Elf Millionen deutsche Soldaten gerieten während des Zweiten Weltkriegs in Gefangenschaft, davon befanden sich über drei Millionen in britischen Lagern. Renate Held stellt erstmals umfassend die britische Kriegsgefangenenpolitik dar. Sie erschließt sowohl Motive, Entscheidungsprozesse und Handlungen der Gewahrsamsmacht als auch deren Auswirkungen auf die betroffenen Gefangenen. Ihren alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Forschungsgegenstand bettet sie ein in die militär- und politikgeschichtlichen Rahmenbedingungen. Deutlich wird so, wie sehr das Schicksal und der Alltag der Gefangenen von Kriegsverlauf und politischen Entscheidungen der Kriegsgegner abhing.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine ZeitungNach Farben sortiert
Deutsche Soldaten in britischer Kriegsgefangenschaft
Im Juni 1940 grassiert in England die Invasionsangst. Deutsche Fallschirmjäger, so glaubt man, könnten bald über den Gefangenenlagern abspringen und ihre inhaftierten Kameraden befreien. Im Augenblick der jeden Tag erwarteten deutschen Landung - so erzählt man sich - würden dann bewaffnete Horden entlaufener Gefangener das britische Hinterland unsicher machen. Im Sommer 1940 beschäftigte sich sogar das Kriegskabinett mit dem Schicksal der 2000 deutschen Soldaten in britischem Gewahrsam. Sie alle galten gleichermaßen als fanatische Nazis, denen man nicht über den Weg trauen könne. Premierminister Churchill beschloss daher, diese potentielle fünfte Kolonne in die Dominions abzuschieben, wo sie keinen Schaden mehr anrichten konnte. So gab es bis Mitte 1944 immer nur wenige deutsche Gefangene in England - vor allem solche in Speziallagern wie Trent Park im Norden von London, wo man sie als reichlich sprudelnde Informationsquelle abhörte.
Renate Held zeigt, dass britische Politiker und Militärs ein eher eindimensionales Bild von den deutschen Soldaten im eigenen Land hatten. Man war insbesondere nicht gewillt, zwischen "den" Nationalsozialisten und "den" Deutschen zu unterscheiden. Erklärtes Kriegsziel war eben nicht nur die Beseitigung des nationalsozialistischen Systems, sondern auch die Vernichtung dessen, was sich britische Politiker und Militärs grotesk überzeichnet als preußischen Militarismus vorstellten. Dieses Wahrnehmungsmuster verhinderte eine systematischere Kooperation mit den deutschen Gefangenen. Die Sowjets hatten hier bekanntermaßen weniger Berührungsängste, bauten 1943 das Nationalkomitee Freies Deutschland auf. Dazu fehlte in England jeder Wille. Ein Nationalkomitee "West" gab es nicht, sondern nur einige wenige Fälle von Zusammenarbeit bei der Propagandaarbeit.
Als ab Sommer 1944 die britischen Armeen in Frankreich immer mehr Gefangene machten, kam London schließlich nicht umhin, die bisherige Praxis zu überdenken. Die eigene Landwirtschaft brauchte dringend Arbeitskräfte, da man die generell als gutmütig eingeschätzten italienischen Gefangenen hatte repatriieren müssen. Der veränderten Einstellung entsprach, dass man bereit war zu differenzieren und in den Gefangenen nicht mehr nur bösartige Hitler-Verehrer zu sehen. Die Einteilung in drei Gruppen überzeugter Nazis (Schwarz), Regimekritiker (Weiß) und die große restliche Masse (Grau) zeigt dies deutlich, mag sie aus heutiger Sicht auch allzu holzschnittartig scheinen. Dieser Haltung entsprach ab Sommer 1945 die behutsame Praxis der reeducation, die ein umfassendes Kultur- und Bildungsprogramm war, das - so die Verfasserin - zumindest einen Anstoß zur Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins bei Hunderttausenden ehemaligen Landser gab. Frau Held hat eine konzise Synthese der bisher verstreuten Studien zu deutschen Soldaten in britischer Kriegsgefangenschaft vorgelegt, auch wenn den Leser keine großen Neuigkeiten erwarten.
SÖNKE NEITZEL
Renate Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien. Deutsche Soldaten des Zweiten Weltkriegs in britischem Gewahrsam. Oldenbourg Verlag, München 2007. 268 S., 34,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutsche Soldaten in britischer Kriegsgefangenschaft
Im Juni 1940 grassiert in England die Invasionsangst. Deutsche Fallschirmjäger, so glaubt man, könnten bald über den Gefangenenlagern abspringen und ihre inhaftierten Kameraden befreien. Im Augenblick der jeden Tag erwarteten deutschen Landung - so erzählt man sich - würden dann bewaffnete Horden entlaufener Gefangener das britische Hinterland unsicher machen. Im Sommer 1940 beschäftigte sich sogar das Kriegskabinett mit dem Schicksal der 2000 deutschen Soldaten in britischem Gewahrsam. Sie alle galten gleichermaßen als fanatische Nazis, denen man nicht über den Weg trauen könne. Premierminister Churchill beschloss daher, diese potentielle fünfte Kolonne in die Dominions abzuschieben, wo sie keinen Schaden mehr anrichten konnte. So gab es bis Mitte 1944 immer nur wenige deutsche Gefangene in England - vor allem solche in Speziallagern wie Trent Park im Norden von London, wo man sie als reichlich sprudelnde Informationsquelle abhörte.
Renate Held zeigt, dass britische Politiker und Militärs ein eher eindimensionales Bild von den deutschen Soldaten im eigenen Land hatten. Man war insbesondere nicht gewillt, zwischen "den" Nationalsozialisten und "den" Deutschen zu unterscheiden. Erklärtes Kriegsziel war eben nicht nur die Beseitigung des nationalsozialistischen Systems, sondern auch die Vernichtung dessen, was sich britische Politiker und Militärs grotesk überzeichnet als preußischen Militarismus vorstellten. Dieses Wahrnehmungsmuster verhinderte eine systematischere Kooperation mit den deutschen Gefangenen. Die Sowjets hatten hier bekanntermaßen weniger Berührungsängste, bauten 1943 das Nationalkomitee Freies Deutschland auf. Dazu fehlte in England jeder Wille. Ein Nationalkomitee "West" gab es nicht, sondern nur einige wenige Fälle von Zusammenarbeit bei der Propagandaarbeit.
Als ab Sommer 1944 die britischen Armeen in Frankreich immer mehr Gefangene machten, kam London schließlich nicht umhin, die bisherige Praxis zu überdenken. Die eigene Landwirtschaft brauchte dringend Arbeitskräfte, da man die generell als gutmütig eingeschätzten italienischen Gefangenen hatte repatriieren müssen. Der veränderten Einstellung entsprach, dass man bereit war zu differenzieren und in den Gefangenen nicht mehr nur bösartige Hitler-Verehrer zu sehen. Die Einteilung in drei Gruppen überzeugter Nazis (Schwarz), Regimekritiker (Weiß) und die große restliche Masse (Grau) zeigt dies deutlich, mag sie aus heutiger Sicht auch allzu holzschnittartig scheinen. Dieser Haltung entsprach ab Sommer 1945 die behutsame Praxis der reeducation, die ein umfassendes Kultur- und Bildungsprogramm war, das - so die Verfasserin - zumindest einen Anstoß zur Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins bei Hunderttausenden ehemaligen Landser gab. Frau Held hat eine konzise Synthese der bisher verstreuten Studien zu deutschen Soldaten in britischer Kriegsgefangenschaft vorgelegt, auch wenn den Leser keine großen Neuigkeiten erwarten.
SÖNKE NEITZEL
Renate Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien. Deutsche Soldaten des Zweiten Weltkriegs in britischem Gewahrsam. Oldenbourg Verlag, München 2007. 268 S., 34,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zufrieden zeigt sich Sönke Neitzel mit Renate Helds Buch über deutsche Soldaten in britischer Kriegsgefangenschaft. Er schätzt die Arbeit als "konzise Synthese" der bisher verstreuten Studien zum Thema. Großartig Neues allerdings hat er darin nicht gelesen. Er attestiert der Autorin zu zeigen, wie die anfängliche Sicht auf die Kriegsgefangenen im Laufe des Krieges 1944 einem differenzierteren Blick gewichen ist, so dass schließlich zwischen strammen Nazis und einfachen deutschen Soldaten unterschieden wurde.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH