Der Band versammelt, größtenteils zum ersten Mal in deutscher Sprache, bislang kaum erschlossene Schriften Simone Weils der dreißiger und frühen vierziger Jahre - am Vorabend des zweiten Weltkriegs, vor dem Hintergrund von Weltwirtschaftskrise, Volksfront und spanischem Bürgerkrieg, und zuletzt zu Kriegszeiten im besetzten Frankreich und in ihrer Aktivität für die Résistance. In ihren Analysen seziert Simone Weil die Mechanismen der Macht, die Formen der Gewalt und die Verführungskraft der Ideologie und überrascht etwa durch eine Lektüre der Ilias, die den Trojanischen Krieg als Archetyp moderner Kriegsführung und kollektiver Verblendung erkennt.
In gnadenloser Klarheit zeichnen die Essays nicht nur das hellsichtige Szenario des drohenden Terrors, sondern zugleich das Porträt einer wachsamen Zeitzeugin und kontroversen Denkerin, die ihr Leben dem politischen Kampf und dem pazifistischen Widerstand gegen die Barbarei gewidmet hat.
In gnadenloser Klarheit zeichnen die Essays nicht nur das hellsichtige Szenario des drohenden Terrors, sondern zugleich das Porträt einer wachsamen Zeitzeugin und kontroversen Denkerin, die ihr Leben dem politischen Kampf und dem pazifistischen Widerstand gegen die Barbarei gewidmet hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2012Was soll die Seele wollen?
Eine heikle Verschmelzung von Politik und Mystik: Zwei neue Bände mit Texten der französischen Philosophin und Aktivistin Simone Weil.
Simone Weil ist nicht von jener "Aktualität", wie sie gern beschworen wird. Kaum etwas aus ihrem umfangreichen, jedoch in nur einem Dutzend Jahren entstandenen Werk ist unmittelbar auf unsere Gegenwart übertragbar. In der kurzen Zeit bis zu ihrem frühen Tod 1943 hat sie ihren Standpunkt mehrfach gewechselt, dabei jeden immer mit größter Radikalität und absolutem Wahrheitsanspruch vertreten. Der Zweifel war vielleicht nicht ihr, doch ihren Schriften fremd. Den Übergang vom Agnostizismus zu einem mystischen Christentum vollzog sie mit der gleichen Konsequenz wie den vom radikalen Pazifismus zur Résistance.
Ihr Spätwerk ist das einer Vierunddreißigjährigen, und es ist in weiten Strecken der Versuch, die lange nebeneinander herlaufenden Schwerpunkte Mystik und Politik miteinander zu verschmelzen. Mit welchem Erfolg, das lässt sich nachverfolgen an den Aufsätzen von "Krieg und Gewalt", die zwischen 1933 und 1943 entstanden, und an dem postumen Vermächtnis "L'Enracinement" von 1943 - das in der neuen, nicht immer präzisen Übersetzung ohne Not von "Die Einwurzelung" in "Die Verwurzelung" umbenannt wurde.
Zu Lebzeiten hat Simone Weil ausschließlich Aufsätze veröffentlicht; Bücher erschienen erst aus dem Nachlass, und unter ihnen ist "Die Einwurzelung" das umfangreichste, von ihr als politisches und religiöses Vermächtnis in extremis verstanden. Dieses "Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber", so der Untertitel, ist ohne die historischen Realien der zentralen Kapitel für den heutigen Leser nahezu unverständlich, und so ist es eine kluge Entscheidung, parallel einen Band mit ausgewählten Pamphleten, Analysen und historischen Studien zu publizieren, die den Weg der politischen Denkerin nachvollziehbar machen.
Simone Weil hat so lange wie möglich auf ihrer radikalpazifistischen Haltung beharrt. Weder das Münchner Abkommen noch der Hitler-Stalin-Pakt, sondern erst die französische Niederlage 1940 vermochte sie umzustimmen, also nicht die Niederlage der Demokratie, sondern die ihres Landes. Hier liegt der Zeitkern ihrer Schriften: im Aufstieg der totalitären, von ihr als Religionsersatz verstandenen Ideologien Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus und in der Kapitulation der bürgerlichen Parteiendemokratie, wie sie auch die französische Innenpolitik der dreißiger Jahre prägte. Das muss man wissen, will man Weils radikale Kritik der republikanischen Institutionen verstehen.
"Die Einwurzelung" versteht sich als Fundamentalkritik des politischen Denkens und vor allem Handelns. Mit ihrer "Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber" bezieht sich die Autorin direkt auf die "Erklärung der Menschenrechte" von 1789. Was als Kritik an einer Ethik des Anspruchs einleuchtet, zieht aber problematische Konsequenzen nach sich. Die "Pflichten dem Menschen gegenüber" sollen zunächst auf einer Erfüllung der "Bedürfnisse der Seele" beruhen; zu diesen zählt Weil eine Reihe von Konstanten, an denen die Politik sich auszurichten habe: Ordnung, Freiheit, Gehorsam, Verantwortung, Gleichheit, Ehre, Strafe, Privateigentum, Kollektiveigentum, Meinungsfreiheit und besonders den Zentralbegriff Wahrheit. Die Problematik, pragmatische Politik an Essentialien festmachen zu wollen, liegt auf der Hand. Ihre Legitimierung kann nicht gelingen.
An dieser Stelle kommt Simone Weils religiöses Denken ins Spiel. Die Basis allen Handelns muss nach ihrer Überzeugung "das Gute" schlechthin sein, das sich dem Individuum durch die feste Überzeugung, das Gute zu tun, offenbaren soll. Der Kern dieses Denkens also ist eine mystische Überzeugung. Dass die Mechanismen parlamentarischer, republikanischer und anderer bürgerlicher Demokratien demgegenüber nur als System egoistischer Interessenvertretungen verstanden werden, ist konsequent; die Gefahr einer mystischen Theokratie ebenfalls. Offensichtlich verfolgt Simone Weils Idee einer "Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber" in einem strikten Sinne die Überwindung, wenn nicht gar Rücknahme der Revolution von 1789. Damit steht sie nicht allein im politischen Klima der vierziger Jahre, das geprägt ist vom Versagen der republikanischen, repräsentativen Demokratie und das an vielen Stellen die Rückkehr zu Essentialwerten in der Politik propagierte. Simone Weil befindet sich damit sogar in heikler Nähe zum Regime von Vichy, gegen das sie politisch ausdrücklich antrat. Die Diagnose der "Entwurzelung" von Arbeitern, Bauern und Nation, gegen die sie ihr Ideal der "Einwurzelung" setzt, zählte zu den Kernbegriffen jener Ideologie, die "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" durch "Arbeit, Familie, Vaterland" ersetzt hatte. Weils Vorstellung von einer Gesellschaftsorganisation, die sich an kleinen Einheiten, an der Bedeutung von Regionen, von direkter Einflussnahme und von elementaren Grundbedürfnissen orientiert, ist auch eine bewusste Negierung der komplexen, entwickelten Industriegesellschaften. Simone Weil befindet sich damit genau in all den Aporien der eigenen Epoche, die sie mit ihrer "Einwurzelung" austreiben wollte.
Das Irritierende an der Neuausgabe ist, dass nichts von alledem in ihr zu finden ist. Kann man einen solchen Text siebzig Jahre nach seiner Entstehung ohne Kommentar und Einführung lesen, als handele es sich um eine Stellungnahme zu wesentlichen Fragen der politischen Moral und Verantwortung? Wäre es nicht zwingend notwendig gewesen, die apodiktischen, gleichsam mit religiösem Ewigkeitsanspruch dastehenden Axiome Simone Weils in jenen Kontext zu verflechten, der sie als das kenntlich macht, was sie sind: der Versuch einer Zukunftsperspektive im Augenblick, da Europa sich fast vollständig in der Macht des Nationalsozialismus befindet?
Diese Arbeit ist hier dem Leser überlassen, wobei ihm die Lektüre von "Krieg und Gewalt" ein Stück weit zu Hilfe kommt. Aufsätze wie "Einige Überlegungen zu den Ursprüngen des Hitlerismus" oder "Dieser Krieg ist ein Religionskrieg" zeigen dabei in konzentrierter Form die Originalität, aber auch die Gefahr in der Verknüpfung von Historie, Religion und Gegenwartsdeutung, die Weils Denken prägt. Am produktivsten löst sie ihre Intention gerade dort ein, wo sie von der Gegenwart am weitesten zurücktritt, nämlich in "Die Ilias oder das Poem der Gewalt" von 1940/41. Dieser Aufsatz, einer der großen Essays des zwanzigsten Jahrhunderts, der allein schon die Lektüre des Bandes lohnt, ist zugleich eine zwingende Deutung der "Ilias" und eine Macht- und Gewalttheorie, die Foucault um Jahrzehnte vorwegnimmt. Die Ausübung von Gewalt beschreibt Simone Weil als eine gleichsam naturgesetzliche Konstante der condition humaine - Weil benutzt den physikalischen Begriff "force" -, die nur durch den religiösen Sprung überwunden werden könne. Die "Ilias" ist für sie schonungs- und zeitloses Bild irdischer Macht- und Gewaltausübung und deshalb Prinzip höchster Gerechtigkeit und Unparteiischkeit gegenüber den gleichermaßen leidenden Kriegsgegnern.
Jean Paulhan hat seinerzeit die Publikation des Aufsatzes in der "Nouvelle Revue Française" abgelehnt: Zu vordergründig empfand er wohl den Bezug auf den gegenwärtigen Moment der Weltgeschichte. In diesem Fall hat das Verblassen des Zeitkerns dem Text genützt; hervorgetreten ist eine Analyse, die im unkontrollierten Ausüben von Macht das gleichsam anthropologische Grundübel der politischen Geschichte sieht. Die These und vor allem die Darstellung durch das griechische Epos hindurch sind faszinierend - selbst wenn der von Simone Weil ins Auge gefasste Ausweg, der religiöse Sprung, nicht überzeugen kann.
WOLFGANG MATZ
Simone Weil: "Die Verwurzelung". Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber.
Aus dem Französischen von Marianne Schneider. Diaphanes Verlag, Zürich 2011. 284 S., br., 24,90 [Euro].
Simone Weil: "Krieg und Gewalt". Essays und Aufzeichnungen.
Aus dem Französischen von Thomas Laugstien u.a. Diaphanes Verlag, Zürich 2011. 248 S., br., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine heikle Verschmelzung von Politik und Mystik: Zwei neue Bände mit Texten der französischen Philosophin und Aktivistin Simone Weil.
Simone Weil ist nicht von jener "Aktualität", wie sie gern beschworen wird. Kaum etwas aus ihrem umfangreichen, jedoch in nur einem Dutzend Jahren entstandenen Werk ist unmittelbar auf unsere Gegenwart übertragbar. In der kurzen Zeit bis zu ihrem frühen Tod 1943 hat sie ihren Standpunkt mehrfach gewechselt, dabei jeden immer mit größter Radikalität und absolutem Wahrheitsanspruch vertreten. Der Zweifel war vielleicht nicht ihr, doch ihren Schriften fremd. Den Übergang vom Agnostizismus zu einem mystischen Christentum vollzog sie mit der gleichen Konsequenz wie den vom radikalen Pazifismus zur Résistance.
Ihr Spätwerk ist das einer Vierunddreißigjährigen, und es ist in weiten Strecken der Versuch, die lange nebeneinander herlaufenden Schwerpunkte Mystik und Politik miteinander zu verschmelzen. Mit welchem Erfolg, das lässt sich nachverfolgen an den Aufsätzen von "Krieg und Gewalt", die zwischen 1933 und 1943 entstanden, und an dem postumen Vermächtnis "L'Enracinement" von 1943 - das in der neuen, nicht immer präzisen Übersetzung ohne Not von "Die Einwurzelung" in "Die Verwurzelung" umbenannt wurde.
Zu Lebzeiten hat Simone Weil ausschließlich Aufsätze veröffentlicht; Bücher erschienen erst aus dem Nachlass, und unter ihnen ist "Die Einwurzelung" das umfangreichste, von ihr als politisches und religiöses Vermächtnis in extremis verstanden. Dieses "Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber", so der Untertitel, ist ohne die historischen Realien der zentralen Kapitel für den heutigen Leser nahezu unverständlich, und so ist es eine kluge Entscheidung, parallel einen Band mit ausgewählten Pamphleten, Analysen und historischen Studien zu publizieren, die den Weg der politischen Denkerin nachvollziehbar machen.
Simone Weil hat so lange wie möglich auf ihrer radikalpazifistischen Haltung beharrt. Weder das Münchner Abkommen noch der Hitler-Stalin-Pakt, sondern erst die französische Niederlage 1940 vermochte sie umzustimmen, also nicht die Niederlage der Demokratie, sondern die ihres Landes. Hier liegt der Zeitkern ihrer Schriften: im Aufstieg der totalitären, von ihr als Religionsersatz verstandenen Ideologien Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus und in der Kapitulation der bürgerlichen Parteiendemokratie, wie sie auch die französische Innenpolitik der dreißiger Jahre prägte. Das muss man wissen, will man Weils radikale Kritik der republikanischen Institutionen verstehen.
"Die Einwurzelung" versteht sich als Fundamentalkritik des politischen Denkens und vor allem Handelns. Mit ihrer "Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber" bezieht sich die Autorin direkt auf die "Erklärung der Menschenrechte" von 1789. Was als Kritik an einer Ethik des Anspruchs einleuchtet, zieht aber problematische Konsequenzen nach sich. Die "Pflichten dem Menschen gegenüber" sollen zunächst auf einer Erfüllung der "Bedürfnisse der Seele" beruhen; zu diesen zählt Weil eine Reihe von Konstanten, an denen die Politik sich auszurichten habe: Ordnung, Freiheit, Gehorsam, Verantwortung, Gleichheit, Ehre, Strafe, Privateigentum, Kollektiveigentum, Meinungsfreiheit und besonders den Zentralbegriff Wahrheit. Die Problematik, pragmatische Politik an Essentialien festmachen zu wollen, liegt auf der Hand. Ihre Legitimierung kann nicht gelingen.
An dieser Stelle kommt Simone Weils religiöses Denken ins Spiel. Die Basis allen Handelns muss nach ihrer Überzeugung "das Gute" schlechthin sein, das sich dem Individuum durch die feste Überzeugung, das Gute zu tun, offenbaren soll. Der Kern dieses Denkens also ist eine mystische Überzeugung. Dass die Mechanismen parlamentarischer, republikanischer und anderer bürgerlicher Demokratien demgegenüber nur als System egoistischer Interessenvertretungen verstanden werden, ist konsequent; die Gefahr einer mystischen Theokratie ebenfalls. Offensichtlich verfolgt Simone Weils Idee einer "Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber" in einem strikten Sinne die Überwindung, wenn nicht gar Rücknahme der Revolution von 1789. Damit steht sie nicht allein im politischen Klima der vierziger Jahre, das geprägt ist vom Versagen der republikanischen, repräsentativen Demokratie und das an vielen Stellen die Rückkehr zu Essentialwerten in der Politik propagierte. Simone Weil befindet sich damit sogar in heikler Nähe zum Regime von Vichy, gegen das sie politisch ausdrücklich antrat. Die Diagnose der "Entwurzelung" von Arbeitern, Bauern und Nation, gegen die sie ihr Ideal der "Einwurzelung" setzt, zählte zu den Kernbegriffen jener Ideologie, die "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" durch "Arbeit, Familie, Vaterland" ersetzt hatte. Weils Vorstellung von einer Gesellschaftsorganisation, die sich an kleinen Einheiten, an der Bedeutung von Regionen, von direkter Einflussnahme und von elementaren Grundbedürfnissen orientiert, ist auch eine bewusste Negierung der komplexen, entwickelten Industriegesellschaften. Simone Weil befindet sich damit genau in all den Aporien der eigenen Epoche, die sie mit ihrer "Einwurzelung" austreiben wollte.
Das Irritierende an der Neuausgabe ist, dass nichts von alledem in ihr zu finden ist. Kann man einen solchen Text siebzig Jahre nach seiner Entstehung ohne Kommentar und Einführung lesen, als handele es sich um eine Stellungnahme zu wesentlichen Fragen der politischen Moral und Verantwortung? Wäre es nicht zwingend notwendig gewesen, die apodiktischen, gleichsam mit religiösem Ewigkeitsanspruch dastehenden Axiome Simone Weils in jenen Kontext zu verflechten, der sie als das kenntlich macht, was sie sind: der Versuch einer Zukunftsperspektive im Augenblick, da Europa sich fast vollständig in der Macht des Nationalsozialismus befindet?
Diese Arbeit ist hier dem Leser überlassen, wobei ihm die Lektüre von "Krieg und Gewalt" ein Stück weit zu Hilfe kommt. Aufsätze wie "Einige Überlegungen zu den Ursprüngen des Hitlerismus" oder "Dieser Krieg ist ein Religionskrieg" zeigen dabei in konzentrierter Form die Originalität, aber auch die Gefahr in der Verknüpfung von Historie, Religion und Gegenwartsdeutung, die Weils Denken prägt. Am produktivsten löst sie ihre Intention gerade dort ein, wo sie von der Gegenwart am weitesten zurücktritt, nämlich in "Die Ilias oder das Poem der Gewalt" von 1940/41. Dieser Aufsatz, einer der großen Essays des zwanzigsten Jahrhunderts, der allein schon die Lektüre des Bandes lohnt, ist zugleich eine zwingende Deutung der "Ilias" und eine Macht- und Gewalttheorie, die Foucault um Jahrzehnte vorwegnimmt. Die Ausübung von Gewalt beschreibt Simone Weil als eine gleichsam naturgesetzliche Konstante der condition humaine - Weil benutzt den physikalischen Begriff "force" -, die nur durch den religiösen Sprung überwunden werden könne. Die "Ilias" ist für sie schonungs- und zeitloses Bild irdischer Macht- und Gewaltausübung und deshalb Prinzip höchster Gerechtigkeit und Unparteiischkeit gegenüber den gleichermaßen leidenden Kriegsgegnern.
Jean Paulhan hat seinerzeit die Publikation des Aufsatzes in der "Nouvelle Revue Française" abgelehnt: Zu vordergründig empfand er wohl den Bezug auf den gegenwärtigen Moment der Weltgeschichte. In diesem Fall hat das Verblassen des Zeitkerns dem Text genützt; hervorgetreten ist eine Analyse, die im unkontrollierten Ausüben von Macht das gleichsam anthropologische Grundübel der politischen Geschichte sieht. Die These und vor allem die Darstellung durch das griechische Epos hindurch sind faszinierend - selbst wenn der von Simone Weil ins Auge gefasste Ausweg, der religiöse Sprung, nicht überzeugen kann.
WOLFGANG MATZ
Simone Weil: "Die Verwurzelung". Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber.
Aus dem Französischen von Marianne Schneider. Diaphanes Verlag, Zürich 2011. 284 S., br., 24,90 [Euro].
Simone Weil: "Krieg und Gewalt". Essays und Aufzeichnungen.
Aus dem Französischen von Thomas Laugstien u.a. Diaphanes Verlag, Zürich 2011. 248 S., br., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zwei Bände der mystisch-politischen Denkerin bringt der Diaphanes-Verlag neu heraus. Wolfgang Matz, Lektor des Hanser Verlags, bespricht sie in einer Doppelkritik und stellt gleich klar, dass das "posthume Vermächtnis" "Die Verwurzelung" und die Essaysammlung "Krieg und Gewalt" nur zusammen gelesen werden können. Kenntnisreich skizziert Matz die Theorien Weils und betont, wie sehr sie aus ihrem historischen Kontext verstanden werden müssen - geschrieben wurden die Texte im Zeitalter des totalitären Triumphs und des Versagens der Demokratie. Matz macht im Essenzialismus Weils - am "Guten schlechthin" soll Politik genesen - dann gerade auch eine Verwandtschaft zu Diskursen des Vichy-Regimes aus, gegen das sie als Resistance-Kämpferin ihr Leben riskierte. Gleichzeitig bilden Elemente ihres Denkens wie Regionalismus und Basisdemokratie Reaktionen auf die entfremdete und "entwurzelte" Demokratie und Industriegesellschaft, wie sie später in der Ökologiebewegung wieder aktuell wurden. Matz kritisiert, dass die Texte Weils so ganz nackt, ohne Kontext und Kommentar, dargeboten werden - für die meisten Leser heute unverständlich. Trotzdem rät er zur Lektüre. Besonders Weils Essay zur Ilias - also gerade ein nicht zeitgebundener Text - ist für ihn "einer der großen Essays des 20. Jahrhunderts".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Der Aufsatz 'Die Ilias oder das Poem der Gewalt', einer der großen Essays des zwanzigsten Jahrhunderts, der allein schon die Lektüre dieses Bandes lohnt, ist zugleich eine zwingende Deutung der 'Ilias' und eine Macht- und Gewalttheorie, die Foucault um Jahrzehnte vorwegnimmt.« Wolfgang Matz, FAZ