Produktdetails
  • Winkler Weltliteratur (WWL), Die Blaue Reihe
  • Verlag: Artemis & Winkler
  • 9. Aufl.
  • Seitenzahl: 1645
  • Erscheinungstermin: September 2008
  • Deutsch
  • Abmessung: 195mm
  • Gewicht: 800g
  • ISBN-13: 9783538068919
  • ISBN-10: 3538068917
  • Artikelnr.: 08885025
Autorenporträt
Leo N. Tolstoi, geb. am 9.9.1828 in Jasnaja Poljana bei Tula, gest. am 20.11.1910 in Astapowo, heute zur Oblast Lipezk, entstammte einem russischen Adelsgeschlecht. Als er mit neun Jahren Vollwaise wurde, übernahm die Schwester seines Vaters die Vormundschaft. An der Universität Kasan begann er 1844 das Studium orientalischer Sprachen. Nach einem Wechsel zur juristischen Fakultät brach er das Studium 1847 ab, um zu versuchen, die Lage der 350 geerbten Leibeigenen im Stammgut der Familie in Jasnaja Poljana mit Landreformen zu verbessern. Er erlebte von 1851 an in der zaristischen Armee die Kämpfe im Kaukasus und nach Ausbruch des Krimkriegs 1854 den Stellungskrieg in der belagerten Festung Sewastopol. Die Berichte aus diesem Krieg (1855 Sewastopoler Erzählungen) machten ihn als Schriftsteller früh bekannt. Er bereiste aus pädagogischem Interesse 1857 und 1860/61 westeuropäische Länder und traf dort auf Künstler und Pädagogen. Nach der Rückkehr verstärkte er die reformpädagogischen

Bestrebungen und richtete Dorfschulen nach dem Vorbild Rousseaus ein. Seit 1855 lebte er abwechselnd auf dem Gut Jasnaja Poljana, in Moskau, und in Sankt Petersburg. Im Jahre 1862 heiratete er die 18-jährige deutschstämmige Sofja Andrejewna Behrs, mit der er insgesamt 13 Kinder hatte. In den folgenden Jahren seiner Ehe schrieb er die monumentalen Romane Krieg und Frieden sowie Anna Karenina, die Tolstojs literarischen Weltruhm begründeten. Tolstois lebenslange Suche nach der geeigneten Lebensform kulminierte 1910 darin, daß er seine Frau verließ, da diese nicht bereit war, sich von den gemeinsamen Besitztümern zu trennen. Er starb kurze Zeit darauf an einer Lungenentzündung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.2000

Brüder, lasst uns kämpfen bis zum Tod
In Zeiten der Not gibt es in Russland wenigstens das Nationalepos für alle: Leo Tolstois "Krieg und Frieden" als leichte Buch-Version und als gekürzte Oper von Prokofjew

ST. PETERSBURG, im März

"Krieg und Frieden" ist schon von seinem Autor Tolstoi voll Schöpferstolz mit der "Ilias" verglichen worden. Und tatsächlich wurde der Roman, der das Drama abwechselnd im häuslichen Kreis und auf dem Schlachtfeld entfaltet, nicht nur Muster für literarische Komposition und Schilderungskunst, sondern für sein Heimatland auch eine Art nationales Epos: Die Figur der naiv unmittelbaren Natascha Rostowa, die von einem französisch erzogenen Libertin beinahe verführt wird, war für viele Generationen ein Sinnbild für die westlichen Versuchungen ausgesetzte unschuldige russische Psyche. Und der verzweifelte Befreiungskampf gegen Napoleon versinnbildlichte die Verschmelzung des Volkes mit seiner Führung im Namen der heiligen Sache der Vaterlandsverteidigung, die politische Missstände im Inneren oder eigene imperiale Expansion als nebensächlich vergessen machte.

Da Russland sein traditionelles Subordinationssystem unter den Bedingungen der Massengesellschaft neu zementieren will, ist auch eine Adaptation der Nationalmythen gefragt. Für russische Zeitgenossen, die nicht mehr Zeit und Energie für Tolstois Mammutroman aufbringen und deren Geschmack von modernen Filmschnulzen geprägt ist, erschien soeben eine "leichte" Version des Buches, für die obendrein der gute Name Tolstois bürgt. Die von der Philologin Evelina Saidenschnur für den Verleger Igor Sacharow aus Tolstois Notizbüchern rekonstruierte Erstfassung des Romans erspart dem Leser den Tod der Romanfiguren Andrej Bolkonski und Petja Rostow. Die gefürchteten französischen Dialoge sind ersetzt durch russische. Tolstois geschichtsphilosophische Exkurse über Napoleon und Kutusow und die Rolle des Individuums in der Historie sind von angenehmer Knappheit. Vor allem aber muss der Leser nur rund die Hälfte der Seitenzahl bewältigen. Nach dem Abschluss der ersten Textfassung 1866 zwang Tolstoi sein künstlerisches Gewissen, den Roman während der drei folgenden Jahre zu überarbeiten und um die bekannten Leseerschwernisse zu bereichern.

Dabei unterdrückte er auch Sympathiebekundungen für die Aristokratie, etwa in einem frivolen Vorwort oder in seiner Schilderung Napoleons, und kristallisierte seine politisch korrekte Doktrin von der Weisheit des Volkes in der Figur des Platon Karatajew. Die für die Entstehungsgeschichte des Werkes und Tolstois intellektuelle Biographie interessante Rekonstruktion gibt sich als solche freilich nicht zu erkennen. Das Buch, lapidar als Tolstois "Krieg und Frieden" ausgewiesen, mit dem irreführenden Untertitel "Erste vollständige Fassung des großen Romans", wird von Buchhändlern und Kunden wie der altbewährte Klassiker behandelt: Viele leseunlustige Kinder haben dank der leichten Fassung endlich wieder Spaß an der Schullektüre.

Doch mindestens ebenso dringend wie das Volk bedarf die Staatsführung des Nationalepos. Was könnte in Kriegs- und Wahlkampfzeiten, da der designierte zweite Präsident bald mit Stalin, bald mit der Intelligenz liebäugelt, passender sein als eine Aufführung der Oper "Krieg und Frieden", die der zugleich für seine musikalischen Wagnisse verfolgte wie vaterlandstreue Prokofjew während des Zweiten Weltkrieges schrieb. Das aristokratische Genre der Oper scheint den offen zur Schau gestellten monarchisch restaurativen Ambitionen der Elite entgegenzukommen. Und da das amtierende Staatsoberhaupt aus Petersburg stammt und obendrein den britischen Premier Blair zu Gast hatte, dem er sein Land zugleich auf europäischem Niveau wie mit imperialem Anspruch zu präsentieren wünschte, bot das Mariinski-Theater als qualitätvollste Bühne des Landes mit internationalem Renommee den idealen Rahmen. Der Dirigent und künstlerische Leiter des Hauses, Valeri Gergiew, der sich so lange mit der Bewunderung von Musiker- und Theaterkreisen begnügen musste, konnte sich endlich in der Gunst des Kreml sonnen.

Für das patriotische Projekt hatte Gergiew, der sonst vorzugsweise mit europäischen Theatern zusammenarbeitet, Russlands Mann in Hollywood engagiert, den Filmregisseur Andrej Kontschalowski, der sich durch konventionelle Zelluloidserien, aber auch eine historisch allegorische Choreographie zu Moskaus 850. Geburtstag auf dem Roten Platz für diese verantwortungsvolle Aufgabe empfohlen hatte. Zu den vier Fassungen der vom Komponisten bis zu seinem Tod mehrfach umgeschriebenen Oper fügte Gergiew noch eine fünfte hinzu, eine um zwei Bilder und lange Passagen - etwa die berühmte Kutusow-Arie - gekürzte dreieinhalbstündige Digest-Version der letzten Fassung.

Die kontrastierenden Welten der sich amüsierenden Gesellschaft im Frieden und des brutalen Kriegsgeschehens setzt der Regisseur mit Hilfe des Bühnenbildners Georgi Zypin mit dem visuellen Vokabular der artifiziell verspielten Fin-de- Siècle-Malerei des "mir iskusstwa" beziehungsweise des kruden Kinorealismus in Szene. Den herausgehobenen, aber unsteten Standpunkt der Bühnenfiguren vergegenwärtigt Zypin durch eine den vorderen Bühnenraum ausfüllende, sich drehende gewölbte Scheibe. Sie ruft die sphärische Perspektive in den Gemälden von Kusma Petrow-Wodkin aus den zwanziger Jahren ebenso in Erinnerung wie die kreisende Erdkugel, und in den Kriegsszenen verleiht sie den Truppenbewegungen filmische Raumwirkung.

Kontschalowski hatte das Glück, in der jungen Sopranistin Anna Netrebko und dem Tenor Stebljanko über zwei Sängerpersönlichkeiten zu verfügen, welche Tolstois Natascha Rostowa und Pierre Besuchow nicht nur idealtypisch verkörpern, sondern außerdem stimmlich und schauspielerisch zu tragenden Säulen des Friedens- beziehungsweise des Kriegsteiles wurden. Dabei holte den Regisseur allerdings die sowjetische Filmgeschichte ein. Die grazile, dunkel gelockte, lebhafte Anna Netrebko, deren frischer, temperamentvoller, wenn auch nicht übermäßig farbreicher Sopran dem Jungmädchencharme ihrer Rolle entspricht, führte er allzu eindimensional wie die Natascha in Bondartschuks "Krieg und Frieden"-Verfilmung, und auch Stebljanko mit seinem angenehmen trockenen Tenor glich mit seiner Brille und der dicklichen Gestalt dem Klischee des gutherzigen Intellektuellen aus dem sowjetischen Filmepos.

Den heftigsten Szenenapplaus der Aufführung erntete Napoleon, als er, umgeben von einem Wald aus Bajonetten seiner Soldaten, sich auf dem Feldherrnhügel zeigte. Man fragte sich, ob die Begeisterung der militaristischen Prachtentfaltung galt oder die allgemeine Identifikation der russischen Elite mit dem napoleonischen Empire in allen Stilfragen zum Ausdruck brachte.Fotorealistisches Blutspucken und verstümmelte Gliedmaßen hat Kontschalowski den abmarschierenden Okkupanten vorbehalten. Die Russen dürfen malerisch unter Schüssen französischer Flinten zusammenbrechen.

Die eindruckvollste Bilderfindung der Regie illustriert das sich wendende Kriegsglück des korsischen Eroberers mit den Mitteln des Mythos vom unterdrückten und sich erhebenden Volk. Der Feldherr Napoleon beschreitet zunächst eine sich aus dem Bühnenhügel wie ein Keil erhebende Rampe, unter welcher die deformierten Leichname seiner Opfer zu sehen sind. Als seine Soldaten später die Moskauer Bevölkerung zusammentreiben, gruppieren sich die Statisten zu einem ebensolchen Keil, welcher sich allmählich zu jenen die gesamte Bühne einnehmenden Chormassen auswächst, die Prokofjews feurige Militärmärsche skandieren. Dank englischer Übertitel kam der gewöhnlich unverständliche Text zu voller Geltung: "Brüder, lasst uns kämpfen bis zum Tod" und "Des Feindes Blut soll die russische Erde tränken".

Vielleicht war es die vor dem Hintergrund des Tschetschenien-Kriegs allzu deutliche Botschaft, welche den Szenenapplaus des Premierenpublikums verhalten ausfallen ließ. Zweifellos hatten alle Zuschauer verstanden, dass auf der Bühne des Mariinski-Theaters die nationale Ideologie vorgeführt werden sollte.

KERSTIN HOLM

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