Keineswegs zahm
Beginnen wir mit dem entscheidenden Mangel der Textfassung. Er liegt nicht so sehr darin, dass sie durch die Tilgung der philologischen Klammern und Bearbeitungsvermerke eine Solidität vortäuscht, die dieses Manuskript, anders als etwa die Abschrift von Goethes „Urmeister”, durchaus nicht besitzt. Dergleichen muss man bei einer Leseausgabe in Kauf nehmen. Der entscheidende Mangel, über den Thomas Grob in seinem Nachwort mit erstaunlich leichter Hand hinweggeht, liegt an anderer Stelle: in der durchgängigen Übersetzung der im Manuskript (wie in der Zajdensnur-Edition) französischen Textpassagen. Gewiss, Tolstoi selbst hat in manchen Auflagen auf das Französische verzichtet. Aber gerade hier, im Blick auf die Rohfassung, wäre die Gelegenheit gewesen zu zeigen, dass es zu den ursprünglichen Intentionen Tolstois gehört haben muss, die russische Oberschicht über Napoleon wie über sich selbst und ihre Affären auf französisch parlieren zu lassen.
„Eh bien, mon prince, Gênes et Lucques ne sont plus que des apanages, Domänen, de la famille Buonaparte .. ” („Nun, mein Fürst, Genua und Lucca sind nur noch Domänen der Familie Bonaparte… ”). Mit diesem Satz beginnt im Petersburger Salon der Anna Pawlowa Scherer dieser größte aller historischen Romane. Nicht nur in der Akademie-Ausgabe, sondern schon in der Rohfassung. Mit diesem französischen Auftakt ist nicht nur das Thema der Entfernung der russischen Oberschichten vom Volk angeschlagen, sondern beginnt zugleich das subtile Spiel Tolstois mit dem Namen Napoleons, mit dem Erbe der Französischen Revolution und der Kultur des französischen Ancien Regime. Und es beginnt eine sich verzweigende Linie des doppelsprachigen Romans, die etwa auf die französischen Passagen in Thomas Manns „Zauberberg” zuläuft oder auf die Romane Nabokovs. Wer sich brüstet, die „Urfassung” von „Krieg und Frieden” zu bieten, der sollte ihre französische Dimension, die in den Überarbeitungen wuchs, nicht unterschlagen. Vorbildlich hat 1965 der Verlag Rütten & Loening das Problem gelöst, die „französische” Dimension , zu der Briefe im Stil von Rousseaus „Nouvelle Heloise” gehören, dem Leser zu erhalten, ohne ihm gute Französisch-Kenntnisse oder ewiges Hin- und Herblättern zwischen Haupttext und Anhang abzuverlangen: durch eine separat gebundene Beilage.
Schon die Rohfassung von „Krieg und Frieden” ist ein großer Wurf. Aber denn doch: eine Vorstufe. Im Nachwort begnügt sich Thomas Grob nicht damit, deren Qualitäten hervorzuheben. Er überstrapaziert die Mythologie der „Frische”, „Unbekümmertheit”, „Offenheit” und sympathischen „Unbeholfenheiten”. Je mehr er die Rohfassung lobt, desto behäbiger, konservativer und klassischer (im Sinne von zahm geworden) sieht der Autor der späteren Fassungen aus. Besonders einer These dieser Aufwertung der Rohfassung auf Kosten des vollendeten Romans ist zu widersprechen: dass Tolstoi seine Kritik am Kriege zunehmend zugunsten der Feier des russischen Patriotismus abgeschwächt habe. Es mag in der Rohfassung drastischere Formulierungen geben, aber wer in den Kapiteln zur Schlacht von Borodino, die erst im veröffentlichten Roman ihre volle grausame Wucht entfalten, das Klagelied über den Krieg als Mord, Verrat, Verelendung überliest, muss mit Blindheit geschlagen sein.
„Mehr Frieden als Krieg” – damit warb der russische Verlag für diese Version. Und damit, dass hier Andrej Bolkonski und Petja Rostow überleben und der Roman hier aufs Ende einer Doppelhochzeit zuläuft. Beides hängt zusammen: Nicht nur die philosophischen Exkurse wachsen im vollendeten Roman. Und nicht nur der Epilog kommt hinzu, sondern auch die Ausarbeitung des zuvor nur angedeuteten Crescendos mit Borodino, dem Brand Moskaus, dem Partisanenkrieg. Und erst in diesem großen Schlusstableau gibt es das erschütternde Sterben des verletzten Andrej Bolkonski und den schnellen, plötzlichen Tod Petjas, der alle Idolatrien des Heroismus strenger straft als jedes radikale Wort.
Wer diese „Urfassung” aus der Perspektive des vollendeten Werkes liest, erfährt viel darüber, wie Tolstoi an seinem großen Romanprojekt wuchs. Wer sie stattdessen liest, dem ergeht es wie einem, der für eine „Urfassung” von Kafkas Prozess, in der K. zwar verurteilt würde, aber tapfer lächelnd ankündigt, er gehe in Revision, auf die Lektüre des Romans verzichtet, den er bei seinem Tod hinterließ.
LOTHAR MÜLLER
LEO TOLSTOI: Krieg und Frieden. Die Urfassung. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Mit einem Nachwort von Thomas Grob. Eichborn Berlin, Berlin 2003. 1223 Seiten, 39, 90 Euro.
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Ein großer Wurf, aber doch nur eine Vorstufe: Zur deutschen Ausgabe der Urfassung von Leo Tolstois „Krieg und Frieden”
Als Leo Tolstoi Ende September 1867 das Schlachtfeld von Borodino besichtigte, lag die Erstfassung des Romans „Krieg und Frieden” bereits hinter ihm. Im Frühjahr hatte er unter das Manuskript das Wort „Ende” gesetzt. Aber bei Tolstoi ist dies ein sehr vorläufiges Wort. Fünfzehn Anläufe hatte er genommen, ehe er den gültigen Anfang des Romans gefunden hatte, nun, da er eine erste Version abgeschlossen hatte, lagen Jahre der Umarbeitung und Ausarbeitung vor ihm. Auf das Manuskript, unter dem das Wort „Ende” stand, nahm er dabei wenig Rücksicht. Es diente ihm als Material , er ließ es unter den Korrekturen und Neufassungen, mit denen er es überschrieb, nahezu verschwinden. Die Erstausgabe, in den Jahren 1868 und 1869 erschienen, umfasste wie ihre umgearbeiteten Nachfolger mehr als die doppelte Textmenge der Rohfassung, die zu Lebzeiten Tolstois unveröffentlicht blieb. Die im 20. Jahrhundert kanonisch gewordene „Akademie-Ausgabe”, 1936 erstmals erschienen, geht unter Einbeziehung der Ausgabe von 1873 auf die Erstausgabe zurück.
Die Philologin Evelina Zajdensnur, hauptberuflich im Tolstoi-Museum in Moskau tätig, machte sich in ihren Nebenstunden daran, aus dem Palimpsest des im Nachlass erhaltenen, vielfältig überwucherten Manuskripts die Rohfassung des Romans zu rekonstruieren. Das Ergebnis ihrer jahrzentelangen Kleinarbeit erschien im Jahre 1983 in einer kritischen Ausgabe, einer Ausgabe für Wissenschaftler, mit Lesarten und der Wiedergabe von Marginalien oder Gestrichenem in Klammern.
Im Jahre 2000 machte der Moskauer Verleger Zacharov aus der Zajdensnur-Edition einen großen Bucherfolg beim russischen Publikum. Er brachte die „Urfassung” von „Krieg und Frieden” in einer Leseausgabe heraus, die nicht nur alle in den Klammern und Anmerkungen enthaltenen Spuren philologischer Vorbehalte tilgte, um den Lesefluss nicht zu hemmen, sondern zugleich die Rohfassung resolut zum vollendeten Roman in Konkurrenz treten ließ. Die Formeln dafür waren: „zweimal so kurz, fünfmal so spannend!”, „fast keine philosophischen Abschweifungen mehr!”, „Hundert mal leichter zu lesen: die französischen Passagen sind durch vom Autor selbst erstellte Übersetzungen ersetzt.”
Nun hat der Eichborn Verlag die Zacharov-Ausgabe auf Deutsch herausgebracht. Das Marktschreierische ist ihr genommen, an dessen Stelle ist ein Nachwort des Slawisten Thomas Grob getreten, das ausführlich über die Editionsgeschichte von „Krieg und Frieden” informiert. Aber die Ausgabe laboriert an den selben Problemen wie ihre Vorlage: indem sie erstens dem von Evelina Zajdensnur mühsam rekonstruierten Text der „Urfassung” nicht konsequent folgt und zweitens der Versuchung nachgibt, für diese Rohfassung auf Kosten des vollendeten Romans zu werben, statt deutlich zu sagen: wer diese Vorstufe als alternative Version auffasst und um ihretwillen auf die Lektüre des ausgewachsenen Romans verzichtet, lässt sich einen Großteil des ungeheuren Reichtums von „Krieg und Frieden” entgehen.
Keineswegs zahm
Beginnen wir mit dem entscheidenden Mangel der Textfassung. Er liegt nicht so sehr darin, dass sie durch die Tilgung der philologischen Klammern und Bearbeitungsvermerke eine Solidität vortäuscht, die dieses Manuskript, anders als etwa die Abschrift von Goethes „Urmeister”, durchaus nicht besitzt. Dergleichen muss man bei einer Leseausgabe in Kauf nehmen. Der entscheidende Mangel, über den Thomas Grob in seinem Nachwort mit erstaunlich leichter Hand hinweggeht, liegt an anderer Stelle: in der durchgängigen Übersetzung der im Manuskript (wie in der Zajdensnur-Edition) französischen Textpassagen. Gewiss, Tolstoi selbst hat in manchen Auflagen auf das Französische verzichtet. Aber gerade hier, im Blick auf die Rohfassung, wäre die Gelegenheit gewesen zu zeigen, dass es zu den ursprünglichen Intentionen Tolstois gehört haben muss, die russische Oberschicht über Napoleon wie über sich selbst und ihre Affären auf französisch parlieren zu lassen.
„Eh bien, mon prince, Gênes et Lucques ne sont plus que des apanages, Domänen, de la famille Buonaparte .. ” („Nun, mein Fürst, Genua und Lucca sind nur noch Domänen der Familie Bonaparte… ”). Mit diesem Satz beginnt im Petersburger Salon der Anna Pawlowa Scherer dieser größte aller historischen Romane. Nicht nur in der Akademie-Ausgabe, sondern schon in der Rohfassung. Mit diesem französischen Auftakt ist nicht nur das Thema der Entfernung der russischen Oberschichten vom Volk angeschlagen, sondern beginnt zugleich das subtile Spiel Tolstois mit dem Namen Napoleons, mit dem Erbe der Französischen Revolution und der Kultur des französischen Ancien Regime. Und es beginnt eine sich verzweigende Linie des doppelsprachigen Romans, die etwa auf die französischen Passagen in Thomas Manns „Zauberberg” zuläuft oder auf die Romane Nabokovs. Wer sich brüstet, die „Urfassung” von „Krieg und Frieden” zu bieten, der sollte ihre französische Dimension, die in den Überarbeitungen wuchs, nicht unterschlagen. Vorbildlich hat 1965 der Verlag Rütten & Loening das Problem gelöst, die „französische” Dimension , zu der Briefe im Stil von Rousseaus „Nouvelle Heloise” gehören, dem Leser zu erhalten, ohne ihm gute Französisch-Kenntnisse oder ewiges Hin- und Herblättern zwischen Haupttext und Anhang abzuverlangen: durch eine separat gebundene Beilage.
Schon die Rohfassung von „Krieg und Frieden” ist ein großer Wurf. Aber denn doch: eine Vorstufe. Im Nachwort begnügt sich Thomas Grob nicht damit, deren Qualitäten hervorzuheben. Er überstrapaziert die Mythologie der „Frische”, „Unbekümmertheit”, „Offenheit” und sympathischen „Unbeholfenheiten”. Je mehr er die Rohfassung lobt, desto behäbiger, konservativer und klassischer (im Sinne von zahm geworden) sieht der Autor der späteren Fassungen aus. Besonders einer These dieser Aufwertung der Rohfassung auf Kosten des vollendeten Romans ist zu widersprechen: dass Tolstoi seine Kritik am Kriege zunehmend zugunsten der Feier des russischen Patriotismus abgeschwächt habe. Es mag in der Rohfassung drastischere Formulierungen geben, aber wer in den Kapiteln zur Schlacht von Borodino, die erst im veröffentlichten Roman ihre volle grausame Wucht entfalten, das Klagelied über den Krieg als Mord, Verrat, Verelendung überliest, muss mit Blindheit geschlagen sein.
„Mehr Frieden als Krieg” – damit warb der russische Verlag für diese Version. Und damit, dass hier Andrej Bolkonski und Petja Rostow überleben und der Roman hier aufs Ende einer Doppelhochzeit zuläuft. Beides hängt zusammen: Nicht nur die philosophischen Exkurse wachsen im vollendeten Roman. Und nicht nur der Epilog kommt hinzu, sondern auch die Ausarbeitung des zuvor nur angedeuteten Crescendos mit Borodino, dem Brand Moskaus, dem Partisanenkrieg. Und erst in diesem großen Schlusstableau gibt es das erschütternde Sterben des verletzten Andrej Bolkonski und den schnellen, plötzlichen Tod Petjas, der alle Idolatrien des Heroismus strenger straft als jedes radikale Wort.
Wer diese „Urfassung” aus der Perspektive des vollendeten Werkes liest, erfährt viel darüber, wie Tolstoi an seinem großen Romanprojekt wuchs. Wer sie stattdessen liest, dem ergeht es wie einem, der für eine „Urfassung” von Kafkas Prozess, in der K. zwar verurteilt würde, aber tapfer lächelnd ankündigt, er gehe in Revision, auf die Lektüre des Romans verzichtet, den er bei seinem Tod hinterließ.
LOTHAR MÜLLER
LEO TOLSTOI: Krieg und Frieden. Die Urfassung. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Mit einem Nachwort von Thomas Grob. Eichborn Berlin, Berlin 2003. 1223 Seiten, 39, 90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Lothar Müller stellt sich mit Entschiedenheit dagegen, die hier publizierte Rohfassung des "größten aller historischen Romane" gegen die von Leo Tolstoi autorisierten Fassungen auszuspielen. Die vorliegende Urfassung geht auf eine kritische Ausgabe der Philologin Evelina Zajdensnur von 1983 zurück, die diese mit großen Mühen und mit einer Fülle von Anmerkungen, Varianten und Klammern erstellt hat, informiert der Rezensent. Daraus wurde 2000 dann eine "Leseausgabe" für das breite Publikum gemacht, die alle "philologischen Vorbehalte" aus dem Text tilgte und das Buch als kürzeres und lesbareres Lesevergnügen gegenüber dem eigentlichen Roman anpries, referiert der Rezensent weiter. Er macht allerdings unmissverständlich klar, dass eine solche "Urfassung" nicht in Konkurrenz zum späteren Roman treten kann, nicht zuletzt, weil sämtliche französischen Passagen übersetzt werden, was damit nicht einmal der tatsächlichen Urfassung folgt, die noch die französischen Passagen enthält. Mit diesem "entscheidenden Mangel", so der Rezensent unzufrieden, gehe ein wichtige Dimension des Romans verloren, der damit sowohl den tiefen Graben zwischen der russischen Oberschicht und dem einfachen Volk markiert, als auch Tolstois Auseinandersetzung mit Napoleon und dem Ancien Regime. Auch fehlen dem Rezensenten in dieser Fassung der Brand von moskau, die Schlacht von Borodino und nicht zuletzt das erschütternde Sterben des Fürsten Andrej Bolkonski. Denn in der "Urfassung" überleben sowohl Andrej als auch Petja Rostow.
© Perlentaucher Medien GmbH
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