Felix Hartlaub (1913-1945), eine der großen Hoffnungen der deutschen Literatur des letzten Jahrhunderts, ging an einem der letzten Kriegstage 1945 in Berlin verloren. Der promovierte Historiker hinterließ ein wenig umfangreiches literarisches Werk; in dessen Zentrum: die »Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg«, 1940/41 aus dem besetzten Paris, später aus dem Führerhauptquartier. Diese Fragmente gehören zu den genauesten, empfindlichsten und dichtesten Wortmeldungen deutscher Sprache, die uns aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs erreicht haben.»In Paris 1941«, schreibt Durs Grünbein, »verliert er keinen Augenblick aus dem Gedächtnis, daß er als Angehöriger einer Besatzerarmee dort ist. Der niedrige Dienstgrad schärft ihm den Gerechtigkeitssinn, das Schamgefühl vor der unterdrückten Bevölkerung. Auf Jahre hin sieht er das Verhältnis der Deutschen zu Frankreich diskreditiert. Dabei war ihm, mit der Neugier des stoffhungrigen Zeitgeschichtlers, die Versetzung ins Feindesland willkommen gewesen. 'Man muß die Vernichtung Europas aus der Nähe sehen ...'«
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.08.2011Stöckelschuhe
und Nagelstiefel
Felix Hartlaub flaniert durch das
Paris im Zweiten Weltkrieg
Man werde nicht müde, sie zu sehen, schreibt Felix Hartlaub an einer Stelle beim Betrachten der unendlich variierten Gleichmäßigkeit der Pariser Hausfassaden. Das Sehen ist ein Grundgestus dieser Aufzeichnungen, manchmal auch das nähere Hinhören, um die Situationen auf der Straße, im Bistrot oder in der Metro zu kleinen Szenen zu schnüren. Kein Kommentar jedoch, keine Spekulation und kein privates Mitgefühl. Die unbeirrbare, manchmal latent sarkastische Distanz der Schilderung steht ziemlich einsam in der deutschen Kriegstagebuchliteratur und lässt mitunter an die Ernst Jüngers denken. Sie führt uns, wie Durs Grünbein im Nachwort dieses Buchs schreibt, den Zweiten Weltkrieg „als das größte Reiseunternehmen der Deutschen vor dem Aufkommen des Massentourismus“ vor Augen.
Der Kunsthändlersohn Hartlaub selbst war zwar auch vor dem Krieg schon in Europa herumgekommen, doch spiegelt sich in seiner Beschreibung der deutschen Landser und spiegelbildlich wiederum im Blick der Pariser Demoiselles das Befremden von Leuten, die in ihrem Leben solche Fernexpeditionen und solche Begegnungen eigentlich nicht vorgesehen hatten.
Der junge Historiker Hartlaub war Ende 1940 für ein paar Monate in die Archivkommission des Auswärtigen Amtes nach Paris gekommen. Die bald stimmungshaft, bald szenisch aufgerollten Skizzen – „Quartier latin“, „Abendspaziergang“, „Sommer, Wind“, „Weltwende im Puff“ – zeigen ein in der „Er“-Form durch die Stadt flanierendes Subjekt, das mit derselben Prägnanz Gewitterhimmel, Architekturdetails und menschliches Verhalten einfängt. Der Autor selbst nannte seine Aufzeichnungen in einem Brief an den Vater „Wortgravüren, die vielleicht später einmal ein Ganzes bilden könnten“. Sein Tod 1945 verhinderte dies. Die „ausgeleerten“ Gesichter der Leute in der Warteschlange vor dem Fleischer, das verlegene Vorzeigen des deutschen Stadtausweises beim Betreten des Métro-Quais, das Trippeln der Stöckelschuhe und das Funkenschlagen der Nagelstiefel bei Pigalle – ein vielfältiges Spektrum jenseits von Gut und Böse tut sich hier auf, in dem das „Humanum“, wie Durs Grünbein schreibt, „als biographische Nummernrevue“ stattfindet, die den Platz auf der einen oder der anderen Seite der Frontlinie wie Lotterielose verteilt.
Die mit Zeichnungen des Autors versehenen Texte sind eine Auswahl aus der zweibändigen Hartlaub-Ausgabe „In den eigenen Umriss gebannt“. Sie führen in handlicher Form ins Empfinden eines jungen Deutschen, der innerlich vertraut und als Soldat äußerlich fremd durch Paris geht, empfänglich ist fürs erotische Knistern dieser Stadt, selber stumm bleibt und nur spricht, wenn er angesprochen wird. JOSEPH HANIMANN
FELIX HARTLAUB: Kriegsaufzeichnungen aus Paris. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein. Bibliothek Suhrkamp, Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 163 Seiten, 17,90 Euro.
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und Nagelstiefel
Felix Hartlaub flaniert durch das
Paris im Zweiten Weltkrieg
Man werde nicht müde, sie zu sehen, schreibt Felix Hartlaub an einer Stelle beim Betrachten der unendlich variierten Gleichmäßigkeit der Pariser Hausfassaden. Das Sehen ist ein Grundgestus dieser Aufzeichnungen, manchmal auch das nähere Hinhören, um die Situationen auf der Straße, im Bistrot oder in der Metro zu kleinen Szenen zu schnüren. Kein Kommentar jedoch, keine Spekulation und kein privates Mitgefühl. Die unbeirrbare, manchmal latent sarkastische Distanz der Schilderung steht ziemlich einsam in der deutschen Kriegstagebuchliteratur und lässt mitunter an die Ernst Jüngers denken. Sie führt uns, wie Durs Grünbein im Nachwort dieses Buchs schreibt, den Zweiten Weltkrieg „als das größte Reiseunternehmen der Deutschen vor dem Aufkommen des Massentourismus“ vor Augen.
Der Kunsthändlersohn Hartlaub selbst war zwar auch vor dem Krieg schon in Europa herumgekommen, doch spiegelt sich in seiner Beschreibung der deutschen Landser und spiegelbildlich wiederum im Blick der Pariser Demoiselles das Befremden von Leuten, die in ihrem Leben solche Fernexpeditionen und solche Begegnungen eigentlich nicht vorgesehen hatten.
Der junge Historiker Hartlaub war Ende 1940 für ein paar Monate in die Archivkommission des Auswärtigen Amtes nach Paris gekommen. Die bald stimmungshaft, bald szenisch aufgerollten Skizzen – „Quartier latin“, „Abendspaziergang“, „Sommer, Wind“, „Weltwende im Puff“ – zeigen ein in der „Er“-Form durch die Stadt flanierendes Subjekt, das mit derselben Prägnanz Gewitterhimmel, Architekturdetails und menschliches Verhalten einfängt. Der Autor selbst nannte seine Aufzeichnungen in einem Brief an den Vater „Wortgravüren, die vielleicht später einmal ein Ganzes bilden könnten“. Sein Tod 1945 verhinderte dies. Die „ausgeleerten“ Gesichter der Leute in der Warteschlange vor dem Fleischer, das verlegene Vorzeigen des deutschen Stadtausweises beim Betreten des Métro-Quais, das Trippeln der Stöckelschuhe und das Funkenschlagen der Nagelstiefel bei Pigalle – ein vielfältiges Spektrum jenseits von Gut und Böse tut sich hier auf, in dem das „Humanum“, wie Durs Grünbein schreibt, „als biographische Nummernrevue“ stattfindet, die den Platz auf der einen oder der anderen Seite der Frontlinie wie Lotterielose verteilt.
Die mit Zeichnungen des Autors versehenen Texte sind eine Auswahl aus der zweibändigen Hartlaub-Ausgabe „In den eigenen Umriss gebannt“. Sie führen in handlicher Form ins Empfinden eines jungen Deutschen, der innerlich vertraut und als Soldat äußerlich fremd durch Paris geht, empfänglich ist fürs erotische Knistern dieser Stadt, selber stumm bleibt und nur spricht, wenn er angesprochen wird. JOSEPH HANIMANN
FELIX HARTLAUB: Kriegsaufzeichnungen aus Paris. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein. Bibliothek Suhrkamp, Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 163 Seiten, 17,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Die "Kriegsaufzeichnungen aus Paris", davon ist Rezensentin Renate Wiggershaus überzeugt, gehören zu den besten Texten Felix Hartlaubs. Während seines knapp einjährigen Aufenthaltes in der von den Deutschen besetzten Metropole habe Hartlaubs "kühler, sondierender Blick" Impressionen eingefangen, die in ihrer Gegenständlichkeit eine gewisse Verwandtschaft mit dem noveau roman aufweisen, so Wiggerhaus. Dabei beschränkte sich Hartlaub nicht allein auf das Medium Sprache. Auch Zeichnungen habe er angefertigt, und die Tatsache, dass sich Suhrkamp des Konvoluts inklusive jener Skizzen noch einmal angenommen hat, ist der Rezensentin folglich ein Grund zur Freude. Getrübt wird diese hingegen durch das von Durs Grünbein verantwortete Nachwort. Erstens handelt es sich dabei weitgehend um einen bereits vor geraumer Zeit abgedruckten Zeitungsartikel, der zweitens wenig Verständnisförderndes und bisweilen gar faktisch Verkehrtes enthalte, wie Wiggershaus bemerkt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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