Nach jahrzehntelanger Unterdrückung durch das arabisch-nationalistische Baath-Regime gelang es den syrischen KurdInnen im Windschatten des Aufstands gegen das Regime 2012, den Großteil ihrer Siedlungsgebiete zu übernehmen. Seither entwickelt sich in den drei kurdischen Enklaven im Norden Syriens nach der Etablierung der Region Kurdistan im Irak ein zweiter kurdischer Para-Staat.
Mit der Entwicklung des Aufstandes zum Bürgerkrieg und dem wachsenden Einfluss jihadistischer Gruppen ist jedoch die Sicherheitslage in Rojava ('West-Kurdistan'), wie Syrisch-Kurdistan von den KurdInnen selbst genannt wird, zunehmend prekär geworden.
Der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger, der Syrisch-Kurdistan mehrmals bereiste und zuletzt 2014 in Rojava forschte, gibt einen aktuellen Einblick über eine Region zwischen Revolution und Bürgerkrieg.
Mit der Entwicklung des Aufstandes zum Bürgerkrieg und dem wachsenden Einfluss jihadistischer Gruppen ist jedoch die Sicherheitslage in Rojava ('West-Kurdistan'), wie Syrisch-Kurdistan von den KurdInnen selbst genannt wird, zunehmend prekär geworden.
Der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger, der Syrisch-Kurdistan mehrmals bereiste und zuletzt 2014 in Rojava forschte, gibt einen aktuellen Einblick über eine Region zwischen Revolution und Bürgerkrieg.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.2014Vorboten einer neuen Ordnung
Eine Geschichte Syrisch-Kurdistans mit aktuellen Stimmen aus dem Kriegsgebiet
Zwei Ereignisse haben Syriens Kurden 2014 in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit gerückt: die Schlacht um Kobane sowie die Rettung der Yeziden vor einem Genozid im Sindschar-Gebirge im August. Und der Kampf geht weiter: An vorderster Front stehen seit mehr als einem Jahr die syrisch-kurdischen "Volksverteidigungseinheiten" (YPG) den sunnitischen Extremisten des "Islamischen Staats" gegenüber. Zuvor hatten sie ein Schattendasein geführt - ganz anders als die Kurden in der Türkei und im Irak. So sind der interessierten Öffentlichkeit der bewaffnete Kampf der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) Abdullah Öcalans gegen den türkischen Staat und die Absetzbewegung der autonomen Region Irakisch-Kurdistan unter Massud Barzani vom Zentralstaat in Bagdad seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten vertraut.
Selten war hingegen von Syriens Kurden die Rede, obwohl sie unter den Regimen von Hafiz al Assad und dessen Sohn Baschar al Assad immer wieder heftiger Repression ausgesetzt waren. Ein Aufstand in ihrer Hochburg Qamischli wurde 2004 brutal niedergeschlagen; damals war Öcalan bereits fünf Jahre inhaftiert. Da Öcalan wenige Jahre nach Gründung der PKK, von den türkischen Putschgenerälen 1980 verfolgt, Zuflucht in Syrien gefunden hatte und ihm später das Assad-Regime in der libanesischen Bekaa-Ebene ein Ausbildungslager zugesichert hatte, sorgte er auch dafür, dass sich die politischen Führer der syrischen Kurden nicht gegen Damaskus auflehnten. Er ging sogar so weit, sie als "kurdische Flüchtlinge aus der Türkei" zu bezeichnen. Dass Syriens Kurden bis heute nicht auf Sezession aus dem vom Krieg zerrissenen Gesamtstaat dringen, hat mit dieser Prägung aus den ersten Dekaden der Assad-Diktatur zu tun, aber auch damit, dass die syrische Exilopposition am arabischen Charakter Syriens festhalten will.
In seinem Buch "Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan" zeichnet der Wiener Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger die wechselvolle Geschichte zwischen ethnischer Selbstbestimmung und politischer Anpassung nach; er berücksichtigt dabei die geographische, kulturelle sowie soziale Einbettung in eine multiethnische und multireligiöse Umgebung. Die nüchterne Faktensammlung setzt lange vor der Machtergreifung der Baath-Partei 1970 in Damaskus ein und beschreibt, wie die drei Kantone Afrin, Kobane und Cizire des als Rojava bezeichneten Gebiets lange lediglich das ländliche Hinterland von heute in der Türkei liegenden urbanen Zentren bildeten. Übersetzt bedeutet Rojava so viel wie "Land, wo die Sonne untergeht", politisch synonym wird auch der Begriff "Westkurdistan" verwendet. Türkisch-Kurdistan im Norden, Iranisch-Kurdistan im Osten sowie Irakisch-Kurdistan im Süden komplettieren die kurdische Landkarte.
Erst unter französischer Protektoratsherrschaft wurden die beiden größten Städte Rojavas, Hassakeh und Qamischli, wiedergegründet. Kobane, das als kleinster der drei kurdischen Kantone im Herbst 2014 in den Fokus der Weltöffentlichkeit gelangte, ist zugleich die ärmste und isolierteste Gegend der syrisch-kurdischen Gebiete, die nach der Ideologie der PKK Teil einer demokratischen Konföderation autonomer Einheiten sein sollen.
Von drei Seiten vom "Islamischen Staat" eingeschnürt, kommt der Schlacht um Kobane auch deshalb große symbolische Bedeutung zu, weil sie für den Kampf der Kurden für Autonomie steht. Noch vor hundert Jahren, so Schmidinger, sei die Idee eines eigenständigen kurdischen Nationalstaats "eine extrem randständige Idee einiger weniger urbaner Intellektueller" gewesen. Bis heute hielten sich die Widerstände gegen die Zentralisierung der Macht in Form eines Staates.
Der informative Band wurde nach Beginn der Luftangriffe aus IS-Stellungen im Irak und in Syrien abgeschlossen, sodass auch die innerkurdische Debatte über Sinn und Zweck ausländischer Intervention Eingang gefunden hat. Die Position der PKK-nahen Kurdenführung im Kampf gegen die Dschihadisten ist eindeutig: "In der akuten Bedrohungssituation dieser Tage brauchen wir die Unterstützung der Nato, der Europäischen Union und der internationalen Institutionen, damit wir dieses Massaker noch aufhalten können", sagt Enwer Muslim, Ministerpräsident des Kantons Kobane.
Muslim ist eine der Stimmen aus "Rojava", die Schmidinger im zweiten Band seines Buches vorstellt. Mehr als dreißig Gesprächspartner, die er auf zwei Reisen in das Kriegsgebiet getroffen hat, kommen in Interviews direkt zu Wort - und liefern einen Einblick in die Vielfalt und Zerrissenheit der syrisch-kurdischen Szene. Funktionäre der PYD (Partei der Demokratischen Union), der Schwesterpartei der PKK, zählen ebenso dazu wie dezidierte Gegner der um internationale Anerkennung werbenden, ehemals marxistisch-leninistischen Organisation. Siamend Hajo, der Sprecher der Kurdischen Zukunftsbewegung in Europa, sagt, die PYD sei eine "totalitäre Partei mit Alleinvertretungsanspruch", die nicht in Wahlen an die Macht gelangt sei. Seit sich das Assad-Regime 2012 aus den kurdischen Gebieten zurückgezogen habe, hätten ihre Sicherheitskräfte mindestens dreißig PYD-Kritiker getötet und mehr als 400 entführt.
MARKUS BICKEL
Thomas Schmidinger: Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan - Analysen und Stimmen aus Rojava. Mandelbaum Verlag, Wien 2014. 264 S., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Geschichte Syrisch-Kurdistans mit aktuellen Stimmen aus dem Kriegsgebiet
Zwei Ereignisse haben Syriens Kurden 2014 in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit gerückt: die Schlacht um Kobane sowie die Rettung der Yeziden vor einem Genozid im Sindschar-Gebirge im August. Und der Kampf geht weiter: An vorderster Front stehen seit mehr als einem Jahr die syrisch-kurdischen "Volksverteidigungseinheiten" (YPG) den sunnitischen Extremisten des "Islamischen Staats" gegenüber. Zuvor hatten sie ein Schattendasein geführt - ganz anders als die Kurden in der Türkei und im Irak. So sind der interessierten Öffentlichkeit der bewaffnete Kampf der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) Abdullah Öcalans gegen den türkischen Staat und die Absetzbewegung der autonomen Region Irakisch-Kurdistan unter Massud Barzani vom Zentralstaat in Bagdad seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten vertraut.
Selten war hingegen von Syriens Kurden die Rede, obwohl sie unter den Regimen von Hafiz al Assad und dessen Sohn Baschar al Assad immer wieder heftiger Repression ausgesetzt waren. Ein Aufstand in ihrer Hochburg Qamischli wurde 2004 brutal niedergeschlagen; damals war Öcalan bereits fünf Jahre inhaftiert. Da Öcalan wenige Jahre nach Gründung der PKK, von den türkischen Putschgenerälen 1980 verfolgt, Zuflucht in Syrien gefunden hatte und ihm später das Assad-Regime in der libanesischen Bekaa-Ebene ein Ausbildungslager zugesichert hatte, sorgte er auch dafür, dass sich die politischen Führer der syrischen Kurden nicht gegen Damaskus auflehnten. Er ging sogar so weit, sie als "kurdische Flüchtlinge aus der Türkei" zu bezeichnen. Dass Syriens Kurden bis heute nicht auf Sezession aus dem vom Krieg zerrissenen Gesamtstaat dringen, hat mit dieser Prägung aus den ersten Dekaden der Assad-Diktatur zu tun, aber auch damit, dass die syrische Exilopposition am arabischen Charakter Syriens festhalten will.
In seinem Buch "Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan" zeichnet der Wiener Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger die wechselvolle Geschichte zwischen ethnischer Selbstbestimmung und politischer Anpassung nach; er berücksichtigt dabei die geographische, kulturelle sowie soziale Einbettung in eine multiethnische und multireligiöse Umgebung. Die nüchterne Faktensammlung setzt lange vor der Machtergreifung der Baath-Partei 1970 in Damaskus ein und beschreibt, wie die drei Kantone Afrin, Kobane und Cizire des als Rojava bezeichneten Gebiets lange lediglich das ländliche Hinterland von heute in der Türkei liegenden urbanen Zentren bildeten. Übersetzt bedeutet Rojava so viel wie "Land, wo die Sonne untergeht", politisch synonym wird auch der Begriff "Westkurdistan" verwendet. Türkisch-Kurdistan im Norden, Iranisch-Kurdistan im Osten sowie Irakisch-Kurdistan im Süden komplettieren die kurdische Landkarte.
Erst unter französischer Protektoratsherrschaft wurden die beiden größten Städte Rojavas, Hassakeh und Qamischli, wiedergegründet. Kobane, das als kleinster der drei kurdischen Kantone im Herbst 2014 in den Fokus der Weltöffentlichkeit gelangte, ist zugleich die ärmste und isolierteste Gegend der syrisch-kurdischen Gebiete, die nach der Ideologie der PKK Teil einer demokratischen Konföderation autonomer Einheiten sein sollen.
Von drei Seiten vom "Islamischen Staat" eingeschnürt, kommt der Schlacht um Kobane auch deshalb große symbolische Bedeutung zu, weil sie für den Kampf der Kurden für Autonomie steht. Noch vor hundert Jahren, so Schmidinger, sei die Idee eines eigenständigen kurdischen Nationalstaats "eine extrem randständige Idee einiger weniger urbaner Intellektueller" gewesen. Bis heute hielten sich die Widerstände gegen die Zentralisierung der Macht in Form eines Staates.
Der informative Band wurde nach Beginn der Luftangriffe aus IS-Stellungen im Irak und in Syrien abgeschlossen, sodass auch die innerkurdische Debatte über Sinn und Zweck ausländischer Intervention Eingang gefunden hat. Die Position der PKK-nahen Kurdenführung im Kampf gegen die Dschihadisten ist eindeutig: "In der akuten Bedrohungssituation dieser Tage brauchen wir die Unterstützung der Nato, der Europäischen Union und der internationalen Institutionen, damit wir dieses Massaker noch aufhalten können", sagt Enwer Muslim, Ministerpräsident des Kantons Kobane.
Muslim ist eine der Stimmen aus "Rojava", die Schmidinger im zweiten Band seines Buches vorstellt. Mehr als dreißig Gesprächspartner, die er auf zwei Reisen in das Kriegsgebiet getroffen hat, kommen in Interviews direkt zu Wort - und liefern einen Einblick in die Vielfalt und Zerrissenheit der syrisch-kurdischen Szene. Funktionäre der PYD (Partei der Demokratischen Union), der Schwesterpartei der PKK, zählen ebenso dazu wie dezidierte Gegner der um internationale Anerkennung werbenden, ehemals marxistisch-leninistischen Organisation. Siamend Hajo, der Sprecher der Kurdischen Zukunftsbewegung in Europa, sagt, die PYD sei eine "totalitäre Partei mit Alleinvertretungsanspruch", die nicht in Wahlen an die Macht gelangt sei. Seit sich das Assad-Regime 2012 aus den kurdischen Gebieten zurückgezogen habe, hätten ihre Sicherheitskräfte mindestens dreißig PYD-Kritiker getötet und mehr als 400 entführt.
MARKUS BICKEL
Thomas Schmidinger: Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan - Analysen und Stimmen aus Rojava. Mandelbaum Verlag, Wien 2014. 264 S., 16,90 [Euro].
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