Produktdetails
- Verlag: Murmann Publishers
- Seitenzahl: 284
- Deutsch
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 500g
- ISBN-13: 9783932425455
- ISBN-10: 3932425456
- Artikelnr.: 10405995
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Warum Verbrecher nicht bestraft werden dürfen
Ein ehrenwerter Denkanstoß: Henning Schmidt-Semisch fragt nach dem Risiko der Kriminalität / Von Gerd Roellecke
Nehmen wir klinisch reine Beispiele. Berta geht arglos über den Bürgersteig. Plötzlich fährt ein Lieferwagen sie von hinten an und drückt sie an die Wand. Der Fahrer war wegen eines unvorhersehbaren Herzinfarktes hinter dem Steuer zusammengebrochen. Berta ist unwiderruflich tot. Sie hinterläßt einen Mann und zwei kleine Kinder. Die Gesellschaft sagt: Zahlen!
Die gleiche Ausgangssituation. Aber der Lieferwagen fährt auf der Straße. Als er auf Bertas Höhe ist, fällt ein Schuß. Berta bricht zusammen und ist unwiderruflich tot. Die Gesellschaft sagt: Strafen und zahlen! Henning Schmidt-Semisch, der Verfasser dieses Buches, Kriminologe und Soziologe am Bremer Institut für Drogenforschung, will das Strafen streichen, "abolieren", und die Zahlungen erhöhen. Tod sei Tod, Witwer sei Witwer, und Verbrecher gehörten so zur Normalität einer Gesellschaft wie Verkehrsunfälle. Nur deshalb könne man sich heute schon gegen Schäden aus Straftaten versichern, zum Beispiel gegen den Diebstahl des eigenen Autos. Schmidt-Semisch schlägt daher eine Verbrechensversicherung nach dem Vorbild der Kraftfahrt-Haftpflichtversicherung vor. Eine Bestrafung von Verbrechern erübrigt sich dann. Nach seinen Vorstellungen werden die Normen des Strafrechts zu Spezialvorschriften des Rechts der unerlaubten Handlungen im Bürgerlichen Gesetzbuch. Das komme "sowohl den ,Opfern' (im Sinne von Kompensation) als auch den ,Tätern' (in Form von Entpönalisierung) zugute".
Der Vorschlag ist ernst gemeint, aber nach der eigenen Darstellung des Verfassers nicht ernst zu nehmen. Denn in seinen "Schlußbetrachtungen" schreibt er, ungeklärt sei noch, wie sich die formelle staatliche Strafe zur informellen gesellschaftlichen Sanktion, beispielsweise zur landesüblichen Verachtung des Straftäters, verhalte. Auch könne eine Versicherung nicht verhindern, daß sich die "Reichen" in Gettos absicherten und die "Armen, Unerwünschten und Problematischen" ausschlössen. Diese Reihung macht mundtot: Armut kann unverdientes Schicksal sein und verlangt unsere Solidarität. Wenn jemand unterstellt, "Reiche" müßten Arme und Problematische gleich behandeln, ist das eine moralische Zumutung, der man nur aus dem Wege gehen kann. Schließlich weist Schmidt-Semisch darauf hin, das Versicherungsprinzip funktioniere nicht bei Menschen, die so gefährlich seien, daß die Gesellschaft sich nur vor ihnen schützen könne, wenn sie sie wegschließe. Gelöst werden diese Probleme nicht ansatzweise. Ob sie das Gesamtkonzept ruinieren, wird gleichfalls nicht erörtert. Das Buch ist also ein ehrenwerter Denkanstoß, nicht mehr. Für die Rechtspraxis bedeutungslos.
Allerdings ist nicht zu erwarten, daß die Politik Schmidt-Semischs Idee überhaupt zur Kenntnis nimmt. Das staatliche Strafrecht mag nicht besonders gerecht sein und nicht gegen Straftaten schützen. Als Instrument, den politischen Gegner zu diskreditieren, ist es unentbehrlich. Man denke nur an die Rolle des Strafrechts in der CDU-Parteispenden-Affäre. Der Verfasser selbst erklärt es zum Herrschaftsinstrument. Auf das Strafrecht wird die Politik daher nicht verzichten wollen, nicht einmal die Partei der Grünen/Bündnis 90.
Aber selbst wenn die Politiker das Buch zur Kenntnis nähmen, es würde sie nicht beunruhigen, weil seine Theorie zu schlecht ist. Richtig ist, daß das Recht des Staates, zu strafen, bis heute nicht befriedigend begründet werden kann. Deshalb wollen die Abolitionisten, zu denen sich auch Schmidt-Semisch zählt, das Strafrecht überhaupt aufheben. Dann brauchte man über die richtige Straftheorie nicht mehr zu diskutieren. Aber man müßte immer noch erklären, wie eine Rechtseinrichtung, die sich theoretisch nicht begründen läßt, mehr als dreihundert Jahre lang praktiziert werden konnte und in absehbarer Zeit weiter praktiziert werden wird. Vermutlich kümmert sich das Recht einfach nicht um soziologische Theorie. Dann müßte sich die Theorie jedoch um das geltende Recht kümmern.
Hegel hat es getan: Weil die Strafe die Negation der Negation des Rechtes sei, ehre sie den Verbrecher als vernünftiges Wesen. Aber Hegels Straftheorie war noch nie herrschende Lehre, und Schmidt-Semisch orientiert sich nicht an der Wirklichkeit, sondern an einer verquasten Moral. Der Verbrecher muß von Strafe entlastet werden, weil "abweichendes Verhalten solches ist, das andere so bezeichnen". Was, um Himmels willen, sollte abweichendes Verhalten anderes sein? Ruf des Gewissens? Göttlicher Wille? Und würde das dem staatlichen Strafanspruch ein besseres Recht gewähren?
Die schlechte Theorie beginnt damit, daß Schmidt-Semisch nicht zwischen dem Standpunkt eines Beobachters und dem eines Betroffenen unterscheidet. Für die Beobachter aus Politik und Versicherungswirtschaft sind Straftaten natürlich statistisch berechenbare soziale Unfälle, wenn man von solchen Ausnahmen wie dem Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 absieht. Für die betroffenen Opfer und deren Angehörige sind sie himmelschreiendes Unrecht, schlimmer noch, abgrundtiefe Enttäuschungen. Bertas Familie würde sehr genau unterscheiden, ob Berta einem Unfall oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, und sie würde erwarten, daß das Recht Bösartigkeit anders ahndet als einen unglücklichen, nur statistisch vorhersehbaren Unfall. Im Interesse seiner faktischen Geltung sollte das Recht solche Erwartungen respektieren. Aber wenn man schon nicht zwischen Strafe und Schadenersatz unterscheiden kann, könnte man wenigstens fragen, wie es historisch zur Ausdifferenzierung des Strafrechtes gekommen ist, welche Vor- oder Nachteile damit verbunden waren, warum Schadenersatz bei Straftaten nicht zu genügen scheint, und schließlich, ob Verbrechen nicht überhaupt die genossenschaftliche Klammer von Versicherungen sprengen.
Wie schwach die Theorie des Verfassers ist, zeigt der Satz, der sein Konzept trägt: "Der Blick auf die Vergangenheit wird abgelöst von dem Blick in die Zukunft." Da Straftaten immer in der Vergangenheit liegen und nur rückschauend festgestellt werden können, kann man sie tatsächlich nicht mehr sehen, wenn man in die Zukunft schaut. Es ist auch richtig, daß die moderne Gesellschaft ihre Paradoxien lieber mit Visionen als mit Tatsachenanalysen kaschiert. Bilder der Zukunft stoßen auf weniger Widerspruch als Bilder der Vergangenheit.
Wieder wäre Hegel zu zitieren, der in der Dialektik der sinnlichen Gewißheit am aufregendsten mit Gestern und Morgen jongliert hat. Aber es ist ein offenkundiger Irrtum, anzunehmen, Versicherungen kämen ohne Blick in die Vergangenheit aus. Niemand kann aus seiner Zeit aussteigen. Man kann die Zukunft allein durch die Brille der Vergangenheit sehen. Streicht man die Vergangenheit, sieht man nichts als tiefes Dunkel. Auch Versicherungen können nur gegen Schäden versichern, die sie im Prinzip schon kennen. Für sie entscheidet nicht die Zukunft, sondern die Entindividualisierung und Konstruktion der Vergangenheit. Außerdem müssen sie immer voraussetzen, daß sie selbst überleben.
Henning Schmidt-Semisch: "Kriminalität als Risiko". Schadenmanagement zwischen Strafrecht und Versicherung. Gerling Akademie Verlag, München 2002. 285 S., geb., 27,60.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein ehrenwerter Denkanstoß: Henning Schmidt-Semisch fragt nach dem Risiko der Kriminalität / Von Gerd Roellecke
Nehmen wir klinisch reine Beispiele. Berta geht arglos über den Bürgersteig. Plötzlich fährt ein Lieferwagen sie von hinten an und drückt sie an die Wand. Der Fahrer war wegen eines unvorhersehbaren Herzinfarktes hinter dem Steuer zusammengebrochen. Berta ist unwiderruflich tot. Sie hinterläßt einen Mann und zwei kleine Kinder. Die Gesellschaft sagt: Zahlen!
Die gleiche Ausgangssituation. Aber der Lieferwagen fährt auf der Straße. Als er auf Bertas Höhe ist, fällt ein Schuß. Berta bricht zusammen und ist unwiderruflich tot. Die Gesellschaft sagt: Strafen und zahlen! Henning Schmidt-Semisch, der Verfasser dieses Buches, Kriminologe und Soziologe am Bremer Institut für Drogenforschung, will das Strafen streichen, "abolieren", und die Zahlungen erhöhen. Tod sei Tod, Witwer sei Witwer, und Verbrecher gehörten so zur Normalität einer Gesellschaft wie Verkehrsunfälle. Nur deshalb könne man sich heute schon gegen Schäden aus Straftaten versichern, zum Beispiel gegen den Diebstahl des eigenen Autos. Schmidt-Semisch schlägt daher eine Verbrechensversicherung nach dem Vorbild der Kraftfahrt-Haftpflichtversicherung vor. Eine Bestrafung von Verbrechern erübrigt sich dann. Nach seinen Vorstellungen werden die Normen des Strafrechts zu Spezialvorschriften des Rechts der unerlaubten Handlungen im Bürgerlichen Gesetzbuch. Das komme "sowohl den ,Opfern' (im Sinne von Kompensation) als auch den ,Tätern' (in Form von Entpönalisierung) zugute".
Der Vorschlag ist ernst gemeint, aber nach der eigenen Darstellung des Verfassers nicht ernst zu nehmen. Denn in seinen "Schlußbetrachtungen" schreibt er, ungeklärt sei noch, wie sich die formelle staatliche Strafe zur informellen gesellschaftlichen Sanktion, beispielsweise zur landesüblichen Verachtung des Straftäters, verhalte. Auch könne eine Versicherung nicht verhindern, daß sich die "Reichen" in Gettos absicherten und die "Armen, Unerwünschten und Problematischen" ausschlössen. Diese Reihung macht mundtot: Armut kann unverdientes Schicksal sein und verlangt unsere Solidarität. Wenn jemand unterstellt, "Reiche" müßten Arme und Problematische gleich behandeln, ist das eine moralische Zumutung, der man nur aus dem Wege gehen kann. Schließlich weist Schmidt-Semisch darauf hin, das Versicherungsprinzip funktioniere nicht bei Menschen, die so gefährlich seien, daß die Gesellschaft sich nur vor ihnen schützen könne, wenn sie sie wegschließe. Gelöst werden diese Probleme nicht ansatzweise. Ob sie das Gesamtkonzept ruinieren, wird gleichfalls nicht erörtert. Das Buch ist also ein ehrenwerter Denkanstoß, nicht mehr. Für die Rechtspraxis bedeutungslos.
Allerdings ist nicht zu erwarten, daß die Politik Schmidt-Semischs Idee überhaupt zur Kenntnis nimmt. Das staatliche Strafrecht mag nicht besonders gerecht sein und nicht gegen Straftaten schützen. Als Instrument, den politischen Gegner zu diskreditieren, ist es unentbehrlich. Man denke nur an die Rolle des Strafrechts in der CDU-Parteispenden-Affäre. Der Verfasser selbst erklärt es zum Herrschaftsinstrument. Auf das Strafrecht wird die Politik daher nicht verzichten wollen, nicht einmal die Partei der Grünen/Bündnis 90.
Aber selbst wenn die Politiker das Buch zur Kenntnis nähmen, es würde sie nicht beunruhigen, weil seine Theorie zu schlecht ist. Richtig ist, daß das Recht des Staates, zu strafen, bis heute nicht befriedigend begründet werden kann. Deshalb wollen die Abolitionisten, zu denen sich auch Schmidt-Semisch zählt, das Strafrecht überhaupt aufheben. Dann brauchte man über die richtige Straftheorie nicht mehr zu diskutieren. Aber man müßte immer noch erklären, wie eine Rechtseinrichtung, die sich theoretisch nicht begründen läßt, mehr als dreihundert Jahre lang praktiziert werden konnte und in absehbarer Zeit weiter praktiziert werden wird. Vermutlich kümmert sich das Recht einfach nicht um soziologische Theorie. Dann müßte sich die Theorie jedoch um das geltende Recht kümmern.
Hegel hat es getan: Weil die Strafe die Negation der Negation des Rechtes sei, ehre sie den Verbrecher als vernünftiges Wesen. Aber Hegels Straftheorie war noch nie herrschende Lehre, und Schmidt-Semisch orientiert sich nicht an der Wirklichkeit, sondern an einer verquasten Moral. Der Verbrecher muß von Strafe entlastet werden, weil "abweichendes Verhalten solches ist, das andere so bezeichnen". Was, um Himmels willen, sollte abweichendes Verhalten anderes sein? Ruf des Gewissens? Göttlicher Wille? Und würde das dem staatlichen Strafanspruch ein besseres Recht gewähren?
Die schlechte Theorie beginnt damit, daß Schmidt-Semisch nicht zwischen dem Standpunkt eines Beobachters und dem eines Betroffenen unterscheidet. Für die Beobachter aus Politik und Versicherungswirtschaft sind Straftaten natürlich statistisch berechenbare soziale Unfälle, wenn man von solchen Ausnahmen wie dem Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 absieht. Für die betroffenen Opfer und deren Angehörige sind sie himmelschreiendes Unrecht, schlimmer noch, abgrundtiefe Enttäuschungen. Bertas Familie würde sehr genau unterscheiden, ob Berta einem Unfall oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, und sie würde erwarten, daß das Recht Bösartigkeit anders ahndet als einen unglücklichen, nur statistisch vorhersehbaren Unfall. Im Interesse seiner faktischen Geltung sollte das Recht solche Erwartungen respektieren. Aber wenn man schon nicht zwischen Strafe und Schadenersatz unterscheiden kann, könnte man wenigstens fragen, wie es historisch zur Ausdifferenzierung des Strafrechtes gekommen ist, welche Vor- oder Nachteile damit verbunden waren, warum Schadenersatz bei Straftaten nicht zu genügen scheint, und schließlich, ob Verbrechen nicht überhaupt die genossenschaftliche Klammer von Versicherungen sprengen.
Wie schwach die Theorie des Verfassers ist, zeigt der Satz, der sein Konzept trägt: "Der Blick auf die Vergangenheit wird abgelöst von dem Blick in die Zukunft." Da Straftaten immer in der Vergangenheit liegen und nur rückschauend festgestellt werden können, kann man sie tatsächlich nicht mehr sehen, wenn man in die Zukunft schaut. Es ist auch richtig, daß die moderne Gesellschaft ihre Paradoxien lieber mit Visionen als mit Tatsachenanalysen kaschiert. Bilder der Zukunft stoßen auf weniger Widerspruch als Bilder der Vergangenheit.
Wieder wäre Hegel zu zitieren, der in der Dialektik der sinnlichen Gewißheit am aufregendsten mit Gestern und Morgen jongliert hat. Aber es ist ein offenkundiger Irrtum, anzunehmen, Versicherungen kämen ohne Blick in die Vergangenheit aus. Niemand kann aus seiner Zeit aussteigen. Man kann die Zukunft allein durch die Brille der Vergangenheit sehen. Streicht man die Vergangenheit, sieht man nichts als tiefes Dunkel. Auch Versicherungen können nur gegen Schäden versichern, die sie im Prinzip schon kennen. Für sie entscheidet nicht die Zukunft, sondern die Entindividualisierung und Konstruktion der Vergangenheit. Außerdem müssen sie immer voraussetzen, daß sie selbst überleben.
Henning Schmidt-Semisch: "Kriminalität als Risiko". Schadenmanagement zwischen Strafrecht und Versicherung. Gerling Akademie Verlag, München 2002. 285 S., geb., 27,60
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Eine "Pflichtversicherung gegen die quasi schicksalhaften Kriminalitätsschäden" schlägt Autor Henning Schmidt-Semisch vor und Rezensent Christian Rath wertet dieses Ansinnen primär positiv. Allerdings gehöre Schmidt-Sämisch zu den sogenannten Abolitionisten, die eine staatliche Bestrafung mit Ausnahme von Gewaltverbrechen grundsätzlich ablehnen. Obwohl die Alternative von Versicherung oder Strafrecht den realen Gegebenheiten nicht entspricht, sieht Rath ein Potential für die geforderte Versicherung. Daher erstaunt es ihn auch nicht, dass Schmidt-Semischs "radikale und theoriebeladene Studie" beim versicherungsnahen Gerling Akademie Verlag erschienen ist. Eine solche Versicherung beinhalte jedoch "für die Opfer eine eher demütigende Perspektive", wie Rath anmerkt. Insgesamt sehen sowohl der Autor als auch der Rezensent die Möglichkeit "einer Verschlechterung der Situation - sowohl für die Opfer wie auch für die Personen, die als potentielle Straftäter angesehen werden", sollte die vorgeschlagene Versicherung in die Tat umgesetzt werden.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH