»Sie war auf eine bissige Art brillant und dennoch vollkommen loyal, unprätentiös und unerbittlich gegenüber jeder Art von Augenwischerei. Sie war eine vollendete Künstlerin und ein vollendeter Clown, zugleich eine Hinterwäldlerin aus Upstate New York und eine kosmopolitische Grande Dame, kaltes, soigniertes fashion model und Wildfang.« David E. Scherman
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Weniger eine Besprechung als vielmehr ein Porträt des einstigen Man-Ray-Modells und späteren Fotoreporterin Lee Miller legt Michael Sontheimer vor. In seinem ausführlichen, von vielen Zitaten aus Millers begleitenden Artikeln unterfüttertem Text schildert er, dass die Fotografin ihre Arbeit während des Zweiten Weltkriegs insbesondere auch als Engagement im Kampf gegen das "Dritte Reich" verstand. Ihre Motivation war dabei explizit nicht pazifistisch, sondern agitatorisch, erklärt der Rezensent. Und spätestens bei der Befreiung des KZ Buchenwalds festigte sich schließlich auch ihr unversöhnlicher Hass gegen die Deutschen, der sich wie ein roter Faden durch diesen Band zieht, schreibt Sontheimer, der Millers Texte zu den Bildern sehr zu schätzen weiß. Sie schreibt "ausgesprochen modern: subjektiv, selten hochgestochen, meist in Alltagssprache". Für den Kritiker wirkt dies zum Teil schon wie eine Vorwegnahme dessen, was Hunter S. Thompson später unter dem Begriff "New Journalism" etablieren würde. Schade und bezeichnend, so Sontheimer schließlich, dass diese "ganz große Reporterin", die sich nach dem Krieg ins Privatleben zurückzog und in den 70ern an Krebs starb, so lange in Vergessenheit geraten ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2015NEUE TASCHENBÜCHER
Lee Miller, ein
Model im Krieg
Sie war die Frau in Hitlers Badewanne – das Bild davon, München im Frühjahr 1945, beim Vormarsch der Amerikaner, ist legendär. Für einige Monate hat Lee Miller die Soldaten begleitet, Fotos geschossen und Artikel geschickt, an Life oder Vogue. Eine Kriegskorrespondentin, die aus einer mondänen Welt kam, Model für den Fotokünstler Edward Steichen, verheiratet mit Roland Penrose, vertraut mit Picasso und Cocteau (in dessen „Sang d’un poète“ sie als Statue figuriert). Im Elsass ist sie ’45 Audie Murphy begegnet, dem meistdekorierten Infanteristen, wie er erbeutete Mörsermunition der Krauts abschleppt. Der Band „Krieg“ sammelt ihre Fotos und Reportagen, von einer unsentimentalen, müden Melancholie. „Auch dort dieser Gestank. Es roch nicht direkt nach Tod. Leichen verwesten nicht, weil es zu kalt war . . . Wir sind alle falsch konditioniert worden . . . Wir hätten Nachtclubs, gefährlichen Situationen und unbekannten Gegenden ausgesetzt sein sollen, und das bei wenig Schlaf, um auf dies hier, unser Leben, vorbereitet zu werden . . . Man hätte uns beibringen sollen, wie wir mit einem Brotkanten überleben und uns wie Straßenkinder durchbetteln können.“
FRITZ GÖTTLER
Lee Miller: Krieg. Mit den Alliierten in Europa 1944–1945. Reportagen und Fotos. Aus dem Englischen von Andreas Hahn, Norbert Hofmann.
btb, 271 S., 11,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Lee Miller, ein
Model im Krieg
Sie war die Frau in Hitlers Badewanne – das Bild davon, München im Frühjahr 1945, beim Vormarsch der Amerikaner, ist legendär. Für einige Monate hat Lee Miller die Soldaten begleitet, Fotos geschossen und Artikel geschickt, an Life oder Vogue. Eine Kriegskorrespondentin, die aus einer mondänen Welt kam, Model für den Fotokünstler Edward Steichen, verheiratet mit Roland Penrose, vertraut mit Picasso und Cocteau (in dessen „Sang d’un poète“ sie als Statue figuriert). Im Elsass ist sie ’45 Audie Murphy begegnet, dem meistdekorierten Infanteristen, wie er erbeutete Mörsermunition der Krauts abschleppt. Der Band „Krieg“ sammelt ihre Fotos und Reportagen, von einer unsentimentalen, müden Melancholie. „Auch dort dieser Gestank. Es roch nicht direkt nach Tod. Leichen verwesten nicht, weil es zu kalt war . . . Wir sind alle falsch konditioniert worden . . . Wir hätten Nachtclubs, gefährlichen Situationen und unbekannten Gegenden ausgesetzt sein sollen, und das bei wenig Schlaf, um auf dies hier, unser Leben, vorbereitet zu werden . . . Man hätte uns beibringen sollen, wie wir mit einem Brotkanten überleben und uns wie Straßenkinder durchbetteln können.“
FRITZ GÖTTLER
Lee Miller: Krieg. Mit den Alliierten in Europa 1944–1945. Reportagen und Fotos. Aus dem Englischen von Andreas Hahn, Norbert Hofmann.
btb, 271 S., 11,99 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2014Das Kriegsende, beißend und bitter wie am ersten Tag
Frühling im Land der Mörder: Lee Millers Reportagen aus den Jahren 1944 und 1945 zusammen mit den berühmten Fotos in einer längst überfälligen Edition
Es gibt nur wenige Stellen in diesem Buch, die Lee Millers Herkunft aus dem europäischen Surrealismus verraten. Eine davon handelt von der Belagerung der deutschen Atlantikfestung Saint-Malo: "Verängstigte Katzen streunten einsam herum. Ein aufgequollener Pferdekadaver hatte dem hinter ihm liegenden amerikanischen Soldaten keine ausreichende Deckung geben können. Blumentöpfe standen in Fenstern, hinter denen es keine Zimmer mehr gab ... Mein Stiefelabsatz bohrte sich in eine abgetrennte Hand, und ich verfluchte die Deutschen für die fürchterliche Zerstörung, die sie über diese ehemals so schöne Stadt gebracht hatten."
Es ist August 1944, und Lee Miller, das It-Girl und Supermodel aus dem New York der späten Zwanziger, die frühere Geliebte und Mitarbeiterin Man Rays und Freundin von Picasso und Jean Cocteau, ist nach Frankreich gekommen, um für das Magazin "Vogue" über den Feldzug der Westalliierten zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus zu berichten. Es war ein weiter Weg vom Fotoatelier und von den Salons von Manhattan in die Straßen von Saint-Malo - wie weit, das merkt man manchmal noch, wenn Miller vom "Chiaroscuro aus Khaki und Weiß" in einem Feldlazarett oder von der "Dromomanie" der stürmenden Soldaten während eines Angriffs schreibt.
Aber dieses Bildungsgerede verfliegt. Millers Erzählton wird härter, schlanker, nüchterner. Im Elsass, während des Vormarschs auf die deutschen Linien bei Colmar, denkt sie über ihr Vorkriegsleben nach: "Wir sind alle falsch konditioniert worden. Warum regelmäßige Essenszeiten? Warum ausreichendes, kalorien- und vitaminreiches Essen? Man hätte uns beibringen sollen, wie wir mit einem Brotkanten überleben und uns wie Straßenkinder durchbetteln können."
Bevor Lee Miller zur Kriegskorrespondentin wurde, schreibt ihr alter Fotografenkollege und Freund David E. Scherman im Vorwort zu diesem Buch, habe sie allenfalls Einkaufszettel verfasst. Das mag kaum glauben, wer die gestochene Prosa schon der ersten Reportage aus dem Armeelazarett am Omaha Beach liest, und vielleicht ist Scherman auch nicht der allerverlässlichste Zeitzeuge; auf kaum fünfzehn Seiten Text schafft er es, Pearl Harbor in die Hände der Japaner fallen zu lassen und das Elsass mit Savoyen zu verwechseln. Fest steht aber, dass Lee Miller selbst ihre journalistischen Arbeiten bald nur noch als Ballast behandelte. Nach Kriegsende berichtete sie noch eine Weile aus Osteuropa, dann kehrte sie nach England zurück, heiratete ihren Lebensgefährten Roland Penrose, packte ihre Reportagen und Fotoplatten auf den Speicher und wurde zu einer depressiven, alkoholsüchtigen Greisin. 1977 starb sie an Krebs.
Seit den achtziger Jahren hat nun Millers Sohn Antony Penrose den Nachlass seiner Mutter erschlossen, Wanderausstellungen ihrer Fotos kuratiert und das Leben seiner Eltern in mehreren Büchern geschildert; das englische Original der Reportagensammlung erschien bereits 1992. "Lee Miller: Krieg" ist also ein Nachzügler, und doch versteht man erst nach diesem Band richtig, warum die amerikanische Muse der Surrealisten im zivilen Leben nicht mehr richtig auf die Beine kam. Die Kriegszeit war die beste Zeit ihres Lebens. Lee Miller wusste, wie man sich als war correspondent benimmt, sie hatte ihren Hemingway gelesen und die Lebensform des Schützen mit der Schreibmaschine wie eine Hosenrolle einstudiert.
Im Pariser Hotel "Scribe", in dem die deutschen Besatzer ihre Nachrichtenzentrale unterhalten hatten, bezog Miller ein Zimmer, das alsbald mit Gewehren, Blitzlichtkisten, Cognacflaschen und Fahnen vollgestopft war; auf dem Balkon stapelten sich Benzinkanister. Die Fotografien, die dem Band beigefügt und zum größeren Teil schon in Bildbänden erschienen sind, zeigen eine attraktive, manchmal müde wirkende Enddreißigerin, die ihre Uniform wie eine Auszeichnung trägt. Das von Scherman aufgenommene Foto, auf dem Lee Miller mit sonnenverbranntem Gesicht in der Badewanne von Hitlers Privatwohnung in München sitzt, ist zur Ikone ihres Lebens geworden. Und doch verdeckt die stolze Pose mehr, als sie enthüllt. Lee Miller ist nicht mit den amerikanischen Truppen nach Torgau und München und weiter bis zu Hitlers Berghof in Berchtesgaden gezogen, um zu baden. Sie hatte einen tieferen Grund, Nazi-Deutschland schreibend zu erobern. Und dieser Grund war der Hass.
"Deutschland ist ein schönes Land. Makellose Birken und zarte Weiden säumen die Flüsse, und die winzigen Städte bestehen ganz aus pastellfarbenem Putz ... Die Kinder haben Stelzen, Murmeln, Kreisel und Reifen und spielen mit Puppen. Mütter nähen, putzen und backen, Bauern pflügen und eggen; alles wie bei richtigen Menschen. Aber das sind sie nicht. Sie sind der Feind." Denn Deutschland ist das Land der Lager. Schon in den ersten Texten ist von ihnen die Rede, und Miller verachtet sich selbst für das Mitgefühl, das sie dennoch den deutschen Gefangenen und ihren französischen Kollaborateuren entgegenbringt. Über Weimar und Buchenwald, Aachen, Leipzig, Jena und Nürnberg kommt die Kriegskorrespondentin schließlich nach Dachau.
Dieser Ort ist der Fluchtpunkt ihrer ganzen Reise. Im Wassergraben, der das Lager umgibt, treiben tote SS-Soldaten. Einer der Wärter hat sich erhängt; Miller fotografiert seinen Kopf mit der heraushängenden Zunge. Angewidert betrachtet sie die Angorakaninchen, die von den Kapos gezüchtet und besser mit Nahrung versorgt wurden als die Häftlinge. Die deutsche Bevölkerung, die von den Alliierten in Dachau und Buchenwald durch die Baracken geführt wird, will von alldem nichts gewusst haben. "Welche Verdrängungsleistung in ihren schlecht belüfteten Hirnwindungen bringt sie zu der Vorstellung, sie seien ein befreites Volk und kein besiegtes?"
Es gibt auch schöne Passagen über Cocteau, das Ehepaar Éluard und den Schauspieler Maurice Chevalier in diesem Buch, über Picasso, der ein neues Porträt der Autorin malen will und über die Gesichter der Frauen räsoniert, die von der Résistance kahlgeschoren wurden, über die rührend verschrobene Colette und die ersten improvisierten Modenschauen im befreiten Paris. Aber sie haben historische Patina angesetzt. Das jedoch, was Lee Miller in ihren Reportagen aus dem besetzen Deutschland festgehalten hat, ist nicht gealtert. Es ist die Stimmung des Kriegsendes. Sie schmeckt frisch und beißend und bitter wie am ersten Tag.
ANDREAS KILB.
"Lee Miller: Krieg". Mit den Alliierten in Europa 1944-1945. Reportagen und Fotos.
Aus dem Englischen von Andreas Hahn und Norbert Hoffmann. Edition Tiamat, Berlin 2013. 271 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frühling im Land der Mörder: Lee Millers Reportagen aus den Jahren 1944 und 1945 zusammen mit den berühmten Fotos in einer längst überfälligen Edition
Es gibt nur wenige Stellen in diesem Buch, die Lee Millers Herkunft aus dem europäischen Surrealismus verraten. Eine davon handelt von der Belagerung der deutschen Atlantikfestung Saint-Malo: "Verängstigte Katzen streunten einsam herum. Ein aufgequollener Pferdekadaver hatte dem hinter ihm liegenden amerikanischen Soldaten keine ausreichende Deckung geben können. Blumentöpfe standen in Fenstern, hinter denen es keine Zimmer mehr gab ... Mein Stiefelabsatz bohrte sich in eine abgetrennte Hand, und ich verfluchte die Deutschen für die fürchterliche Zerstörung, die sie über diese ehemals so schöne Stadt gebracht hatten."
Es ist August 1944, und Lee Miller, das It-Girl und Supermodel aus dem New York der späten Zwanziger, die frühere Geliebte und Mitarbeiterin Man Rays und Freundin von Picasso und Jean Cocteau, ist nach Frankreich gekommen, um für das Magazin "Vogue" über den Feldzug der Westalliierten zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus zu berichten. Es war ein weiter Weg vom Fotoatelier und von den Salons von Manhattan in die Straßen von Saint-Malo - wie weit, das merkt man manchmal noch, wenn Miller vom "Chiaroscuro aus Khaki und Weiß" in einem Feldlazarett oder von der "Dromomanie" der stürmenden Soldaten während eines Angriffs schreibt.
Aber dieses Bildungsgerede verfliegt. Millers Erzählton wird härter, schlanker, nüchterner. Im Elsass, während des Vormarschs auf die deutschen Linien bei Colmar, denkt sie über ihr Vorkriegsleben nach: "Wir sind alle falsch konditioniert worden. Warum regelmäßige Essenszeiten? Warum ausreichendes, kalorien- und vitaminreiches Essen? Man hätte uns beibringen sollen, wie wir mit einem Brotkanten überleben und uns wie Straßenkinder durchbetteln können."
Bevor Lee Miller zur Kriegskorrespondentin wurde, schreibt ihr alter Fotografenkollege und Freund David E. Scherman im Vorwort zu diesem Buch, habe sie allenfalls Einkaufszettel verfasst. Das mag kaum glauben, wer die gestochene Prosa schon der ersten Reportage aus dem Armeelazarett am Omaha Beach liest, und vielleicht ist Scherman auch nicht der allerverlässlichste Zeitzeuge; auf kaum fünfzehn Seiten Text schafft er es, Pearl Harbor in die Hände der Japaner fallen zu lassen und das Elsass mit Savoyen zu verwechseln. Fest steht aber, dass Lee Miller selbst ihre journalistischen Arbeiten bald nur noch als Ballast behandelte. Nach Kriegsende berichtete sie noch eine Weile aus Osteuropa, dann kehrte sie nach England zurück, heiratete ihren Lebensgefährten Roland Penrose, packte ihre Reportagen und Fotoplatten auf den Speicher und wurde zu einer depressiven, alkoholsüchtigen Greisin. 1977 starb sie an Krebs.
Seit den achtziger Jahren hat nun Millers Sohn Antony Penrose den Nachlass seiner Mutter erschlossen, Wanderausstellungen ihrer Fotos kuratiert und das Leben seiner Eltern in mehreren Büchern geschildert; das englische Original der Reportagensammlung erschien bereits 1992. "Lee Miller: Krieg" ist also ein Nachzügler, und doch versteht man erst nach diesem Band richtig, warum die amerikanische Muse der Surrealisten im zivilen Leben nicht mehr richtig auf die Beine kam. Die Kriegszeit war die beste Zeit ihres Lebens. Lee Miller wusste, wie man sich als war correspondent benimmt, sie hatte ihren Hemingway gelesen und die Lebensform des Schützen mit der Schreibmaschine wie eine Hosenrolle einstudiert.
Im Pariser Hotel "Scribe", in dem die deutschen Besatzer ihre Nachrichtenzentrale unterhalten hatten, bezog Miller ein Zimmer, das alsbald mit Gewehren, Blitzlichtkisten, Cognacflaschen und Fahnen vollgestopft war; auf dem Balkon stapelten sich Benzinkanister. Die Fotografien, die dem Band beigefügt und zum größeren Teil schon in Bildbänden erschienen sind, zeigen eine attraktive, manchmal müde wirkende Enddreißigerin, die ihre Uniform wie eine Auszeichnung trägt. Das von Scherman aufgenommene Foto, auf dem Lee Miller mit sonnenverbranntem Gesicht in der Badewanne von Hitlers Privatwohnung in München sitzt, ist zur Ikone ihres Lebens geworden. Und doch verdeckt die stolze Pose mehr, als sie enthüllt. Lee Miller ist nicht mit den amerikanischen Truppen nach Torgau und München und weiter bis zu Hitlers Berghof in Berchtesgaden gezogen, um zu baden. Sie hatte einen tieferen Grund, Nazi-Deutschland schreibend zu erobern. Und dieser Grund war der Hass.
"Deutschland ist ein schönes Land. Makellose Birken und zarte Weiden säumen die Flüsse, und die winzigen Städte bestehen ganz aus pastellfarbenem Putz ... Die Kinder haben Stelzen, Murmeln, Kreisel und Reifen und spielen mit Puppen. Mütter nähen, putzen und backen, Bauern pflügen und eggen; alles wie bei richtigen Menschen. Aber das sind sie nicht. Sie sind der Feind." Denn Deutschland ist das Land der Lager. Schon in den ersten Texten ist von ihnen die Rede, und Miller verachtet sich selbst für das Mitgefühl, das sie dennoch den deutschen Gefangenen und ihren französischen Kollaborateuren entgegenbringt. Über Weimar und Buchenwald, Aachen, Leipzig, Jena und Nürnberg kommt die Kriegskorrespondentin schließlich nach Dachau.
Dieser Ort ist der Fluchtpunkt ihrer ganzen Reise. Im Wassergraben, der das Lager umgibt, treiben tote SS-Soldaten. Einer der Wärter hat sich erhängt; Miller fotografiert seinen Kopf mit der heraushängenden Zunge. Angewidert betrachtet sie die Angorakaninchen, die von den Kapos gezüchtet und besser mit Nahrung versorgt wurden als die Häftlinge. Die deutsche Bevölkerung, die von den Alliierten in Dachau und Buchenwald durch die Baracken geführt wird, will von alldem nichts gewusst haben. "Welche Verdrängungsleistung in ihren schlecht belüfteten Hirnwindungen bringt sie zu der Vorstellung, sie seien ein befreites Volk und kein besiegtes?"
Es gibt auch schöne Passagen über Cocteau, das Ehepaar Éluard und den Schauspieler Maurice Chevalier in diesem Buch, über Picasso, der ein neues Porträt der Autorin malen will und über die Gesichter der Frauen räsoniert, die von der Résistance kahlgeschoren wurden, über die rührend verschrobene Colette und die ersten improvisierten Modenschauen im befreiten Paris. Aber sie haben historische Patina angesetzt. Das jedoch, was Lee Miller in ihren Reportagen aus dem besetzen Deutschland festgehalten hat, ist nicht gealtert. Es ist die Stimmung des Kriegsendes. Sie schmeckt frisch und beißend und bitter wie am ersten Tag.
ANDREAS KILB.
"Lee Miller: Krieg". Mit den Alliierten in Europa 1944-1945. Reportagen und Fotos.
Aus dem Englischen von Andreas Hahn und Norbert Hoffmann. Edition Tiamat, Berlin 2013. 271 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main