Frieden ist nicht genug
"War! What is it good for? Absolutely nothing" - heißt es in einem legendären Antikriegssong. Stimmt nicht, sagt Stanford-Historiker Ian Morris. Seine umfassende Globalgeschichte enthüllt eine ungeheuerliche Wahrheit: Zu allen Zeiten hat Krieg Leben vernichtet - aber auch Innovationen gebracht, Gesellschaften erneuert, Frieden und Fortschritt vorangetrieben. Der Krieg hat etwas Gutes, lautet die kontroverse These vom Meister des "Big Picture". Ist Krieg als Triebfeder des Fortschritts sogar notwendig - auch heute noch? Morris riskiert nicht nur eine provokante Frage, er ist auch in der Lage, sie zu beantworten.
"War! What is it good for? Absolutely nothing" - heißt es in einem legendären Antikriegssong. Stimmt nicht, sagt Stanford-Historiker Ian Morris. Seine umfassende Globalgeschichte enthüllt eine ungeheuerliche Wahrheit: Zu allen Zeiten hat Krieg Leben vernichtet - aber auch Innovationen gebracht, Gesellschaften erneuert, Frieden und Fortschritt vorangetrieben. Der Krieg hat etwas Gutes, lautet die kontroverse These vom Meister des "Big Picture". Ist Krieg als Triebfeder des Fortschritts sogar notwendig - auch heute noch? Morris riskiert nicht nur eine provokante Frage, er ist auch in der Lage, sie zu beantworten.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ian Morris mag seine These, dass Krieg nicht unnütz ist, noch so sehr als neu und provokant inszenieren, im Grunde setzt er nur "von jeher bestehende Praxis ins Recht", berichtet Burkhard Müller. Die praktischen und moralischen Argumentationen orientieren sich in utilitaristischer Manier am Glück der größten Zahl, dem durch die größeren Strukturen nur geholfen worden sei, die oft das Ergebnis von Kriegen waren, der imperiale Frieden in verschiedenen Größenordnungen also, erklärt der Rezensent. Die Gegenargumente gegen eine Quantifizierung von Glück und Leid sind bekannt, meint Müller. Spannender findet der Rezensent Morris' Überlegungen über die militärische Zukunft. Der Autor prognostiziert einen "kritischen Flaschenhals der Menschheitsgeschichte", an dessen Ende eventuell dann das Ende aller Kriege stehen könnte, so Müller, der zwar Morris' Befürchtungen, aber nicht dessen Glauben an den Frieden danach teilt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2013Mit den Siegern kam die Sicherheit
Früher wollte man Kriege gewinnen, heute will man sie vermeiden: Barbara Kuchler und Ian Morris denken über die veränderte Wahrnehmung kriegerischer Gewalt von der Steinzeit bis heute nach.
Kann Krieg zu etwas gut sein? In Deutschland gilt dies seit 1945 als eine rhetorische Frage. Ernsthaft gestellt wird sie allenfalls, wenn Entscheidungen über Interventionen in Krisenregionen auf die politische Tagesordnung kommen. Doch auch dann wird diese Frage meist mit einem Nein beantwortet - eine Reaktion, die zunehmend auch bislang eher interventionsbereite Mächte des Westens wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich zeigen.
Umso mehr dürfte das neue Werk von Ian Morris die westliche Öffentlichkeit irritieren. Der in Stanford lehrende Historiker stellt die These auf, dass Krieg sehr wohl zu etwas gut sei. Er habe die Menschheit - auf lange Sicht - sicherer und reicher gemacht: "Krieg ist die Hölle; nur dass die Alternativen - wieder auf lange Sicht betrachtet - schlimmer gewesen wären." Um seine These zu belegen, unternimmt Morris einen Ritt durch die kriegerische Geschichte der Menschheit.
Hier macht er vier Langzeitentwicklungen aus, auf denen er seine Argumentation aufbaut. Zunächst hätten Kriege zu zahlenmäßig größeren Gesellschaften höherer Ordnung geführt und diese zu einem verminderten Risiko, dass eines ihrer Mitglieder eines gewaltsamen Todes sterbe. Zum Beleg macht Morris eine einfache Rechnung auf: Schätzungen zufolge wurden in den Gesellschaften der Steinzeit zwischen zehn und zwanzig Prozent aller Menschen durch ihre Mitmenschen getötet. Demgegenüber stellt er das zwanzigste Jahrhundert mit seinen beiden Weltkriegen, einer Reihe von Völkermorden und staatlich inszenierten Hungerkatastrophen. Da 1945 rund zweieinhalb Milliarden Menschen auf der Welt lebten und am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sechs Milliarden, machen die hundert bis zweihundert Millionen kriegsbedingten Toten "nur" ein bis zwei Prozent der Weltbevölkerung in diesem Zeitraum aus.
Damit ist nach der Gleichung von Morris die Wahrscheinlichkeit für einen Menschen im zwanzigsten Jahrhundert, gewaltsam oder durch die Folgen von Gewalt ums Leben zu kommen, zehnmal geringer als in der Steinzeit. Scheint Morris von dieser Statistik selbst ein wenig überrascht, so bietet er eine Erklärung für sie an, die in der Tat "noch weit mehr überrascht" - allerdings weniger im Sinne von Morris in seiner selbst gewählten Rolle des Advocatus Diaboli, sondern aufgrund ihrer ahistorischen Monokausalität - andere grundlegende Entwicklungen wie die Entstehung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ausblendend: "Was die Welt um so vieles sicherer gemacht hat, war nichts anderes als der Krieg."
Das sei dadurch gekommen, dass vor etwa zehntausend Jahren die Sieger von Kriegen die Besiegten größeren Gesellschaften einzuverleiben begannen, die wiederum nur funktionieren konnten, wenn ihre Herrscher stärkere Staaten entwickelten. Mit das Erste, wofür diese Staaten hätten sorgen müssen, wollten sie an der Macht bleiben, sei die Unterdrückung der Gewalt innerhalb der Gesellschaft gewesen. Die historische Nebenwirkung: der Rückgang gewaltsamer Todesfälle zwischen der Steinzeit und dem zwanzigsten Jahrhundert um neunzig Prozent. Allzu schlicht wirkt auch die Schlussfolgerung aus einer zweiten Beobachtung, die Morris bei der Betrachtung der Menschheitsgeschichte gemacht haben will: Krieg sei zwar die schlimmste Methode zur Schaffung größerer, friedfertigerer Gesellschaften, aber andererseits so ziemlich die einzige, auf die der Mensch gekommen sei. Auch die dritte Langzeitentwicklung, die Morris auszumachen meint, soll seine These untermauern: So wie die vom Krieg geschaffenen größeren Gesellschaften den Menschen ein sichereres Leben beschert hätten, so hätten sie "uns" auch reicher gemacht - durch wirtschaftliches Wachstum und steigende Lebensstandards.
Im Laufe der Zeit - vielleicht erst nach Jahrhunderten - stehe in der durch Krieg geschaffenen größeren Gesellschaft "jeder", die Nachkommen der Sieger wie die der Besiegten, besser da. Das Langzeitmuster sei auch hier unverkennbar: "Durch die Schaffung größerer Gesellschaften, stärkerer Staaten und größerer Sicherheit hat der Krieg die Welt bereichert." Morris glaubt nicht nur, dass Krieg die Menschheit sicherer und reicher gemacht hat, sondern dass dieser sich heute selbst um sein Geschäft bringt - zu destruktiv seien die Waffen geworden, zu effizient die Organisation. Hier hat Morris die klassische Konfrontation zwischen Staaten vor Augen - zusammen mit der gegenseitigen Vernichtungsgarantie der nuklearen Abschreckung des Kalten Krieges. Den asymmetrischen Krieg, der heute die dominierende Kriegsform darstellt und zu einem ganz eigenen Politik- und Geschäftsmodell geworden ist, blendet Morris aus. Nur so ist sein Optimismus zu erklären, dass der "uralte Traum einer Welt ohne Krieg" in Erfüllung gehen könnte.
Wie sehr Morris in seiner Argumentation zu kurz springt, wird bei Barbara Kuchler deutlich. Die Bielefelder Soziologin nimmt ebenfalls die Kriegsgeschichte als Ganzes ins Visier. Doch ihr Anliegen scheint weder die öffentliche Provokation noch die reißerische These als solche. Vielmehr geht sie grundlegenden Fragen nach, um die Rolle des Krieges in der Gesellschaft bestimmen zu können - mit wertvollen Ergebnissen, die überraschen dürften, da sie in der medialen Öffentlichkeit mit ihrem kurzen Erinnerungshorizont allzu rasch wieder in Vergessenheit geraten. So erinnert Kuchler daran, dass die heute geläufige Einschätzung von Krieg als etwas Schrecklichem historisch jung ist und Kriegführung über den größten Teil der Geschichte als ehrenvolles und nützliches Tätigkeitsfeld galt. Folglich stellen auch Autoren, die sich mit Krieg befassen, nahezu die gesamte Geschichte hindurch vorzugsweise die Frage, wie man Kriege gewinnen kann, und nicht - wie heute verbreitet - wie man sie vermeiden, verkürzen oder gar abschaffen kann.
Doch warum ist heute die Wertung, dass Krieg etwas Schlechtes sei, in der Gesellschaft ohne Alternative? Abweichungen hiervon erkennt Kuchler nur in zwei Fällen: Wenn Krieg in Form einer Intervention als kleineres Übel gegenüber dem propagiert wird, was sonst geschehen würde - Eroberungszüge oder Entfaltung brutaler Regimes. Hier gilt Krieg als Mittel zu einem für wichtig gehaltenen Zweck, nicht als Instrument an sich. Oder Krieg wird geschätzt, wenn man als "Kriegsherr" Profite von ihm zu erwarten hat - ein extrem partikularer Standpunkt, der von fast allen Beobachtern für unmoralisch oder kriminell gehalten wird.
Um den sich wandelnden Blick von Gesellschaften auf Krieg verstehen zu können, weist Kuchler auf die von Niklas Luhmann beschriebene Strukturform der modernen Gesellschaft hin, die diese in ein Nebeneinander von etwa einem Dutzend Teilsystemen wie Politik, Wirtschaft, Recht, Bildung und Wissenschaft zerfallen lässt, die sich für die Beteiligung prinzipiell aller Menschen offenhalten. Diese Inklusion bedeutet nach Kuchlers Analyse, dass neue Formen für die Teilnahme von Menschen an Kriegen entstehen - die allgemeine Wehrpflicht, aber auch die Möglichkeit der Selbstrekrutierung für Guerrillakriege oder der Mobilisierung für die "Heimatfront" sowie der planvollen Tötung oder Vertreibung einer politisch unliebsamen Bevölkerung. Damit erwerben Kriege ein Potential für ausufernde Betroffenheiten.
Entscheidender für die Wahrnehmungsveränderung von Krieg erscheint Kuchler noch ein anderer Punkt: Der Inklusionstrend hat zur Folge, dass der Beobachterstandpunkt für gesamtgesellschaftlich vertretbare Wertungen sich mehr und mehr auf die Position der Inklusionsrolle verschiebt. Daher werden auch Kriege - und das ist das historisch Neue - zunehmend aus der Perspektive der Zivilisten, der unschuldig leidenden Opfer oder indirekt Betroffenen beurteilt - statt aus der Sicht der Kriegführenden: "Und unter dieser Prämisse ist die Negativwertung von Kriegen in der Tat unausweichlich." Die Frage, ob Krieg zu etwas gut sein kann, wird zu einer rhetorischen.
THOMAS SPECKMANN
Barbara Kuchler: "Kriege". Eine Gesellschaftstheorie gewaltsamer Konflikte. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2013. 413 S., br., 29,90 [Euro].
Ian Morris: "Krieg". Wozu er gut ist.
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff, Susanne Kuhlmann-Krieg und Bernhard Josef. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2013. 527 S., geb., 26,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Früher wollte man Kriege gewinnen, heute will man sie vermeiden: Barbara Kuchler und Ian Morris denken über die veränderte Wahrnehmung kriegerischer Gewalt von der Steinzeit bis heute nach.
Kann Krieg zu etwas gut sein? In Deutschland gilt dies seit 1945 als eine rhetorische Frage. Ernsthaft gestellt wird sie allenfalls, wenn Entscheidungen über Interventionen in Krisenregionen auf die politische Tagesordnung kommen. Doch auch dann wird diese Frage meist mit einem Nein beantwortet - eine Reaktion, die zunehmend auch bislang eher interventionsbereite Mächte des Westens wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich zeigen.
Umso mehr dürfte das neue Werk von Ian Morris die westliche Öffentlichkeit irritieren. Der in Stanford lehrende Historiker stellt die These auf, dass Krieg sehr wohl zu etwas gut sei. Er habe die Menschheit - auf lange Sicht - sicherer und reicher gemacht: "Krieg ist die Hölle; nur dass die Alternativen - wieder auf lange Sicht betrachtet - schlimmer gewesen wären." Um seine These zu belegen, unternimmt Morris einen Ritt durch die kriegerische Geschichte der Menschheit.
Hier macht er vier Langzeitentwicklungen aus, auf denen er seine Argumentation aufbaut. Zunächst hätten Kriege zu zahlenmäßig größeren Gesellschaften höherer Ordnung geführt und diese zu einem verminderten Risiko, dass eines ihrer Mitglieder eines gewaltsamen Todes sterbe. Zum Beleg macht Morris eine einfache Rechnung auf: Schätzungen zufolge wurden in den Gesellschaften der Steinzeit zwischen zehn und zwanzig Prozent aller Menschen durch ihre Mitmenschen getötet. Demgegenüber stellt er das zwanzigste Jahrhundert mit seinen beiden Weltkriegen, einer Reihe von Völkermorden und staatlich inszenierten Hungerkatastrophen. Da 1945 rund zweieinhalb Milliarden Menschen auf der Welt lebten und am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sechs Milliarden, machen die hundert bis zweihundert Millionen kriegsbedingten Toten "nur" ein bis zwei Prozent der Weltbevölkerung in diesem Zeitraum aus.
Damit ist nach der Gleichung von Morris die Wahrscheinlichkeit für einen Menschen im zwanzigsten Jahrhundert, gewaltsam oder durch die Folgen von Gewalt ums Leben zu kommen, zehnmal geringer als in der Steinzeit. Scheint Morris von dieser Statistik selbst ein wenig überrascht, so bietet er eine Erklärung für sie an, die in der Tat "noch weit mehr überrascht" - allerdings weniger im Sinne von Morris in seiner selbst gewählten Rolle des Advocatus Diaboli, sondern aufgrund ihrer ahistorischen Monokausalität - andere grundlegende Entwicklungen wie die Entstehung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ausblendend: "Was die Welt um so vieles sicherer gemacht hat, war nichts anderes als der Krieg."
Das sei dadurch gekommen, dass vor etwa zehntausend Jahren die Sieger von Kriegen die Besiegten größeren Gesellschaften einzuverleiben begannen, die wiederum nur funktionieren konnten, wenn ihre Herrscher stärkere Staaten entwickelten. Mit das Erste, wofür diese Staaten hätten sorgen müssen, wollten sie an der Macht bleiben, sei die Unterdrückung der Gewalt innerhalb der Gesellschaft gewesen. Die historische Nebenwirkung: der Rückgang gewaltsamer Todesfälle zwischen der Steinzeit und dem zwanzigsten Jahrhundert um neunzig Prozent. Allzu schlicht wirkt auch die Schlussfolgerung aus einer zweiten Beobachtung, die Morris bei der Betrachtung der Menschheitsgeschichte gemacht haben will: Krieg sei zwar die schlimmste Methode zur Schaffung größerer, friedfertigerer Gesellschaften, aber andererseits so ziemlich die einzige, auf die der Mensch gekommen sei. Auch die dritte Langzeitentwicklung, die Morris auszumachen meint, soll seine These untermauern: So wie die vom Krieg geschaffenen größeren Gesellschaften den Menschen ein sichereres Leben beschert hätten, so hätten sie "uns" auch reicher gemacht - durch wirtschaftliches Wachstum und steigende Lebensstandards.
Im Laufe der Zeit - vielleicht erst nach Jahrhunderten - stehe in der durch Krieg geschaffenen größeren Gesellschaft "jeder", die Nachkommen der Sieger wie die der Besiegten, besser da. Das Langzeitmuster sei auch hier unverkennbar: "Durch die Schaffung größerer Gesellschaften, stärkerer Staaten und größerer Sicherheit hat der Krieg die Welt bereichert." Morris glaubt nicht nur, dass Krieg die Menschheit sicherer und reicher gemacht hat, sondern dass dieser sich heute selbst um sein Geschäft bringt - zu destruktiv seien die Waffen geworden, zu effizient die Organisation. Hier hat Morris die klassische Konfrontation zwischen Staaten vor Augen - zusammen mit der gegenseitigen Vernichtungsgarantie der nuklearen Abschreckung des Kalten Krieges. Den asymmetrischen Krieg, der heute die dominierende Kriegsform darstellt und zu einem ganz eigenen Politik- und Geschäftsmodell geworden ist, blendet Morris aus. Nur so ist sein Optimismus zu erklären, dass der "uralte Traum einer Welt ohne Krieg" in Erfüllung gehen könnte.
Wie sehr Morris in seiner Argumentation zu kurz springt, wird bei Barbara Kuchler deutlich. Die Bielefelder Soziologin nimmt ebenfalls die Kriegsgeschichte als Ganzes ins Visier. Doch ihr Anliegen scheint weder die öffentliche Provokation noch die reißerische These als solche. Vielmehr geht sie grundlegenden Fragen nach, um die Rolle des Krieges in der Gesellschaft bestimmen zu können - mit wertvollen Ergebnissen, die überraschen dürften, da sie in der medialen Öffentlichkeit mit ihrem kurzen Erinnerungshorizont allzu rasch wieder in Vergessenheit geraten. So erinnert Kuchler daran, dass die heute geläufige Einschätzung von Krieg als etwas Schrecklichem historisch jung ist und Kriegführung über den größten Teil der Geschichte als ehrenvolles und nützliches Tätigkeitsfeld galt. Folglich stellen auch Autoren, die sich mit Krieg befassen, nahezu die gesamte Geschichte hindurch vorzugsweise die Frage, wie man Kriege gewinnen kann, und nicht - wie heute verbreitet - wie man sie vermeiden, verkürzen oder gar abschaffen kann.
Doch warum ist heute die Wertung, dass Krieg etwas Schlechtes sei, in der Gesellschaft ohne Alternative? Abweichungen hiervon erkennt Kuchler nur in zwei Fällen: Wenn Krieg in Form einer Intervention als kleineres Übel gegenüber dem propagiert wird, was sonst geschehen würde - Eroberungszüge oder Entfaltung brutaler Regimes. Hier gilt Krieg als Mittel zu einem für wichtig gehaltenen Zweck, nicht als Instrument an sich. Oder Krieg wird geschätzt, wenn man als "Kriegsherr" Profite von ihm zu erwarten hat - ein extrem partikularer Standpunkt, der von fast allen Beobachtern für unmoralisch oder kriminell gehalten wird.
Um den sich wandelnden Blick von Gesellschaften auf Krieg verstehen zu können, weist Kuchler auf die von Niklas Luhmann beschriebene Strukturform der modernen Gesellschaft hin, die diese in ein Nebeneinander von etwa einem Dutzend Teilsystemen wie Politik, Wirtschaft, Recht, Bildung und Wissenschaft zerfallen lässt, die sich für die Beteiligung prinzipiell aller Menschen offenhalten. Diese Inklusion bedeutet nach Kuchlers Analyse, dass neue Formen für die Teilnahme von Menschen an Kriegen entstehen - die allgemeine Wehrpflicht, aber auch die Möglichkeit der Selbstrekrutierung für Guerrillakriege oder der Mobilisierung für die "Heimatfront" sowie der planvollen Tötung oder Vertreibung einer politisch unliebsamen Bevölkerung. Damit erwerben Kriege ein Potential für ausufernde Betroffenheiten.
Entscheidender für die Wahrnehmungsveränderung von Krieg erscheint Kuchler noch ein anderer Punkt: Der Inklusionstrend hat zur Folge, dass der Beobachterstandpunkt für gesamtgesellschaftlich vertretbare Wertungen sich mehr und mehr auf die Position der Inklusionsrolle verschiebt. Daher werden auch Kriege - und das ist das historisch Neue - zunehmend aus der Perspektive der Zivilisten, der unschuldig leidenden Opfer oder indirekt Betroffenen beurteilt - statt aus der Sicht der Kriegführenden: "Und unter dieser Prämisse ist die Negativwertung von Kriegen in der Tat unausweichlich." Die Frage, ob Krieg zu etwas gut sein kann, wird zu einer rhetorischen.
THOMAS SPECKMANN
Barbara Kuchler: "Kriege". Eine Gesellschaftstheorie gewaltsamer Konflikte. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2013. 413 S., br., 29,90 [Euro].
Ian Morris: "Krieg". Wozu er gut ist.
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff, Susanne Kuhlmann-Krieg und Bernhard Josef. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2013. 527 S., geb., 26,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.01.2014Der Frieden, den die unsichtbare Faust schafft
Ian Morris will erklären, wozu der Krieg gut ist. Und skizziert schon mal den großen definitiven Krieg der Zukunft
Wozu ist Krieg gut? Zu absolut überhaupt nichts, hat Bruce Springsteen gemeint, als er Edwin Starrs Soulklassiker coverte: „absolutely nothing!“ Und er fuhr fort, von der Zerstörung unschuldigen Lebens zu singen, von den Tränen der Mütter, wenn die Söhne in den Kampf ziehen und fallen: Krieg könne nichts als Herzen brechen, schließt er, und sei niemands Freund als der des Totengräbers, „nothing but a heartbreaker, friend only to the undertaker“.
Diesem Diktum erlaubt sich Ian Morris, Archäologe und Historiker an der Stanford University, zu widersprechen. „Krieg. Wozu er gut ist“ nennt er sein Buch. Man ahnt von Anbeginn, dass sich zwischen ihm und Springsteen kein fruchtbarer Dialog entspinnen wird. Springsteen entsetzt sich vor dem, was Krieg existenziell für diejenigen bedeutet, die er trifft, ohne die politische Dimension mitzubedenken, was zu einer sympathischen, aber impraktikablen Haltung führt. Morris wiederum sieht nur die Politik, das heißt den Umstand, dass der Krieg als Mittel, um bestimmte Ziele zu erreichen, ganz offenbar erhebliche Vorteile bietet, sonst wäre in der Menschheitsgeschichte nicht mit solcher Regelmäßigkeit von ihm Gebrauch gemacht worden, trotz hoher Kosten und hohen Risikos.
Morris tut so, als würde er, wenn er vom Nutzen des Krieges spricht, einem radikalen Umdenken den Boden bereiten. Letzten Endes aber setzt er eine ohnehin von jeher bestehende Praxis ins Recht. Seine Kernthese lautet: Ohne Krieg wäre es nicht zur Integration immer größerer Staatsgebilde gekommen, die er, im Anschluss an seinen Gewährsmann Thomas Hobbes, „Leviathane“ nennt. Einer dialektischen Geschichtsphilosophie steht Morris dabei durchaus fern; ihm genügt es, wenn sie als „stationäre Banditen“ agieren, die sich von schweifenden Räuberhorden durch ein gewisses Interesse an Nachhaltigkeit der Erträge abheben. Das Maß, an dem er den langfristigen Erfolg von Krieg misst, liegt in der abnehmenden Quote der gewaltsamen Tode, Mord ebenso wie kriegsbedingter Gewalt, an der Gesamtmortalität der Menschheit. Sie setzt er bei Steinzeitgesellschaften mit bis zu 20 Prozent an, während sie heute weltweit, trotz allem Anschein von Chaos, auf den historischen Tiefstand von 0,7 Prozent gesunken sei.
Morris argumentiert also mit dem größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl. Es ist schwer, dies bei einem solchen Thema durchzuhalten, ohne in unwillkürlichen Zynismus zu verfallen. Nicht nur spendet dieses Kalkül aus der Vogelperspektive denen, die es gerade trifft, wenig Trost (und manchmal trifft es komplette Zeitalter). Sondern es wäre auch zu fragen, ob solche Quantifizierung noch ihren Ort hat, wenn es um Menschen geht, die lebendig an der Zunge aufgehängt werden, wie es die Japaner in China getan haben (und Dinge dieser Art kommen im Krieg ständig vor). Ließe es sich in Zahlen angeben, wie vielen Menschen ein glückliches Leben gelungen sein muss, um so etwas aufzuwiegen? In Morris’ kühle Unbekümmertheit vor Leichenbergen mischt sich nicht ein Körnchen Melancholie, was der Leser dann doch bedauert.
Der Autor unterscheidet zwischen „produktiven“ und „unproduktiven“ Kriegen, wobei er als produktiv nur solche ansieht, die zur Herausbildung größerer und stabilerer Reiche führen. Produktiv in seinem Sinn waren etwa die Gründungskriege des römischen Reichs, insofern sie, bei aller Brutalität, eine umfassende und langlebige Pax Romana einleiteten, während er die Kriege der anschließenden Völkerwanderungszeit als unproduktiv einstuft, brachten sie doch im Resultat nichts als die Zerschlagung vorhandener Strukturen. Unproduktiv war der Korea-Feldzug der chinesischen Sui-Dynastie im 6. Jahrhundert, der im Desaster endete; der Tang-Dynastie dagegen, die dasselbe im 7. Jahrhundert noch einmal unternimmt, und diesmal mit Erfolg, attestiert Morris, alles richtig gemacht zu haben. Schwer erwehrt man sich da des Eindrucks, dass ein produktiver Krieg einfach ein gewonnener und ein unproduktiver ein verlorener ist.
Ob die Sache „gut“ ausgeht, liegt mithin nicht am Krieg selbst, sondern erstens am Zufall und zweitens daran, in welche historische Gesamttendenz er sich einbettet. Er selbst ist in dieser Hinsicht neutral, ungefähr so wie das Feuer, dessen Kraft sich zum Kochen ebenso wie zur Brandstiftung eignet. Damit aber ist Morris’ Grundthese von der Nützlichkeit des Krieges als solchem weitgehend hinfällig. Wenn man das Buch dennoch mit Gewinn und Vergnügen liest, dann deswegen, weil es zuletzt etwas anderes leistet, als es angekündigt hatt.
Erstens liefert Morris in knapper, umfassender und gut lesbarer Form eine Geschichte des Krieges durch die Jahrtausende. Konsequent behandelt er Europa und das Mittelmeer als bloße Peripherie eines sehr viel größeren Raums, dessen Herz in den riesigen Steppen Eurasiens schlägt. Von dort kommen immer wieder militärische Innovationen (Streitwagen und Kavallerie vor allem), die in die Geschichte der Randgebiete – Morris nennt sie die „Glücklichen Breiten“ – schicksalhaft eingreifen. Nebenbei räumt er mit einigen Märchen auf, wie zum Beispiel, dass die Chinesen es unterlassen hätten, das Schießpulver als Waffe einzusetzen; der Befreiungskampf gegen die Mongolen im 14. Jahrhundert operiert ganz wesentlich mit Feuerwaffen. Warum dieser Weg nicht fortgesetzt wird, das gehört zu den vielen spannenden Einzelerzählungen dieses Bandes.
Zweitens wechselt Morris an wenig auffallender Stelle sein ursprüngliches, unergiebiges Theorem gegen ein anderes aus: das vom dynamischen Verhältnis der unsichtbaren Hand der Märkte (hier folgt er seinem anderen Gewährsmann Adam Smith) zur „unsichtbaren Faust“ der großen Reiche, die Gewalt nur noch selten praktizieren, aber als ständige Drohung für Friedensstörer glaubhaft aufrecht erhalten. Der Gedanke ist nicht ganz neu, aber frappierend in seiner Zuspitzung. (Etwas verunklart wird er allerdings wieder, weil Morris noch allerlei Anleihen bei Darwinismus oder Spieltheorie aufnimmt.)
Und drittens wagt sich Morris an eine Deutung der waffentechnisch-geopolitischen Gegenwart mit Blick auf die Zukunft. Hier liegt der interessanteste und beunruhigendste Aspekt des Buchs. Die heutige Lage, erklärt er, ähnele fatal derjenigen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, als der bisherige „Globocop“ England, gerade weil er so erfolgreich gewesen war, sich eine Reihe von Rivalen herangezüchtet hatte, namentlich Deutschland. Englands Versuch, seine alte Rolle zu verteidigen, stürzt alle Beteiligten ins Desaster. Als neuen Globocop sieht Morris natürlich die Vereinigten Staaten, denen er eine etwas unkritische Bewunderung entgegenbringt, deren gegenwärtige Position er aber präzis analysiert. Er hält einen Dritten Weltkrieg, in dessen Zentrum die Konfrontation zwischen China und Amerika stehen wird, für nicht unwahrscheinlich; mindestens aber erwartet er eine Reihe von regionalen Nuklearkriegen, die das Zeug haben könnten, die ganze Welt ins Chaos zu stürzen. Das könnte sich als der weit produktivste Krieg von allen erweisen, an dessen Ende, nach Pax Romana, Pax Britannica und Pax Americana, eine globale „Pax Technologica“ steht, endgültig „the war to end all wars“, wie es bekanntlich schon vom Ersten Weltkrieg hieß. Hier allerdings verlässt Morris sein bisheriges Terrain und betritt hymnisch-spekulativen Boden. Aber mit seinem Gefühl, dass die nächsten Jahzehnte den kritischen Flaschenhals der Menschheitsgeschichte bilden, könnte er trotzdem richtig liegen.
Morris, der sein Buch zu einer runden Sache machen will, die sie faktisch nicht ist, kann es sich nicht verkneifen, abschließend eine verbesserte Version von Springsteens Lied zu präsentieren, in großer weißer Schrift auf schwarzem Grund. „War! Huh, good God. What has it been good for? In the long run, making us safer and richer. But war – huh God. What is it going to be good for? Absolutely nothing, unless we learn to manage it.” Daran erstaunt vor allem die Figur des “Wir“. So lang es Kriege gibt, kann von einem solchen menschheitlichen Wir keine Rede sein. Da landet Morris, obwohl er das Gegenteil will, in der hilflosen Sentimentalität, gegen die sein Buch Sturm gelaufen ist.
BURKHARD MÜLLER
In die kühle Unbekümmertheit
vor Leichenbergen mischt sich
nicht ein Körnchen Melancholie
Ian Morris:
Krieg. Wozu er gut ist. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Susanne Kuhlmann-Krieg und Bernhard Josef. Campus Verlag,
Frankfurt/M. New York 2013. 527 S., 26,99 Euro. E-Book 22,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ian Morris will erklären, wozu der Krieg gut ist. Und skizziert schon mal den großen definitiven Krieg der Zukunft
Wozu ist Krieg gut? Zu absolut überhaupt nichts, hat Bruce Springsteen gemeint, als er Edwin Starrs Soulklassiker coverte: „absolutely nothing!“ Und er fuhr fort, von der Zerstörung unschuldigen Lebens zu singen, von den Tränen der Mütter, wenn die Söhne in den Kampf ziehen und fallen: Krieg könne nichts als Herzen brechen, schließt er, und sei niemands Freund als der des Totengräbers, „nothing but a heartbreaker, friend only to the undertaker“.
Diesem Diktum erlaubt sich Ian Morris, Archäologe und Historiker an der Stanford University, zu widersprechen. „Krieg. Wozu er gut ist“ nennt er sein Buch. Man ahnt von Anbeginn, dass sich zwischen ihm und Springsteen kein fruchtbarer Dialog entspinnen wird. Springsteen entsetzt sich vor dem, was Krieg existenziell für diejenigen bedeutet, die er trifft, ohne die politische Dimension mitzubedenken, was zu einer sympathischen, aber impraktikablen Haltung führt. Morris wiederum sieht nur die Politik, das heißt den Umstand, dass der Krieg als Mittel, um bestimmte Ziele zu erreichen, ganz offenbar erhebliche Vorteile bietet, sonst wäre in der Menschheitsgeschichte nicht mit solcher Regelmäßigkeit von ihm Gebrauch gemacht worden, trotz hoher Kosten und hohen Risikos.
Morris tut so, als würde er, wenn er vom Nutzen des Krieges spricht, einem radikalen Umdenken den Boden bereiten. Letzten Endes aber setzt er eine ohnehin von jeher bestehende Praxis ins Recht. Seine Kernthese lautet: Ohne Krieg wäre es nicht zur Integration immer größerer Staatsgebilde gekommen, die er, im Anschluss an seinen Gewährsmann Thomas Hobbes, „Leviathane“ nennt. Einer dialektischen Geschichtsphilosophie steht Morris dabei durchaus fern; ihm genügt es, wenn sie als „stationäre Banditen“ agieren, die sich von schweifenden Räuberhorden durch ein gewisses Interesse an Nachhaltigkeit der Erträge abheben. Das Maß, an dem er den langfristigen Erfolg von Krieg misst, liegt in der abnehmenden Quote der gewaltsamen Tode, Mord ebenso wie kriegsbedingter Gewalt, an der Gesamtmortalität der Menschheit. Sie setzt er bei Steinzeitgesellschaften mit bis zu 20 Prozent an, während sie heute weltweit, trotz allem Anschein von Chaos, auf den historischen Tiefstand von 0,7 Prozent gesunken sei.
Morris argumentiert also mit dem größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl. Es ist schwer, dies bei einem solchen Thema durchzuhalten, ohne in unwillkürlichen Zynismus zu verfallen. Nicht nur spendet dieses Kalkül aus der Vogelperspektive denen, die es gerade trifft, wenig Trost (und manchmal trifft es komplette Zeitalter). Sondern es wäre auch zu fragen, ob solche Quantifizierung noch ihren Ort hat, wenn es um Menschen geht, die lebendig an der Zunge aufgehängt werden, wie es die Japaner in China getan haben (und Dinge dieser Art kommen im Krieg ständig vor). Ließe es sich in Zahlen angeben, wie vielen Menschen ein glückliches Leben gelungen sein muss, um so etwas aufzuwiegen? In Morris’ kühle Unbekümmertheit vor Leichenbergen mischt sich nicht ein Körnchen Melancholie, was der Leser dann doch bedauert.
Der Autor unterscheidet zwischen „produktiven“ und „unproduktiven“ Kriegen, wobei er als produktiv nur solche ansieht, die zur Herausbildung größerer und stabilerer Reiche führen. Produktiv in seinem Sinn waren etwa die Gründungskriege des römischen Reichs, insofern sie, bei aller Brutalität, eine umfassende und langlebige Pax Romana einleiteten, während er die Kriege der anschließenden Völkerwanderungszeit als unproduktiv einstuft, brachten sie doch im Resultat nichts als die Zerschlagung vorhandener Strukturen. Unproduktiv war der Korea-Feldzug der chinesischen Sui-Dynastie im 6. Jahrhundert, der im Desaster endete; der Tang-Dynastie dagegen, die dasselbe im 7. Jahrhundert noch einmal unternimmt, und diesmal mit Erfolg, attestiert Morris, alles richtig gemacht zu haben. Schwer erwehrt man sich da des Eindrucks, dass ein produktiver Krieg einfach ein gewonnener und ein unproduktiver ein verlorener ist.
Ob die Sache „gut“ ausgeht, liegt mithin nicht am Krieg selbst, sondern erstens am Zufall und zweitens daran, in welche historische Gesamttendenz er sich einbettet. Er selbst ist in dieser Hinsicht neutral, ungefähr so wie das Feuer, dessen Kraft sich zum Kochen ebenso wie zur Brandstiftung eignet. Damit aber ist Morris’ Grundthese von der Nützlichkeit des Krieges als solchem weitgehend hinfällig. Wenn man das Buch dennoch mit Gewinn und Vergnügen liest, dann deswegen, weil es zuletzt etwas anderes leistet, als es angekündigt hatt.
Erstens liefert Morris in knapper, umfassender und gut lesbarer Form eine Geschichte des Krieges durch die Jahrtausende. Konsequent behandelt er Europa und das Mittelmeer als bloße Peripherie eines sehr viel größeren Raums, dessen Herz in den riesigen Steppen Eurasiens schlägt. Von dort kommen immer wieder militärische Innovationen (Streitwagen und Kavallerie vor allem), die in die Geschichte der Randgebiete – Morris nennt sie die „Glücklichen Breiten“ – schicksalhaft eingreifen. Nebenbei räumt er mit einigen Märchen auf, wie zum Beispiel, dass die Chinesen es unterlassen hätten, das Schießpulver als Waffe einzusetzen; der Befreiungskampf gegen die Mongolen im 14. Jahrhundert operiert ganz wesentlich mit Feuerwaffen. Warum dieser Weg nicht fortgesetzt wird, das gehört zu den vielen spannenden Einzelerzählungen dieses Bandes.
Zweitens wechselt Morris an wenig auffallender Stelle sein ursprüngliches, unergiebiges Theorem gegen ein anderes aus: das vom dynamischen Verhältnis der unsichtbaren Hand der Märkte (hier folgt er seinem anderen Gewährsmann Adam Smith) zur „unsichtbaren Faust“ der großen Reiche, die Gewalt nur noch selten praktizieren, aber als ständige Drohung für Friedensstörer glaubhaft aufrecht erhalten. Der Gedanke ist nicht ganz neu, aber frappierend in seiner Zuspitzung. (Etwas verunklart wird er allerdings wieder, weil Morris noch allerlei Anleihen bei Darwinismus oder Spieltheorie aufnimmt.)
Und drittens wagt sich Morris an eine Deutung der waffentechnisch-geopolitischen Gegenwart mit Blick auf die Zukunft. Hier liegt der interessanteste und beunruhigendste Aspekt des Buchs. Die heutige Lage, erklärt er, ähnele fatal derjenigen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, als der bisherige „Globocop“ England, gerade weil er so erfolgreich gewesen war, sich eine Reihe von Rivalen herangezüchtet hatte, namentlich Deutschland. Englands Versuch, seine alte Rolle zu verteidigen, stürzt alle Beteiligten ins Desaster. Als neuen Globocop sieht Morris natürlich die Vereinigten Staaten, denen er eine etwas unkritische Bewunderung entgegenbringt, deren gegenwärtige Position er aber präzis analysiert. Er hält einen Dritten Weltkrieg, in dessen Zentrum die Konfrontation zwischen China und Amerika stehen wird, für nicht unwahrscheinlich; mindestens aber erwartet er eine Reihe von regionalen Nuklearkriegen, die das Zeug haben könnten, die ganze Welt ins Chaos zu stürzen. Das könnte sich als der weit produktivste Krieg von allen erweisen, an dessen Ende, nach Pax Romana, Pax Britannica und Pax Americana, eine globale „Pax Technologica“ steht, endgültig „the war to end all wars“, wie es bekanntlich schon vom Ersten Weltkrieg hieß. Hier allerdings verlässt Morris sein bisheriges Terrain und betritt hymnisch-spekulativen Boden. Aber mit seinem Gefühl, dass die nächsten Jahzehnte den kritischen Flaschenhals der Menschheitsgeschichte bilden, könnte er trotzdem richtig liegen.
Morris, der sein Buch zu einer runden Sache machen will, die sie faktisch nicht ist, kann es sich nicht verkneifen, abschließend eine verbesserte Version von Springsteens Lied zu präsentieren, in großer weißer Schrift auf schwarzem Grund. „War! Huh, good God. What has it been good for? In the long run, making us safer and richer. But war – huh God. What is it going to be good for? Absolutely nothing, unless we learn to manage it.” Daran erstaunt vor allem die Figur des “Wir“. So lang es Kriege gibt, kann von einem solchen menschheitlichen Wir keine Rede sein. Da landet Morris, obwohl er das Gegenteil will, in der hilflosen Sentimentalität, gegen die sein Buch Sturm gelaufen ist.
BURKHARD MÜLLER
In die kühle Unbekümmertheit
vor Leichenbergen mischt sich
nicht ein Körnchen Melancholie
Ian Morris:
Krieg. Wozu er gut ist. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Susanne Kuhlmann-Krieg und Bernhard Josef. Campus Verlag,
Frankfurt/M. New York 2013. 527 S., 26,99 Euro. E-Book 22,99 Euro.
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Die guten Seiten des Kriegs
"Morris ist ein brillanter Schreiber: Er zeigt, dass kenntnisreich geschriebene Geschichte und Politikwissenschaft eben doch spannend sein können wie ein Krimi." (Deutschlandfunk - Andruck, 23.12.2013)
"Wir sind Killer"
"Aus einer imposanten militärischen Geamtschau von den Reichsgründungen der Antike bis in die Gegenwart zieht Morris die provokante Schlussfolgerung, dass der Krieg, aufs Ganze gesehen, die Erde zu einem besseren Daseinsort gemacht habe." (Der Spiegel, 06.01.2014)
Der Frieden, den die unsichtbare Faust schafft
"Morris liefert in knapper, umfassender und gut lesbarer Form eine Geschichte des Krieges durch die Jahrtausende." Burkhard Müller (Süddeutsche Zeitung, 17.01.2014)
Vom potenziellen Nutzen des Massenmords
"... eine spannende Lektüre ... 'Krieg' ist eine gewinnbringende Rückschau auf die Militärgeschichte, die ihren schrägen Blickwinkel nie aus den Augen verliert." (ZEIT Wissen, 01.02.2014)
Motor der Zivilisation
"Es ist ein eher assoziatives Buch, gelehrt und unterhaltsam. Man gewinnt viele kleine Einsichten und bleibt bei einigem skeptisch ... Trotzdem ein insgesamt faszinierendes Buch, auch für die, die von seiner Leitthese nicht überzeugt sind." Ulrich Speck (Der Tagesspiegel, 19.03.2014)
Die Sichtbarkeit des Barbarischen
"Der Historiker Ian Morris hat in seinem Buch 'Krieg. Wozu er gut ist' eine schwierige Wahrheit aufgezeigt: In Kriegen bildet sich oft eine höhere zivilisatorische Komplexität aus." Matthias Horx (Berliner Zeitung, 23.07.2014)
"Morris [vermag] vom Alten Rom bis heute eine Linie zu ziehen, die in ihrer Konsequenz beeindruckt." (Publik Forum, 26.02.2016)
"Morris ist ein brillanter Schreiber: Er zeigt, dass kenntnisreich geschriebene Geschichte und Politikwissenschaft eben doch spannend sein können wie ein Krimi." (Deutschlandfunk - Andruck, 23.12.2013)
"Wir sind Killer"
"Aus einer imposanten militärischen Geamtschau von den Reichsgründungen der Antike bis in die Gegenwart zieht Morris die provokante Schlussfolgerung, dass der Krieg, aufs Ganze gesehen, die Erde zu einem besseren Daseinsort gemacht habe." (Der Spiegel, 06.01.2014)
Der Frieden, den die unsichtbare Faust schafft
"Morris liefert in knapper, umfassender und gut lesbarer Form eine Geschichte des Krieges durch die Jahrtausende." Burkhard Müller (Süddeutsche Zeitung, 17.01.2014)
Vom potenziellen Nutzen des Massenmords
"... eine spannende Lektüre ... 'Krieg' ist eine gewinnbringende Rückschau auf die Militärgeschichte, die ihren schrägen Blickwinkel nie aus den Augen verliert." (ZEIT Wissen, 01.02.2014)
Motor der Zivilisation
"Es ist ein eher assoziatives Buch, gelehrt und unterhaltsam. Man gewinnt viele kleine Einsichten und bleibt bei einigem skeptisch ... Trotzdem ein insgesamt faszinierendes Buch, auch für die, die von seiner Leitthese nicht überzeugt sind." Ulrich Speck (Der Tagesspiegel, 19.03.2014)
Die Sichtbarkeit des Barbarischen
"Der Historiker Ian Morris hat in seinem Buch 'Krieg. Wozu er gut ist' eine schwierige Wahrheit aufgezeigt: In Kriegen bildet sich oft eine höhere zivilisatorische Komplexität aus." Matthias Horx (Berliner Zeitung, 23.07.2014)
"Morris [vermag] vom Alten Rom bis heute eine Linie zu ziehen, die in ihrer Konsequenz beeindruckt." (Publik Forum, 26.02.2016)