Fast alle Gesellschaften haben sich bemüht, der organisierten Gewalt in Kriegen Grenzen zu setzen. Seitdem es Regeln für die Kriegführung gab, sind diese aber auch immer wieder gebrochen worden. Dabei kam es zu ungezählten Gewalttaten an meist Wehrlosen, die in das Kampfgeschehen im Frontbereich oder im Hinterland verwickelt waren. Der vorliegende Band befasst sich mit den von Kriegsbrauch oder Völkerrecht vorgegebenen Regeln für den Umgang mit feindlichen Soldaten und Zivilisten und mit ihrer Verletzung. Historikerinnen und Historiker aus sechs Ländern untersuchen - epochenübergreifend vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert - solche Norm- und Rechtsverletzungen. Ausgewählte Fallbeispiele machen deutlich, von wem, in welcher Form, unter welchen Umständen und aus welchem Anlass diese Grenzen jeweils überschritten wurden. Welche Taten sich von der als "normal" empfundenen Gewalt des Krieges abhoben, wird ebenso aufgezeigt wie die je nach Zeit und Umständen unterschiedliche Auffassung darüber, was denn überhaupt als "Kriegsgreuel" anzusehen sei.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.01.2009Ordnung des Schreckens
Entgrenzte Gewalt: Die Geschichte der Kriegsgräuel
In der öffentlichen Wahrnehmung gibt es zwei erste Opfer des Krieges: die Wahrheit und den unschuldigen Zivilisten. Das gilt aktuell im Fall Gaza. Das gilt auch im Irak und in Afghanistan, wo Meldungen von getöteten Menschen, die nicht am unmittelbaren Kampfgeschehen beteiligt sind, so alltäglich geworden sind wie der Wetterbericht. Doch wie wenig das ein neues Phänomen ist, zeigt ein von Daniel Hohrath und Sönke Neitzel herausgegebener Band mit einer Vielzahl von Fallstudien über die Kriegsgräuel vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Der Berliner und der Mainzer Historiker zeigen – darin liegt ihr großes Verdienst – vor allem die Prinzipien und Mechanismen entgrenzter Gewalt in kriegerischen Konflikten auf.
Vor welchen Herausforderungen eine Überblicksdarstellung regelwidriger Gewalt im Krieg steht, machen Hohrath und Neitzel von Anfang an deutlich. Denn der Blick in die Geschichte zeigt eine riesige Variationsbreite, was die Zügelung oder Entgrenzung der Gewalt, die Zahl der Opfer, die Ausmaße der Schäden, die Schwere der Folgen anbelangt. So lässt sich Krieg zwar philosophisch definieren, nicht aber ein „normaler” Krieg als historisch-empirischer Maßstab konstruieren. Folglich existiert auch keine zeitübergreifende Definition für Kriegsgräuel als Bezeichnung für eine besonders brutale oder verbrecherische Kriegführung. Vielmehr steht dieser Begriff für die eklatante Verletzung der jeweils in einer Epoche gültigen Grenzen kriegerischer Gewaltausübung.
Regeln im Ausnahmezustand
Angesichts der unüberschaubaren Zahl von Menschen, die im Lauf der Geschichte zu Opfern unbeschränkter Kriegsgewalt wurden, könnte es scheinen, als ob die Befolgung gewaltbegrenzender Regeln im Krieg allgemein die Ausnahme und Regellosigkeit der Normalzustand gewesen sei. Doch dem halten die beiden Militärhistoriker entgegen, dass es kein gesellschaftliches Verhalten und keinen historisch nachweisbaren Krieg ohne Regeln gegeben hat. Sie nennen vier Grundmotive für solche Regeln: gesellschaftliche Ethik, innermilitärische Disziplin sowie die Prinzipien der Selbsterhaltung und der Gegenseitigkeit. Ethische Schranken werden heute in der Regel vor dem Hintergrund der allgemeinen Menschenrechte gesehen, die aber erst gerade eben ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert haben. Für frühere Epochen und nicht westlich geprägte Kulturen können sie weder als gegeben noch als verbindlich gelten.
Die von Hohrath und Neitzel versammelten Untersuchungen beginnen im christlichen Mittelalter Europas, wo Beschränkungen der Gewalt gegenüber Frauen, Kindern und Alten, insbesondere auch die Schonung von Priestern und Kirchen zwar den allgemein anerkannten Geboten der Religion entsprachen, aber prinzipielle Gültigkeit nur in Kriegen zwischen Christen beanspruchen konnten. Im Kampf gegen Andersgläubige dienten diese Regeln lediglich als individuelle Gewalthemmung oder konnten sich auch als Begründung für maßlose Brutalität ins Gegenteil verkehren. Der Umgang mit nicht zur Christenheit gerechneten Feinden, wie etwa den „heidnischen” Ureinwohnern Amerikas oder Muslimen und europäischen „Ketzern”, hat das immer wieder gezeigt. Dasselbe gilt nach Hohraths und Neitzels Analyse für die Regeln einer gesellschaftlichen Standesethik, die etwa für das „ritterliche” Verhalten des Adels von großer Bedeutung war, sich jedoch meist ausschließlich auf Angehörige des eigenen Standes beschränkte – bäuerliches oder stadtbürgerliches „Fußvolk” konnte keine Schonung erwarten.
Einer der wichtigsten Gründe für die Herausbildung von Regeln im Krieg dürfte die militärische Disziplin der kämpfenden Akteure sein. Dabei nennen Hohrath und Neitzel es bezeichnend, dass Kodifizierungen des Kriegsbrauches in erster Linie für die innere Ordnung der jeweiligen Kriegsorganisation gelten. So bezogen sich Verbote des Plünderns zuallererst auf Situationen während der Schlacht: Es musste verhindert werden, dass sich die Soldaten zugunsten individueller Bereicherung oder Triebbefriedigung vorzeitig vom Kampfgeschehen verabschiedeten. Hingegen konnte die Erlaubnis von Plünderungen nach Ende der Kampfhandlungen als „Belohnung” für die ausgestandenen Gefahren durchaus als Stärkung des Zusammenhalts militärischer Einheiten verstanden werden – freilich zum Schaden der feindlichen Zivilbevölkerung.
Die Selbsterhaltung der Heere, die Versorgung mit Lebensmitteln und Unterkunft, war stets die Basis jeglicher Kriegführung, sie prägte insbesondere in der Vormoderne die militärischen Aktionen und zählte zu den Hauptmotiven für eine Disziplinierung und Gewaltbegrenzung. Doch das galt nur so lange, wie es militärisch Vorteile versprach: Es war sinnvoll, die Ressourcen des Landes soweit zu schonen und die Bereitschaft der Bevölkerung, diese ohne Widerstand zur Verfügung zu stellen, durch gute Behandlung zu fördern, wenn man länger oder wiederholt in einem Gebiet operieren wollte. Mit denselben militärischen Nutzenerwägungen ließ sich in anderen Situationen auch die bewusste Verwüstung ganzer Landstriche begründen, um deren Gebrauch durch den Gegner zu verhindern, oder Brutalitäten gegenüber Zivilisten rechtfertigen, wenn sich diese nicht kooperativ zeigten.
Als zentral für eine Begrenzung von Gewalt betrachten Hohrath und Neitzel hingegen das Prinzip der Gegenseitigkeit. Es spiegelt sich in den „Spielregeln”, die von beiden Seiten eingehalten werden, um unnötige Verluste zu vermeiden und keine Spirale von Gräuel und Rache entstehen zu lassen. Diese Regeln wirken besonders in symmetrischen Konflikten ähnlich starker und ähnlich organisierter Gegner, wie es bei den europäischen Söldnerheeren oder professionellen Armeen der frühen und späten Neuzeit der Fall war. Hier etablierten sich Kriegsbräuche wie der Austausch von Gefangenen gegen Lösegeld oder Mann gegen Mann und die Übergabe von Festungen gegen freien Abzug der Besatzung. Man verzichtete auf Gewalttaten, wenn der Gegner dies genauso tat, zögerte aber bei regelwidrigem Verhalten nicht, mit gleicher Münze zu antworten.
Entsprechend kristallisieren sich strukturelle Faktoren heraus, die zu einer Verschärfung der Kriegssituation führen und Regelverletzungen befördern. Hohrath und Neitzel zählen hierzu die ökonomische und ökologische Struktur des Kriegsschauplatzes: Wo Fruchtbarkeit und Infrastruktur eines Landes es erlaubten, dass sich Heere darin verpflegen konnten, ohne dass es zu einer existenziellen Konkurrenz zwischen Truppen und Zivilbevölkerung kam, war eine gemäßigte Kriegführung grundsätzlich möglich. Sobald dies aber nicht mehr der Fall war, und auch die logistische Organisation der Armee keinen Ausgleich schaffen konnte, kam es zu rücksichtsloser Gewalt und verzweifeltem Widerstand.
Auch Asymmetrien in der Kriegführung beider Seiten führten regelmäßig dazu, dass gewaltbegrenzende Regeln an Wirksamkeit verloren. Materiell und technisch unterlegenen Konfliktparteien, die in offener Feldschlacht chancenlos waren, blieb meist nichts anderes übrig, als sich unkonventioneller Kriegsformen zu bedienen, wobei diese von der überlegenen Seite dann als Regelverletzungen empfunden und ihrerseits oft mit Repressalien und eigenen Verstößen gegen die Norm beantwortet wurden.
Angesichts der täglichen Fernsehbilder von Gewalt gegen unschuldige Zivilisten auf den Kriegsschauplätzen im Nahen Osten oder in Afrika erscheinen auch die heutigen Waffengänge auf den ersten Blick als Gewaltphänomene, die sich durch Regeln nicht eingrenzen lassen. Die Ergebnisse der Studien in diesem hervorragenden Überblicksband zeigen jedoch, dass die starke Reglementierung des Krieges eher der Normalfall als die Ausnahme war. Das galt insbesondere für Gegner, die sich aus religiösen, rassischen, ideologischen Gründen als gleichwertig betrachteten. Doch selbst in Konflikten zwischen Parteien, die einander die Gleichwertigkeit absprachen, gab es ein, wenn auch nur rudimentäres Regelwerk. Je länger der Krieg dauerte, desto wahrscheinlicher wurde es allerdings, dass sich neue Regeln herausbildeten, die meist mehr Gewalt zuließen. Sie verschwanden jedoch nie vollständig – selbst nicht in einem totalen Krieg wie dem Zweiten Weltkrieg.
Die „normale” Gewalt
Gegenüber der insgesamt durch Kriege hervorgerufenen organisierten Gewalt bilden Regelverletzungen in Form von Gräueltaten eher die Ausnahme. Jedoch finden gerade diese die besondere Aufmerksamkeit der jeweiligen Zeitgenossen. Bis heute ist die Vorstellung von Kriegen in hohem Maße von Gräueln an Nonkombattanten geprägt. Die kriegerische Wirklichkeit, wie sie in Hohraths und Neitzels luzider Analyse sichtbar wird, ist hingegen meist durch eine Gewaltausübung bestimmt, die zumindest die Kombattanten als „normal” wahrnehmen. Auch so gesehen ist die Wahrheit das erste Opfer des Krieges. THOMAS SPECKMANN
SÖNKE NEITZEL / DANIEL HOHRATH (Hrsg.): Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2008. 389 S., 39,90 Euro.
Die Plünderung Magdeburgs 1631, gemalt von Eduard Steinbrück. Foto: bpk
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Entgrenzte Gewalt: Die Geschichte der Kriegsgräuel
In der öffentlichen Wahrnehmung gibt es zwei erste Opfer des Krieges: die Wahrheit und den unschuldigen Zivilisten. Das gilt aktuell im Fall Gaza. Das gilt auch im Irak und in Afghanistan, wo Meldungen von getöteten Menschen, die nicht am unmittelbaren Kampfgeschehen beteiligt sind, so alltäglich geworden sind wie der Wetterbericht. Doch wie wenig das ein neues Phänomen ist, zeigt ein von Daniel Hohrath und Sönke Neitzel herausgegebener Band mit einer Vielzahl von Fallstudien über die Kriegsgräuel vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Der Berliner und der Mainzer Historiker zeigen – darin liegt ihr großes Verdienst – vor allem die Prinzipien und Mechanismen entgrenzter Gewalt in kriegerischen Konflikten auf.
Vor welchen Herausforderungen eine Überblicksdarstellung regelwidriger Gewalt im Krieg steht, machen Hohrath und Neitzel von Anfang an deutlich. Denn der Blick in die Geschichte zeigt eine riesige Variationsbreite, was die Zügelung oder Entgrenzung der Gewalt, die Zahl der Opfer, die Ausmaße der Schäden, die Schwere der Folgen anbelangt. So lässt sich Krieg zwar philosophisch definieren, nicht aber ein „normaler” Krieg als historisch-empirischer Maßstab konstruieren. Folglich existiert auch keine zeitübergreifende Definition für Kriegsgräuel als Bezeichnung für eine besonders brutale oder verbrecherische Kriegführung. Vielmehr steht dieser Begriff für die eklatante Verletzung der jeweils in einer Epoche gültigen Grenzen kriegerischer Gewaltausübung.
Regeln im Ausnahmezustand
Angesichts der unüberschaubaren Zahl von Menschen, die im Lauf der Geschichte zu Opfern unbeschränkter Kriegsgewalt wurden, könnte es scheinen, als ob die Befolgung gewaltbegrenzender Regeln im Krieg allgemein die Ausnahme und Regellosigkeit der Normalzustand gewesen sei. Doch dem halten die beiden Militärhistoriker entgegen, dass es kein gesellschaftliches Verhalten und keinen historisch nachweisbaren Krieg ohne Regeln gegeben hat. Sie nennen vier Grundmotive für solche Regeln: gesellschaftliche Ethik, innermilitärische Disziplin sowie die Prinzipien der Selbsterhaltung und der Gegenseitigkeit. Ethische Schranken werden heute in der Regel vor dem Hintergrund der allgemeinen Menschenrechte gesehen, die aber erst gerade eben ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert haben. Für frühere Epochen und nicht westlich geprägte Kulturen können sie weder als gegeben noch als verbindlich gelten.
Die von Hohrath und Neitzel versammelten Untersuchungen beginnen im christlichen Mittelalter Europas, wo Beschränkungen der Gewalt gegenüber Frauen, Kindern und Alten, insbesondere auch die Schonung von Priestern und Kirchen zwar den allgemein anerkannten Geboten der Religion entsprachen, aber prinzipielle Gültigkeit nur in Kriegen zwischen Christen beanspruchen konnten. Im Kampf gegen Andersgläubige dienten diese Regeln lediglich als individuelle Gewalthemmung oder konnten sich auch als Begründung für maßlose Brutalität ins Gegenteil verkehren. Der Umgang mit nicht zur Christenheit gerechneten Feinden, wie etwa den „heidnischen” Ureinwohnern Amerikas oder Muslimen und europäischen „Ketzern”, hat das immer wieder gezeigt. Dasselbe gilt nach Hohraths und Neitzels Analyse für die Regeln einer gesellschaftlichen Standesethik, die etwa für das „ritterliche” Verhalten des Adels von großer Bedeutung war, sich jedoch meist ausschließlich auf Angehörige des eigenen Standes beschränkte – bäuerliches oder stadtbürgerliches „Fußvolk” konnte keine Schonung erwarten.
Einer der wichtigsten Gründe für die Herausbildung von Regeln im Krieg dürfte die militärische Disziplin der kämpfenden Akteure sein. Dabei nennen Hohrath und Neitzel es bezeichnend, dass Kodifizierungen des Kriegsbrauches in erster Linie für die innere Ordnung der jeweiligen Kriegsorganisation gelten. So bezogen sich Verbote des Plünderns zuallererst auf Situationen während der Schlacht: Es musste verhindert werden, dass sich die Soldaten zugunsten individueller Bereicherung oder Triebbefriedigung vorzeitig vom Kampfgeschehen verabschiedeten. Hingegen konnte die Erlaubnis von Plünderungen nach Ende der Kampfhandlungen als „Belohnung” für die ausgestandenen Gefahren durchaus als Stärkung des Zusammenhalts militärischer Einheiten verstanden werden – freilich zum Schaden der feindlichen Zivilbevölkerung.
Die Selbsterhaltung der Heere, die Versorgung mit Lebensmitteln und Unterkunft, war stets die Basis jeglicher Kriegführung, sie prägte insbesondere in der Vormoderne die militärischen Aktionen und zählte zu den Hauptmotiven für eine Disziplinierung und Gewaltbegrenzung. Doch das galt nur so lange, wie es militärisch Vorteile versprach: Es war sinnvoll, die Ressourcen des Landes soweit zu schonen und die Bereitschaft der Bevölkerung, diese ohne Widerstand zur Verfügung zu stellen, durch gute Behandlung zu fördern, wenn man länger oder wiederholt in einem Gebiet operieren wollte. Mit denselben militärischen Nutzenerwägungen ließ sich in anderen Situationen auch die bewusste Verwüstung ganzer Landstriche begründen, um deren Gebrauch durch den Gegner zu verhindern, oder Brutalitäten gegenüber Zivilisten rechtfertigen, wenn sich diese nicht kooperativ zeigten.
Als zentral für eine Begrenzung von Gewalt betrachten Hohrath und Neitzel hingegen das Prinzip der Gegenseitigkeit. Es spiegelt sich in den „Spielregeln”, die von beiden Seiten eingehalten werden, um unnötige Verluste zu vermeiden und keine Spirale von Gräuel und Rache entstehen zu lassen. Diese Regeln wirken besonders in symmetrischen Konflikten ähnlich starker und ähnlich organisierter Gegner, wie es bei den europäischen Söldnerheeren oder professionellen Armeen der frühen und späten Neuzeit der Fall war. Hier etablierten sich Kriegsbräuche wie der Austausch von Gefangenen gegen Lösegeld oder Mann gegen Mann und die Übergabe von Festungen gegen freien Abzug der Besatzung. Man verzichtete auf Gewalttaten, wenn der Gegner dies genauso tat, zögerte aber bei regelwidrigem Verhalten nicht, mit gleicher Münze zu antworten.
Entsprechend kristallisieren sich strukturelle Faktoren heraus, die zu einer Verschärfung der Kriegssituation führen und Regelverletzungen befördern. Hohrath und Neitzel zählen hierzu die ökonomische und ökologische Struktur des Kriegsschauplatzes: Wo Fruchtbarkeit und Infrastruktur eines Landes es erlaubten, dass sich Heere darin verpflegen konnten, ohne dass es zu einer existenziellen Konkurrenz zwischen Truppen und Zivilbevölkerung kam, war eine gemäßigte Kriegführung grundsätzlich möglich. Sobald dies aber nicht mehr der Fall war, und auch die logistische Organisation der Armee keinen Ausgleich schaffen konnte, kam es zu rücksichtsloser Gewalt und verzweifeltem Widerstand.
Auch Asymmetrien in der Kriegführung beider Seiten führten regelmäßig dazu, dass gewaltbegrenzende Regeln an Wirksamkeit verloren. Materiell und technisch unterlegenen Konfliktparteien, die in offener Feldschlacht chancenlos waren, blieb meist nichts anderes übrig, als sich unkonventioneller Kriegsformen zu bedienen, wobei diese von der überlegenen Seite dann als Regelverletzungen empfunden und ihrerseits oft mit Repressalien und eigenen Verstößen gegen die Norm beantwortet wurden.
Angesichts der täglichen Fernsehbilder von Gewalt gegen unschuldige Zivilisten auf den Kriegsschauplätzen im Nahen Osten oder in Afrika erscheinen auch die heutigen Waffengänge auf den ersten Blick als Gewaltphänomene, die sich durch Regeln nicht eingrenzen lassen. Die Ergebnisse der Studien in diesem hervorragenden Überblicksband zeigen jedoch, dass die starke Reglementierung des Krieges eher der Normalfall als die Ausnahme war. Das galt insbesondere für Gegner, die sich aus religiösen, rassischen, ideologischen Gründen als gleichwertig betrachteten. Doch selbst in Konflikten zwischen Parteien, die einander die Gleichwertigkeit absprachen, gab es ein, wenn auch nur rudimentäres Regelwerk. Je länger der Krieg dauerte, desto wahrscheinlicher wurde es allerdings, dass sich neue Regeln herausbildeten, die meist mehr Gewalt zuließen. Sie verschwanden jedoch nie vollständig – selbst nicht in einem totalen Krieg wie dem Zweiten Weltkrieg.
Die „normale” Gewalt
Gegenüber der insgesamt durch Kriege hervorgerufenen organisierten Gewalt bilden Regelverletzungen in Form von Gräueltaten eher die Ausnahme. Jedoch finden gerade diese die besondere Aufmerksamkeit der jeweiligen Zeitgenossen. Bis heute ist die Vorstellung von Kriegen in hohem Maße von Gräueln an Nonkombattanten geprägt. Die kriegerische Wirklichkeit, wie sie in Hohraths und Neitzels luzider Analyse sichtbar wird, ist hingegen meist durch eine Gewaltausübung bestimmt, die zumindest die Kombattanten als „normal” wahrnehmen. Auch so gesehen ist die Wahrheit das erste Opfer des Krieges. THOMAS SPECKMANN
SÖNKE NEITZEL / DANIEL HOHRATH (Hrsg.): Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2008. 389 S., 39,90 Euro.
Die Plünderung Magdeburgs 1631, gemalt von Eduard Steinbrück. Foto: bpk
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit großem Lob bedenkt Thomas Speckmann diesen Band über Kriegsgräuel, den Daniel Hohrath und Sönke Neitzel herausgegeben haben. Er findet darin eine Fülle von Fallstudien, die Beispiele von regelwidriger Gewalt in Kriegen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert erhellen. Eine der Stärken des Buchs sieht Speckmann im Nachweis der "Prinzipien und Mechanismen entgrenzter Gewalt" in kriegerischen Konflikten. Deutlich wird für Speckmann das breite Spektrum an Variationen im Blick die Entgrenzung der Gewalt, die Opferzahlen, die Ausmaße der Schäden und Folgen. Die angesichts der Schrecken der Kriege naheliegende Meinung, gewaltbegrenzende Regeln im Krieg zu befolgen sei eher die Ausnahme, die Regellosigkeit dagegen der Normalzustand gewesen, wird nach Ansicht Speckmanns von den Autoren allerdings widerlegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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