Paul Léautaud, ein Kritiker, von dem Walter Benjamin die allerhöchste Meinung hatte, und einer der großartigsten Tagebuchautoren der Weltliteratur, empfand den Krieg und die deutsche Besatzung als eine schändliche Vergewaltigung seiner geliebten französischen Sprache und Kultur. Über seine Landsleute hingegen machte er sich keine Sorgen. Im Gegensatz zur Sprache, die er mit ihnen teilte, waren sie ihm herzlich egal. Dieser von Hanns Grössel herausgegebene Kriegsausschnitt aus dem großen Tagebuch von 1893 bis 1956 hat es folglich in sich: Léautaud betrachtete die Franzosen unter deutscher Besatzung wie ein böser Kater von der Sorte, mit denen er sich in seinem Haus umgab, wo er mit Tieren von der Straße zusammenlebte. Seine virtuose Misanthropie riss Léautaud zu radikalen Urteilen hin. Aber das macht diese geschliffenen Apercus und Beobachtungen des Pariser Lebens im Krieg umso interessanter.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.05.2011Amoralist mit Wollmütze
Schreibtischgemurmel eines kauzig gefühllosen Zeitzeugen: Paul Léautaud schreibt in seinem Kriegstagebuch illusionslos über die Besatzungszeit in Paris
Neben André Gide ist dieser Mann der andere große französische Tagebuchschreiber des letzten Jahrhunderts: sachlicher, schärfer, bissiger, böser. Die von 1893 bis zu seinem Tod 1956 geführten Eintragungen sind ein Monument literarischen, politischen und privaten Schreibtischgemurmels, vom Format her dem Journal der Brüder Goncourt vergleichbar, im eigensinnigen, illusionslosen, menschenverachtenden, tierliebenden und ichsüchtigen Ton aber eher einem Chamfort oder einem misslaunigen Mercier verwandt. „Skepsis mit Leidenschaft gepaart“, schrieb Ernst Jünger anerkennend, der mit Paul Léautaud Umgang pflegte.
Aus so einem Tagebuch ein thematisch und zeitlich bestimmtes Konzentrat herauszudestillieren, hat etwas von Schwarzbrennerei. Da der Nonkonformist Léautaud aber auf Gesetze nichts gab, ist man als Leser versucht, nach Leibeskraft mit in die Flamme zu blasen. Auch der Autor hätte mitblasen können, denn er selbst hat, wie der Herausgeber Hanns Grössel zur Rechtfertigung seines Unternehmens anführt, 1944 die Edition eines „Journal de guerre“ ins Auge gefasst und dann fallengelassen, aus Angst vor politischen Unannehmlichkeiten. Fast siebzig Jahre später ist nun Grössel, ein ausgewiesener Léautaud-Kenner, mit einem gut kalibrierten Rechen durch die einschlägigen Bände des „Journal littéraire“ gefahren.
Der Sonderling mit der ewigen Mütze auf dem Kopf und den Katzen um sich erlebte die Besatzungszeit in Paris als abgebrühter Realist. Die Deutschen waren die Sieger, damit musste man leben. Sie waren weder Ungetüme noch Helden, sondern bald umgänglich, bald erbarmungslos, jedenfalls aber „an Geist und Körper zu plump, zu sehr in Metaphysik und zähflüssige Romantik verrannt“, um an den Witz der französischen Literatur, die Eleganz der französischen Architektur heranzukommen. Dabei war Léautaud alles andere als ein Patriot. Hitler ist in Paris, Napoleon war in Berlin: „Die Dinge haben die Seiten vertauscht, das ist alles“. Diese unterscheidungsstutzige Formel „ein und dasselbe“ ist ein Refrain, der sich durch die ganzen Aufzeichnungen zieht. Ein Krieg wiegt den anderen auf. Der Autor glaubte an kein Ideal, außer an das der treffenden Formulierung. Er war weder Kollaborateur noch Résistant. Die gaullistische Propaganda hielt er für „Narretei“, Deutschlandfeindlichkeit für „kindisch“ – „bilden sie sich ein, dass sie etwas verändern werden?“. Diese Haltung erlaubte ihm, seinen bescheidenen Lebensalltag etwa so weiterzuführen wie zuvor, so gut es ging.
Gerade von dieser Alltagsperspektive her sind diese Aufzeichnungen interessant. Schon im Herbst 1940 notiert der Autor Versorgungsknappheit und bangt um seine kiloweise gestapelten Kaffee-, Zucker- und Sardinenvorräte. Im Frühjahr 1941 malt er sich schon einen englischen Sieg aus – komisch werde sein, wie die vor dem Krieg Anti-, nun Pro-Deutschen zu Pro-Engländern würden. Léautaud beschreibt auch sarkastisch die verlogene Eilfertigkeit der Kollaborateure, etwa seines Chefs im Verlagshaus Mercure de France, der den Kontakt seiner Kollegen mit den deutschen Besatzern „würdelos“ findet, wohl weil er darin selbst das Monopol haben wolle. Der deutsche Botschafter Otto Abetz wiederum sei, so weiß der Tagebuchschreiber zu berichten, entmutigt und innerlich getroffen darüber, dass die Mehrheit der Franzosen sich, seiner Erwartung zum Trotz, mit den Deutschen nicht anfreunden wollten.
Léautaud notierte, was ihm zu Ohren kam: Sabotageakte, Attentate, Geiselerschießungen – „ich schreibe auf, was man erzählt. Ist es wahr? Ist es falsch? Ich weiß es nicht“. Der Leser taucht ohne historischen Garantieschein in die Ereignisse und bekommt die großen und kleinen Ängste jener Jahre im Aggregatzustand der Gerüchte und Ahnungen, nicht aber der Wahrheit zu spüren. Bei einem so kauzig gefühllosen Zeugen wie Paul Léautaud läuft es einem da manchmal kalt über den Rücken. Seine Freundin habe das Gärtnerfräulein, „eine Jüdin“, kommen lassen wollen, schreibt er am 31. Mai 1942, doch er habe sich dem widersetzt: „Ich will keinen Ärger riskieren.“
Am Tag danach notiert er dann stolz, wie gut er an seiner Ablehnung getan habe: Die „Einwohner“ müssten ab sofort nämlich einen gelben Stoffstern auf der linken Brustseite tragen. Der nur auf die Vernunft schwörende Léautaud war ein unausgegorener Antisemit, wie er ein Antiparlamentarier und ein Antisozialer war, der die Abgeordneten gern pauschal als „Gauner“, die Arbeitslosen als „Pack“ hinstellte – und sich dann doch plötzlich für einen jungen jüdischen Selbstmörder oder ein verzweifeltes Sozialopfer erwärmen konnte.
So wirkt der Autor dieses Tagebuchs gewiss nicht sympathisch, aber auch nicht direkt widerwärtig, eher abseitig. Sein Herz habe weder links noch rechts geschlagen, sondern vielleicht einfach auf dem richtigen Fleck, schreibt der Herausgeber im Nachwort. Das darf bezweifelt werden. Léautauds Herz war nicht recht lokalisierbar zwischen dem scharfen Verstand, der spitzen Zunge und den knorrigen Schreibfingern. Dies ersparte dem Schriftsteller am Kriegsende das Zurechtbiegen seiner Worte und Taten.
Bei jeder Gelegenheit habe er sich höflich, aufmerksam und verbindlich auch zu Feinden verhalten, ohne einen gemeinen Gedanken, eine gemeine Tat, notierte Léautaud im August 1944, als zur Befreiung von Paris die große Glocke von Notre-Dame tönte. Die an den Fenstern flatternden Trikolorefahnen gehen ihm schon wieder auf die Nerven. Die Erinnerung an einen korrekt sich verhaltenden Franzosen aber will er seinen Feinden mitgegeben haben. Für uns Nachgeborene wirkt die Lektüre dieses Buchs mit seiner Amoral in dieser Auswahl und dieser Übersetzung aufregend in jeder Beziehung.
JOSEPH HANIMANN
PAUL LÉAUTAUD: Kriegstagebuch 1939-1945. Herausgegeben und übersetzt von Hanns Grössel. Berenberg Verlag, Berlin, 2011. 191 Seiten, 20 Euro.
„Ich schreibe auf, was man
erzählt. Ist es wahr? Ist es falsch?
Ich weiß es nicht?“
Mehr abseitig als abstoßend
ist Léautaud mit seinem scharfen
Verstand und seiner spitzen Zunge
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Schreibtischgemurmel eines kauzig gefühllosen Zeitzeugen: Paul Léautaud schreibt in seinem Kriegstagebuch illusionslos über die Besatzungszeit in Paris
Neben André Gide ist dieser Mann der andere große französische Tagebuchschreiber des letzten Jahrhunderts: sachlicher, schärfer, bissiger, böser. Die von 1893 bis zu seinem Tod 1956 geführten Eintragungen sind ein Monument literarischen, politischen und privaten Schreibtischgemurmels, vom Format her dem Journal der Brüder Goncourt vergleichbar, im eigensinnigen, illusionslosen, menschenverachtenden, tierliebenden und ichsüchtigen Ton aber eher einem Chamfort oder einem misslaunigen Mercier verwandt. „Skepsis mit Leidenschaft gepaart“, schrieb Ernst Jünger anerkennend, der mit Paul Léautaud Umgang pflegte.
Aus so einem Tagebuch ein thematisch und zeitlich bestimmtes Konzentrat herauszudestillieren, hat etwas von Schwarzbrennerei. Da der Nonkonformist Léautaud aber auf Gesetze nichts gab, ist man als Leser versucht, nach Leibeskraft mit in die Flamme zu blasen. Auch der Autor hätte mitblasen können, denn er selbst hat, wie der Herausgeber Hanns Grössel zur Rechtfertigung seines Unternehmens anführt, 1944 die Edition eines „Journal de guerre“ ins Auge gefasst und dann fallengelassen, aus Angst vor politischen Unannehmlichkeiten. Fast siebzig Jahre später ist nun Grössel, ein ausgewiesener Léautaud-Kenner, mit einem gut kalibrierten Rechen durch die einschlägigen Bände des „Journal littéraire“ gefahren.
Der Sonderling mit der ewigen Mütze auf dem Kopf und den Katzen um sich erlebte die Besatzungszeit in Paris als abgebrühter Realist. Die Deutschen waren die Sieger, damit musste man leben. Sie waren weder Ungetüme noch Helden, sondern bald umgänglich, bald erbarmungslos, jedenfalls aber „an Geist und Körper zu plump, zu sehr in Metaphysik und zähflüssige Romantik verrannt“, um an den Witz der französischen Literatur, die Eleganz der französischen Architektur heranzukommen. Dabei war Léautaud alles andere als ein Patriot. Hitler ist in Paris, Napoleon war in Berlin: „Die Dinge haben die Seiten vertauscht, das ist alles“. Diese unterscheidungsstutzige Formel „ein und dasselbe“ ist ein Refrain, der sich durch die ganzen Aufzeichnungen zieht. Ein Krieg wiegt den anderen auf. Der Autor glaubte an kein Ideal, außer an das der treffenden Formulierung. Er war weder Kollaborateur noch Résistant. Die gaullistische Propaganda hielt er für „Narretei“, Deutschlandfeindlichkeit für „kindisch“ – „bilden sie sich ein, dass sie etwas verändern werden?“. Diese Haltung erlaubte ihm, seinen bescheidenen Lebensalltag etwa so weiterzuführen wie zuvor, so gut es ging.
Gerade von dieser Alltagsperspektive her sind diese Aufzeichnungen interessant. Schon im Herbst 1940 notiert der Autor Versorgungsknappheit und bangt um seine kiloweise gestapelten Kaffee-, Zucker- und Sardinenvorräte. Im Frühjahr 1941 malt er sich schon einen englischen Sieg aus – komisch werde sein, wie die vor dem Krieg Anti-, nun Pro-Deutschen zu Pro-Engländern würden. Léautaud beschreibt auch sarkastisch die verlogene Eilfertigkeit der Kollaborateure, etwa seines Chefs im Verlagshaus Mercure de France, der den Kontakt seiner Kollegen mit den deutschen Besatzern „würdelos“ findet, wohl weil er darin selbst das Monopol haben wolle. Der deutsche Botschafter Otto Abetz wiederum sei, so weiß der Tagebuchschreiber zu berichten, entmutigt und innerlich getroffen darüber, dass die Mehrheit der Franzosen sich, seiner Erwartung zum Trotz, mit den Deutschen nicht anfreunden wollten.
Léautaud notierte, was ihm zu Ohren kam: Sabotageakte, Attentate, Geiselerschießungen – „ich schreibe auf, was man erzählt. Ist es wahr? Ist es falsch? Ich weiß es nicht“. Der Leser taucht ohne historischen Garantieschein in die Ereignisse und bekommt die großen und kleinen Ängste jener Jahre im Aggregatzustand der Gerüchte und Ahnungen, nicht aber der Wahrheit zu spüren. Bei einem so kauzig gefühllosen Zeugen wie Paul Léautaud läuft es einem da manchmal kalt über den Rücken. Seine Freundin habe das Gärtnerfräulein, „eine Jüdin“, kommen lassen wollen, schreibt er am 31. Mai 1942, doch er habe sich dem widersetzt: „Ich will keinen Ärger riskieren.“
Am Tag danach notiert er dann stolz, wie gut er an seiner Ablehnung getan habe: Die „Einwohner“ müssten ab sofort nämlich einen gelben Stoffstern auf der linken Brustseite tragen. Der nur auf die Vernunft schwörende Léautaud war ein unausgegorener Antisemit, wie er ein Antiparlamentarier und ein Antisozialer war, der die Abgeordneten gern pauschal als „Gauner“, die Arbeitslosen als „Pack“ hinstellte – und sich dann doch plötzlich für einen jungen jüdischen Selbstmörder oder ein verzweifeltes Sozialopfer erwärmen konnte.
So wirkt der Autor dieses Tagebuchs gewiss nicht sympathisch, aber auch nicht direkt widerwärtig, eher abseitig. Sein Herz habe weder links noch rechts geschlagen, sondern vielleicht einfach auf dem richtigen Fleck, schreibt der Herausgeber im Nachwort. Das darf bezweifelt werden. Léautauds Herz war nicht recht lokalisierbar zwischen dem scharfen Verstand, der spitzen Zunge und den knorrigen Schreibfingern. Dies ersparte dem Schriftsteller am Kriegsende das Zurechtbiegen seiner Worte und Taten.
Bei jeder Gelegenheit habe er sich höflich, aufmerksam und verbindlich auch zu Feinden verhalten, ohne einen gemeinen Gedanken, eine gemeine Tat, notierte Léautaud im August 1944, als zur Befreiung von Paris die große Glocke von Notre-Dame tönte. Die an den Fenstern flatternden Trikolorefahnen gehen ihm schon wieder auf die Nerven. Die Erinnerung an einen korrekt sich verhaltenden Franzosen aber will er seinen Feinden mitgegeben haben. Für uns Nachgeborene wirkt die Lektüre dieses Buchs mit seiner Amoral in dieser Auswahl und dieser Übersetzung aufregend in jeder Beziehung.
JOSEPH HANIMANN
PAUL LÉAUTAUD: Kriegstagebuch 1939-1945. Herausgegeben und übersetzt von Hanns Grössel. Berenberg Verlag, Berlin, 2011. 191 Seiten, 20 Euro.
„Ich schreibe auf, was man
erzählt. Ist es wahr? Ist es falsch?
Ich weiß es nicht?“
Mehr abseitig als abstoßend
ist Léautaud mit seinem scharfen
Verstand und seiner spitzen Zunge
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Lediglich als "Gelegenheit, mit einem hierzulande kaum recht angekommenen Autor bekannt zu werden" ist das von Hans Gössel edierte "Kriegstagebuch" Paul Leautauds dem Rezensenten Helmut Mayer eine Empfehlung wert. Wer aber ein tieferes Interesse hege, müsse schon zum Original greifen, da der Herausgeber starke Kürzungen vorgenommen habe, deren Kenntlichmachung er obendrein versäumte, klagt Mayer. Dessen ausführliche und wohlinformierte Kritik spart nicht an Details zum Leben und Wirken Leautauds. Das vorliegende Journal aus den den Jahren 1939-1945 stellt lediglich einen Ausschnitt aus einem lebenslangen Tagebuchprojekt des französischen Schriftstellers und Theaterkritikers dar, in Frankreich seit den Sechzigern publiziert auf mehreren tausend Seiten, wie Mayer mitteilt. Von dieser Arbeit könne man sich anhand des vom Herausgeber zusammengestutzen Exzerpts kaum ein Bild machen, dafür immerhin von der schillernden Persönlichkeit Leautauds, schreibt der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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