Die Beiträge dieses Bandes zeigen, dass die seit Mai 1945 überlieferte gängige Formel des Kriegsendes nicht haltbar ist, da sich kollektive und individuelle Erfahrungen mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nur schwer zusammenfassen lassen. Selbst die einschlägige Meinung vom institutionalisierten Kriegsende im Mai 1945 erwies sich als brüchig. Tatsächlich endete der Krieg zu diesem Zeitpunkt nur auf dem Papier; für einige Individuen und Gruppen war er längst vorbei, für andere noch lange nicht. Dieser Schwierigkeit, das Ende des Krieges in den differenten Ausprägungen und Erscheinungen zu fassen, wird im vorliegenden Sammelband mit unterschiedlichen Methoden begegnet. Die Ergebnisse sollen Anregungen und Grundlagen für weiterführende Diskussionen bieten und zugleich als Beitrag zu laufenden Forschungen zur Thematik des Zeitalters der Weltkriege im 20. Jahrhundert verstanden werden. Die Beiträge Jörg Echternkamp: Von Opfern, Helden und Verbrechern - Anmerkungen zur Bedeutung des Zweiten Weltkriegs in den Erinnerungskulturen der Deutschen 1945 - 1955 Simone Erpel: Machtverhältnisse im Zerfall. Todesmärsche der Häftlinge des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück im April 1945 Jörg Hillmann: Die "Reichsregierung" in Flensburg Martin Humburg: "Ich glaube, daß meine Zeit bald gezählt sein dürfte." Feldpostbriefe am Ende des Krieges: Zwei Beispiele Jens Jäger: Fotografie - Erinnerung - Identität. Die Trümmeraufnahmen aus deutschen Städten 1945 Sabine Kittel: Erinnerungen an die Befreiung - Jüdische Überlebende erzählen über die letzten Kriegstage Andreas Kunz: Die Wehrmacht in der Agonie der nationalsozialistischen Herrschaft 1944/45. Eine Gedankenskizze Rolf-Dieter Müller: 1945: Der Tiefpunkt in der deutschen Geschichte. Gedanken zu Problemen und Perspektiven der historischen Forschung Armin Nolzen: Von der geistigen Assimilation zur institutionellen Kooperation: Das Verhältnis zwischen NSDAP und Wehrmacht, 1943-1945 Kathrin Ort: Kampfmoral und Einsatzbereitschaft in der Kriegsmarine 1945 Matthias Reiß: Keine Gäste mehr, sondern die Besiegten? Die deutschen Kriegsgefangenen in den USA zwischen Kapitulation und Repatriierung Heinrich Schwendemann: "Deutsche Menschen vor der Vernichtung durch den Bolschewismus zu retten": Das Programm der Regierung Dönitz und der Beginn einer Legendenbildung Elisabeth Timm: Die letzten Schüsse in Reutlingen. Erzählungen über das Kriegsende 1945 in einer süddeutschen Kleinstadt Eva Vieth: Die letzte Volksgemeinschaft - das Kriegsende in den Bildern einer deutschen Illustrierten John Zimmermann: Die Kämpfe gegen die Westalliierten 1945 - Ein Kampf bis zum Ende oder die Kreierung einer Legende?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2002Ausweicher oder Endkämpfer?
In Perspektivenvielfalt: Der Zusammenbruch im Jahr 1945
Kriegsende 1945 in Deutschland. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Jörg Hillmann und John Zimmermann. R. Oldenbourg Verlag, München 2002. 335 Seiten, 34,80 Euro.
Das Kriegsende in Deutschland im Jahr 1945 läßt sich bekanntlich nicht auf den zunächst in der DDR, dann Mitte der achtziger Jahre auch in der Bundesrepublik salonfähig gewordenen Nenner von der "Befreiung" bringen. Zu groß ist die Verschiedenheit im zeitlichen Ablauf, zu gravierend sind die Unterschiede im subjektiven zeitgenössischen Empfinden zwischen West- und Ostfront, zwischen Oben und Unten in den Hierarchien, zwischen Tätern und Opfern et cetera. Daher befassen sich die elf höchst informativen und meist bedenkenswerten Beiträge der neuesten Publikation des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes mit dem "offiziellen" und dem "institutionellen" Kriegsende, mit "kollektivem" und "individuellem" Erleben des Untergangs, ja sogar mit den Fotos der "Berliner Illustrierten Zeitung" über den "Endkampf", mit Trümmeraufnahmen aus deutschen Städten und schließlich mit der Bedeutung des Zweiten Weltkriegs in den "Erinnerungskulturen der Deutschen" im ersten Nachkriegsjahrzehnt.
Jörg Echternkamp weist auf Nietzsches Diktum von der Arbeit am "Selbstbetrug" hin: Auch die deutsche Kriegsvergangenheit sei nicht beschwiegen oder tabuisiert worden; statt dessen habe "die selektive Beschäftigung mit ihr das Selbstverständnis der west- und ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft" geprägt. Mit der von Karl Dönitz betriebenen Legendenbildung beschäftigen sich Heinrich Schwendemann und Jörg Hillmann. Der Großadmiral habe zwar im nachhinein die Urheberschaft für die Rettungsaktion der Kriegsmarine über die Ostsee beansprucht, jedoch selbst nur den geringsten Anteil daran gehabt: "Nur das Engagement der örtlichen Marinestellen, die teilweise im Widerspruch zu den von der Marineführung erteilten Befehlen agierten, ermöglichte im Frühjahr 1945 den Transport von 800000 bis 900000 Flüchtlingen und etwa 350000 verwundeten Soldaten über die Ostsee direkt nach Westen." Vor der testamentarisch verfügten Einsetzung zum Staatsoberhaupt sei er durchaus bereit gewesen, den "Kampf bis zur letzten Patrone" im Sinne Hitlers fortzusetzen: "Er tat dies jedoch nicht, da er im Bewußtsein handelte, der ,Führer' habe durch seinen Tod den Weg zur Kapitulation freigemacht. Das war Dönitz' vom ,Führer' befohlene Bestimmung."
Wie kam es aber zu dem von den Autoren beschriebenen "Durchhalte"-Effekt 1944/45? Die Kampfmoral und Einsatzbereitschaft der Kriegsmarine sei - so Kathrin Orth - insbesondere bei fahrenden Einheiten wie den U- und S-Booten erhalten geblieben: "Eine wesentliche Begründung lag in der bis zum letzten Kriegstag verfolgten Strategie des offensiven Einsatzes und damit der Illusion von Zielstrebigkeit, Pflichterfüllung und Ordnung inmitten eines scheinbaren Chaos." Armin Nolzen führt demgegenüber die "eher negativen Loyalitäten" des großen Teils der deutschen Bevölkerung an, die der "Führer" zu Profiteuren seiner Politik gemacht habe; Wehrmacht und NSDAP hätten in ihrer Bindung an Hitler "über keine positive, über das Kriegsende hinausreichende Perspektive" verfügt. John Zimmermann führt die Verbindung von Befehl und Gehorsam mit dem "Glauben an die Einzigartigkeit der Person Hitlers" als Gründe dafür an, daß "die übergroße Mehrheit tat, was ihr befohlen" worden sei - die einen in der Hoffnung auf ein Mirakel durch Wunderwaffen, die andern in der Hoffnung auf das "Irgendwie-Durchkommen". Der in der Memoirenliteratur oft verinnerlichte Topos von der "Pflichterfüllung bis zum absoluten Ende" - somit eine Überhöhung von Sekundärtugenden wie Treue, Tapferkeit, Disziplin und Ordnung - bemäntele jedoch nur das "profane alltägliche und professionelle, schlicht handwerkliche Versagen".
Abschließend warnt Rolf-Dieter Müller vor kurzschlüssigen Erklärungsketten. Wenn sich der in einigen Aufsätzen mit Hinweis auf die Kämpfe gegen die Westalliierten vermittelte Eindruck bestätigen sollte, daß die Wehrmacht nicht bis zum letzten Tag verbissen gekämpft habe, sondern dort, wo der Feind energisch angegriffen habe, "entgegen allen Führerbefehlen und trotz vereinzelter, teilweise heftiger Kämpfe immer weiter ausgewichen ist und sich allmählich in Haufen von mehr oder weniger schlecht organisierten Soldaten auflöste, die auf eine günstige Gelegenheit zur Gefangennahme oder zum Untertauchen warteten, dann bedarf das differenzierender Beschreibungen und Analysen". Der leicht mißverständliche Begriff des "Durchhaltens" könne sogar fragwürdig werden. Man darf gespannt sein, wie das Potsdamer Forschungsamt innerhalb seines Reihenwerkes "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" die einzelnen Bausteine und damit die Perspektivenvielfalt in die längst überfällige Gesamtdarstellung des Kriegsendes einfügen wird.
RAINER BLASIUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Perspektivenvielfalt: Der Zusammenbruch im Jahr 1945
Kriegsende 1945 in Deutschland. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Jörg Hillmann und John Zimmermann. R. Oldenbourg Verlag, München 2002. 335 Seiten, 34,80 Euro.
Das Kriegsende in Deutschland im Jahr 1945 läßt sich bekanntlich nicht auf den zunächst in der DDR, dann Mitte der achtziger Jahre auch in der Bundesrepublik salonfähig gewordenen Nenner von der "Befreiung" bringen. Zu groß ist die Verschiedenheit im zeitlichen Ablauf, zu gravierend sind die Unterschiede im subjektiven zeitgenössischen Empfinden zwischen West- und Ostfront, zwischen Oben und Unten in den Hierarchien, zwischen Tätern und Opfern et cetera. Daher befassen sich die elf höchst informativen und meist bedenkenswerten Beiträge der neuesten Publikation des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes mit dem "offiziellen" und dem "institutionellen" Kriegsende, mit "kollektivem" und "individuellem" Erleben des Untergangs, ja sogar mit den Fotos der "Berliner Illustrierten Zeitung" über den "Endkampf", mit Trümmeraufnahmen aus deutschen Städten und schließlich mit der Bedeutung des Zweiten Weltkriegs in den "Erinnerungskulturen der Deutschen" im ersten Nachkriegsjahrzehnt.
Jörg Echternkamp weist auf Nietzsches Diktum von der Arbeit am "Selbstbetrug" hin: Auch die deutsche Kriegsvergangenheit sei nicht beschwiegen oder tabuisiert worden; statt dessen habe "die selektive Beschäftigung mit ihr das Selbstverständnis der west- und ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft" geprägt. Mit der von Karl Dönitz betriebenen Legendenbildung beschäftigen sich Heinrich Schwendemann und Jörg Hillmann. Der Großadmiral habe zwar im nachhinein die Urheberschaft für die Rettungsaktion der Kriegsmarine über die Ostsee beansprucht, jedoch selbst nur den geringsten Anteil daran gehabt: "Nur das Engagement der örtlichen Marinestellen, die teilweise im Widerspruch zu den von der Marineführung erteilten Befehlen agierten, ermöglichte im Frühjahr 1945 den Transport von 800000 bis 900000 Flüchtlingen und etwa 350000 verwundeten Soldaten über die Ostsee direkt nach Westen." Vor der testamentarisch verfügten Einsetzung zum Staatsoberhaupt sei er durchaus bereit gewesen, den "Kampf bis zur letzten Patrone" im Sinne Hitlers fortzusetzen: "Er tat dies jedoch nicht, da er im Bewußtsein handelte, der ,Führer' habe durch seinen Tod den Weg zur Kapitulation freigemacht. Das war Dönitz' vom ,Führer' befohlene Bestimmung."
Wie kam es aber zu dem von den Autoren beschriebenen "Durchhalte"-Effekt 1944/45? Die Kampfmoral und Einsatzbereitschaft der Kriegsmarine sei - so Kathrin Orth - insbesondere bei fahrenden Einheiten wie den U- und S-Booten erhalten geblieben: "Eine wesentliche Begründung lag in der bis zum letzten Kriegstag verfolgten Strategie des offensiven Einsatzes und damit der Illusion von Zielstrebigkeit, Pflichterfüllung und Ordnung inmitten eines scheinbaren Chaos." Armin Nolzen führt demgegenüber die "eher negativen Loyalitäten" des großen Teils der deutschen Bevölkerung an, die der "Führer" zu Profiteuren seiner Politik gemacht habe; Wehrmacht und NSDAP hätten in ihrer Bindung an Hitler "über keine positive, über das Kriegsende hinausreichende Perspektive" verfügt. John Zimmermann führt die Verbindung von Befehl und Gehorsam mit dem "Glauben an die Einzigartigkeit der Person Hitlers" als Gründe dafür an, daß "die übergroße Mehrheit tat, was ihr befohlen" worden sei - die einen in der Hoffnung auf ein Mirakel durch Wunderwaffen, die andern in der Hoffnung auf das "Irgendwie-Durchkommen". Der in der Memoirenliteratur oft verinnerlichte Topos von der "Pflichterfüllung bis zum absoluten Ende" - somit eine Überhöhung von Sekundärtugenden wie Treue, Tapferkeit, Disziplin und Ordnung - bemäntele jedoch nur das "profane alltägliche und professionelle, schlicht handwerkliche Versagen".
Abschließend warnt Rolf-Dieter Müller vor kurzschlüssigen Erklärungsketten. Wenn sich der in einigen Aufsätzen mit Hinweis auf die Kämpfe gegen die Westalliierten vermittelte Eindruck bestätigen sollte, daß die Wehrmacht nicht bis zum letzten Tag verbissen gekämpft habe, sondern dort, wo der Feind energisch angegriffen habe, "entgegen allen Führerbefehlen und trotz vereinzelter, teilweise heftiger Kämpfe immer weiter ausgewichen ist und sich allmählich in Haufen von mehr oder weniger schlecht organisierten Soldaten auflöste, die auf eine günstige Gelegenheit zur Gefangennahme oder zum Untertauchen warteten, dann bedarf das differenzierender Beschreibungen und Analysen". Der leicht mißverständliche Begriff des "Durchhaltens" könne sogar fragwürdig werden. Man darf gespannt sein, wie das Potsdamer Forschungsamt innerhalb seines Reihenwerkes "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" die einzelnen Bausteine und damit die Perspektivenvielfalt in die längst überfällige Gesamtdarstellung des Kriegsendes einfügen wird.
RAINER BLASIUS
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Das Kriegsende 1945 in Deutschland, hält Rezensent Rainer Blasius eingangs fest, wurde in einer Vielfalt von Perspektiven erlebt und wahrgenommen, die sich nicht auf einen eindeutigen Nenner bringen lassen. Diesem Umstand trägt die neueste Publikation des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes nach Blasius' Ansicht Rechnung. So befassen sich die "höchst informativen und meist bedenkenswerten" Beiträge laut Blasius mit dem "offiziellen" und dem "institutionellen" Kriegsende ebenso wie mit "kollektivem" und "individuellem" Erleben des Untergangs, mit den Fotos der 'Berliner Illustrierten Zeitung' über den "Endkampf" oder der Bedeutung des Zweiten Weltkriegs in den "Erinnerungskulturen der Deutschen" im ersten Nachkriegsjahrzehnt. Neben Heinrich Schwendemanns und Jörg Hillmanns Beitrag über die von Großadmiral Karl Dönitz betriebene Legendenbildung, Jörg Echternkamps Untersuchung der Prägung des Selbstverständnisses der west- und ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft durch die Beschäftigung mit der Kriegsvergangenheit und Kathrin Orths Analyse des "Durchhalte"-Effekts bei den fahrenden Einheiten wie den U-Booten, hebt Blasisus insbesondere John Zimmermanns Beitrag über die Verbindung von Befehl und Gehorsam hervor.
© Perlentaucher Medien GmbH
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