Ein Blick in die »Kinderstube« medizinischer Erkenntnis zeigt die Kulturgebundenheit »natürlicher« Wahrheiten über die Entstehung und Manifestation von Wahnsinn und Vernunft, Körperlichkeit und Geschlecht.
Maren Lorenz untersucht die Anfänge von Gerichtsmedizin und Psychiatrie. Ins gerichtsmedizinische Visier gerieten Menschen der frühen Neuzeit immer dann, wenn sie körperbezogene Gesellschaftsnormen verletzten. Dazu gehörten impotente Ehemänner, unfruchtbare Ehefrauen, missbrauchte Kinder, unehelich Schwangere, Sodomiten, gescheiterte Selbstmörder, hysterische Brandstifterinnen, wahnsinnige Mörder, »Zauberische« und Besessene. Sie umreißt Fragen wie die »Beurteilung von Zeugungsfähigkeit«, die »Unzucht wider die Natur« oder unter welchen Bedingungen einer Vergewaltigungsklage stattgegeben wurde.
So entfaltet sich ein buntes, oft bizarres Panorama des Alltagslebens im 17. und 18. Jahrhundert.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Maren Lorenz untersucht die Anfänge von Gerichtsmedizin und Psychiatrie. Ins gerichtsmedizinische Visier gerieten Menschen der frühen Neuzeit immer dann, wenn sie körperbezogene Gesellschaftsnormen verletzten. Dazu gehörten impotente Ehemänner, unfruchtbare Ehefrauen, missbrauchte Kinder, unehelich Schwangere, Sodomiten, gescheiterte Selbstmörder, hysterische Brandstifterinnen, wahnsinnige Mörder, »Zauberische« und Besessene. Sie umreißt Fragen wie die »Beurteilung von Zeugungsfähigkeit«, die »Unzucht wider die Natur« oder unter welchen Bedingungen einer Vergewaltigungsklage stattgegeben wurde.
So entfaltet sich ein buntes, oft bizarres Panorama des Alltagslebens im 17. und 18. Jahrhundert.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.1999Die Kladden des Körpers des Kutschers
Zwang zum Selbstzwang: Maren Lorenz schildert physiognomisch-physiologische Vorstellungen der Frühen Neuzeit
Was für die Polizei zunächst wie ein durch Einbrecher verübter Raubmord aussah, entpuppte sich bald als Schlussvorhang eines zähen Ehedramas. Der Witwer der Ermordeten, ein Frankfurter Töpfer, gestand, seine Frau nachts angetrunken mit einem Hammer im Schlaf erschlagen zu haben. Er hatte die 1794 verübte Tat von langer Hand geplant und wollte sie als Raubüberfall vertuschen. Die mit diesem Fall beschäftigte Justiz gab sich allerdings nicht mit der Klärung des äußerlichen Tatgeschehens zufrieden, sondern ließ ein medizinisches Gutachten erstellen. Das Jahrhundert der Aufklärung neigte sich dem Ende zu, und es hieß, Licht in die verborgenen Antriebe der Menschen zu bringen.
Stolze eintausendachthundert solcher gedruckten medizinischen Gutachten aus dem achtzehnten Jahrhundert bilden die Quellengrundlage des Buches von Maren Lorenz. Ihre Verfasser, die Amtsärzte, wurden in behördlichem Auftrag tätig, wenn soziale Konflikte die private Sphäre überschritten. Bei Scheidungen ging es oft um delikate Fragen der Ehetauglichkeit, bei Kriminalfällen um Überführung des Verdächtigen, Rekonstruktion des Tathergangs und Zurechnungsfähigkeit des Täters. Eine potentiell interessante Mischung aus historischer Kriminalforschung und Wissenschaftsgeschichte der Medizin bildet den Rahmen der Arbeit, die aber leider kaum über das Anekdotische hinauskommt.
Die Gutachter, die sich mit dem Leben des Töpfers beschäftigten, brachten Abgründiges hervor. Ihre Befragung ergab das Bild eines schwer kranken Menschen, der zum Zeitpunkt der Tat als unzurechnungsfähig eingestuft werden musste. Sie befanden, er habe unter der "Töpfer-Kolik" gelitten. In ihrer Diagnostik verbanden sich ganz zeittypisch physische, psychische und psychosomatische Argumentationen. Der "Melancholicus" habe zu lange "steif" an seiner Töpferscheibe herumgesessen, sei dort gleichzeitig Nässe und Feuer ausgesetzt gewesen. Hinzu seien noch die Ausdünstungen beim Glasieren gekommen wie auch das gefährliche Erdetreten mit bloßen Füßen. Aus ihm, so der Begutachtete selbst zu seinen Ärzten, sei ein von "geilen Trieben" Gesteuerter geworden.
Die Fallerzählung von Maren Lorenz bricht hier ab. Dass der Töpfer trotz des Gutachtens zum Tode verurteilt und gehenkt wurde, erfährt man nur aus einer Fußnote; warum das geschah, sagt Maren Lorenz nicht. Sie interessiert sich weniger für den "Elitendiskurs" der damaligen Fachleute als für das Selbstverständnis der Menschen in der Frühen Neuzeit. Wie empfanden, wie beschrieben sie ihre Seele und ihren Körper, und wie spiegelte sich dies in den Quellen? Wenn ein Edelmann seinen Stallknecht beschuldigte, er notzüchtige die Hengste so, dass das ganze Haus davon erzittere, dann interessiert heute den Historiker nicht der Gaul, sondern das sprachliche Konstrukt der Tat und die Reaktion der angerufenen Institutionen. Die historische Psychologie sucht die Bedeutungen hinter den Bezeichnungen.
Die zwei Welten, die sich dabei begegnen, sind einerseits die Körpervorstellungen der einfachen Bevölkerung und andererseits jene der professionellen Gutachter. An der Sprache der professionell Zuständigen, vor allem der Ärzte, mussten sich über kurz oder lang auch die Untertanen orientieren, wenn sie Konflikte mit der Obrigkeit vermeiden wollten. Zusammen mit obrigkeitlichen Vorstellungen formulierte die frühneuzeitliche Wissenschaft Kategorien von Norm und Abweichung, Recht und Unrecht. Die Ärzte publizierten ihre Eindrücke von Kranken und Geistesverwirrten und betrieben so die Herausbildung von überindividuellen Standards bei der Gutachtung. Das meint der Begriff der "Normierung", den die Arbeit schon in ihrem Titel ins Zentrum rückt. Theoretisch befindet sich die Verfasserin damit im breiten Fahrwasser historischer Großtheorien über "Sozialdisziplinierung", "Disziplinargesellschaft" und "Zivilisierung".
Dass man am Ende leider kaum Neues auf diesem Gebiet erfährt, liegt an den teils klischeehaften Vorstellungen und der Unkenntnis der Verfasserin über die Frühe Neuzeit, teils an ihren analytischen Defiziten. Da liest man, dass seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts die Landesherren begonnen hätten, die Pflichten des medizinischen Personals in Medizinal-, Apotheker- und Hebammenordnungen schriftlich zu fixieren (in Wahrheit beginnt dieser Prozess spätestens am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts). An anderer Stelle heißt es, Sittlichkeit, Ernährungsverhalten, Körperhaltung, Bewegung und emotionale Selbstbeherrschung hätten "als Selbstzwang seit der Reformation allein in der Hand des protestantischen Bürgers" gelegen, während zuvor "katholische Fremdrepression direkten normativen Druck ausgeübt" habe. Hier hätte der Blick in nur eine von wahrscheinlich mehreren Millionen frühneuzeitlicher Polizei- und Kirchenordnungen genügt, um zu zeigen, dass auch in protestantischen Territorien durchaus obrigkeitlicher Fremdzwang ausgeübt wurde, und zwar nicht zu knapp. An anderer Stelle wird der Begriff der "Ordnung" als "neue bürgerliche Tugend" denunziert, als habe es Ordnungsideale in früheren Epochen nicht gegeben. Vom Umgang mit Kategorien wie "Aufklärung" sei ganz zu schweigen.
Wegen dieser systematischen Schwächen der Darstellung wird die Andersartigkeit der frühneuzeitlichen Körpererfahrung nur fallweise deutlich. So waren bei schwierig zu diagnostizierenden Phänomenen wie einer Schwangerschaft im Frühstadium alle Beteiligten (Frau, Arzt, Familie) eingeladen, ihre Theorien und ihre Zeichenlesekunst in Ansatz zu bringen. Schwoll der Leib der Frau von einer Befruchtung oder bloß "vom vielen Genuss der Erdbirn", wie mancher vermutete? Weil Sexualität viel mit Rollenerwartungen zu tun hat und diese wiederum mit sozialem Status, liest man über alle Gutachten hinweg durchgängige Differenzierungen. Wissen über das andere Geschlecht, das Männer offen legen durften, war für begutachtete Frauen nachteilig, da es ihre Geschlechtsehre in Zweifel ziehen konnte. Verhalten, das die Ärzte bei Bürgerfrauen tolerierten, fanden sie bei Unterschichtmitgliedern inakzeptabel. Doch was hätte man anderes erwartet von einer Gesellschaft, für die soziale Ungleichheit konstitutiv war? Ob man diese Phänomene zutreffend mit Begriffen wie "Klassenjustiz" und "Klassenpsychologie" beschreibt, wie die Autorin meint, ist zweifelhaft.
Betrachtet man die Gutachterpraxis aus chronologischer Perspektive, so wird der Versuch des frühmodernen Staates deutlich, abweichendes Verhalten und Rechtsgutgefährdungen justitiell und medizinisch zu stigmatisieren. Unerwünschte Äußerungen, wie weibliches Begehren, das nicht auf Fortpflanzung gerichtet war, wurden pathologisiert. Die Gutachterpraxis, die sich seitens der Gerichtsmediziner dabei herausbildete, passt in das vertraute Bild der Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen und staatlicher Institutionen zwischen 1500 und 1800. Der Staat zog vormalige Kompetenzen anderer Institutionen wie der Kirchen an sich, die bis dato gleichfalls Definitionsmacht gehabt hatten. Nicht überall stand von Anfang an das begriffliche Instrumentarium zur Verfügung, um bestimmte als Krankheit begriffene Symptome zu klassifizieren. Ungereimtheiten in der Argumentation der Ärzte kommen hinzu. Es gehört zu den ständigen Ärgernissen des Buches, dass die Autorin in ganz ahistorischer Weise diese "Fehler" der Mediziner aufrechnet und sogar über ihren "akademischen Aberglauben" lästert, statt zu versuchen, ihre Diagnosen als historische Konstrukte zu verstehen.
Diese grundsätzliche Schwäche resultiert auch aus einem kuriosen Umgang mit der wissenschaftlichen Sekundärliteratur. Am Ende der einzelnen Abschnitte gibt die Autorin vor, irrige Gegenpositionen innerhalb der frühneuzeitlichen zuhauf widerlegt zu haben. Sie widerspricht der angeblichen These, die weibliche Einstellung gegenüber Schwangerschaft und Neugeborenen ließe sich als "gottgegebenes oder endogenes und damit kulturell konstantes Naturverhältnis kategorisieren", auch die Vorstellung von der "Existenz des linearen Fortschritts" könne man dank ihrer ad acta legen, ebenso die Mär von der "glücklichen Großfamilie". Doch wer solche Positionen heute vertreten soll, erfahren wir leider nicht. Keine dieser Wendungen ist mit einer Fundstelle belegt, und es dürfte in der Tat schwer sein, Verfasser solcher konservativ-männlich-chauvinistisch konturierten Plattitüden zu finden. So kritisiert die Autorin von Anfang an heftig Forschungsansichten, die es nicht gibt, und bestreitet Gefechte gegen die aus eigenen Vorurteilen gekleisterten Pappkameraden. Wissenschaftliche Arbeiten haben oft zu viele Fußnoten, diese hat zu wenige.
MILOS VEC
Maren Lorenz: "Kriminelle Körper - Gestörte Gemüter". Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung. Hamburger Edition, Hamburg 1999. 495 S., 23 Abb., geb., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwang zum Selbstzwang: Maren Lorenz schildert physiognomisch-physiologische Vorstellungen der Frühen Neuzeit
Was für die Polizei zunächst wie ein durch Einbrecher verübter Raubmord aussah, entpuppte sich bald als Schlussvorhang eines zähen Ehedramas. Der Witwer der Ermordeten, ein Frankfurter Töpfer, gestand, seine Frau nachts angetrunken mit einem Hammer im Schlaf erschlagen zu haben. Er hatte die 1794 verübte Tat von langer Hand geplant und wollte sie als Raubüberfall vertuschen. Die mit diesem Fall beschäftigte Justiz gab sich allerdings nicht mit der Klärung des äußerlichen Tatgeschehens zufrieden, sondern ließ ein medizinisches Gutachten erstellen. Das Jahrhundert der Aufklärung neigte sich dem Ende zu, und es hieß, Licht in die verborgenen Antriebe der Menschen zu bringen.
Stolze eintausendachthundert solcher gedruckten medizinischen Gutachten aus dem achtzehnten Jahrhundert bilden die Quellengrundlage des Buches von Maren Lorenz. Ihre Verfasser, die Amtsärzte, wurden in behördlichem Auftrag tätig, wenn soziale Konflikte die private Sphäre überschritten. Bei Scheidungen ging es oft um delikate Fragen der Ehetauglichkeit, bei Kriminalfällen um Überführung des Verdächtigen, Rekonstruktion des Tathergangs und Zurechnungsfähigkeit des Täters. Eine potentiell interessante Mischung aus historischer Kriminalforschung und Wissenschaftsgeschichte der Medizin bildet den Rahmen der Arbeit, die aber leider kaum über das Anekdotische hinauskommt.
Die Gutachter, die sich mit dem Leben des Töpfers beschäftigten, brachten Abgründiges hervor. Ihre Befragung ergab das Bild eines schwer kranken Menschen, der zum Zeitpunkt der Tat als unzurechnungsfähig eingestuft werden musste. Sie befanden, er habe unter der "Töpfer-Kolik" gelitten. In ihrer Diagnostik verbanden sich ganz zeittypisch physische, psychische und psychosomatische Argumentationen. Der "Melancholicus" habe zu lange "steif" an seiner Töpferscheibe herumgesessen, sei dort gleichzeitig Nässe und Feuer ausgesetzt gewesen. Hinzu seien noch die Ausdünstungen beim Glasieren gekommen wie auch das gefährliche Erdetreten mit bloßen Füßen. Aus ihm, so der Begutachtete selbst zu seinen Ärzten, sei ein von "geilen Trieben" Gesteuerter geworden.
Die Fallerzählung von Maren Lorenz bricht hier ab. Dass der Töpfer trotz des Gutachtens zum Tode verurteilt und gehenkt wurde, erfährt man nur aus einer Fußnote; warum das geschah, sagt Maren Lorenz nicht. Sie interessiert sich weniger für den "Elitendiskurs" der damaligen Fachleute als für das Selbstverständnis der Menschen in der Frühen Neuzeit. Wie empfanden, wie beschrieben sie ihre Seele und ihren Körper, und wie spiegelte sich dies in den Quellen? Wenn ein Edelmann seinen Stallknecht beschuldigte, er notzüchtige die Hengste so, dass das ganze Haus davon erzittere, dann interessiert heute den Historiker nicht der Gaul, sondern das sprachliche Konstrukt der Tat und die Reaktion der angerufenen Institutionen. Die historische Psychologie sucht die Bedeutungen hinter den Bezeichnungen.
Die zwei Welten, die sich dabei begegnen, sind einerseits die Körpervorstellungen der einfachen Bevölkerung und andererseits jene der professionellen Gutachter. An der Sprache der professionell Zuständigen, vor allem der Ärzte, mussten sich über kurz oder lang auch die Untertanen orientieren, wenn sie Konflikte mit der Obrigkeit vermeiden wollten. Zusammen mit obrigkeitlichen Vorstellungen formulierte die frühneuzeitliche Wissenschaft Kategorien von Norm und Abweichung, Recht und Unrecht. Die Ärzte publizierten ihre Eindrücke von Kranken und Geistesverwirrten und betrieben so die Herausbildung von überindividuellen Standards bei der Gutachtung. Das meint der Begriff der "Normierung", den die Arbeit schon in ihrem Titel ins Zentrum rückt. Theoretisch befindet sich die Verfasserin damit im breiten Fahrwasser historischer Großtheorien über "Sozialdisziplinierung", "Disziplinargesellschaft" und "Zivilisierung".
Dass man am Ende leider kaum Neues auf diesem Gebiet erfährt, liegt an den teils klischeehaften Vorstellungen und der Unkenntnis der Verfasserin über die Frühe Neuzeit, teils an ihren analytischen Defiziten. Da liest man, dass seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts die Landesherren begonnen hätten, die Pflichten des medizinischen Personals in Medizinal-, Apotheker- und Hebammenordnungen schriftlich zu fixieren (in Wahrheit beginnt dieser Prozess spätestens am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts). An anderer Stelle heißt es, Sittlichkeit, Ernährungsverhalten, Körperhaltung, Bewegung und emotionale Selbstbeherrschung hätten "als Selbstzwang seit der Reformation allein in der Hand des protestantischen Bürgers" gelegen, während zuvor "katholische Fremdrepression direkten normativen Druck ausgeübt" habe. Hier hätte der Blick in nur eine von wahrscheinlich mehreren Millionen frühneuzeitlicher Polizei- und Kirchenordnungen genügt, um zu zeigen, dass auch in protestantischen Territorien durchaus obrigkeitlicher Fremdzwang ausgeübt wurde, und zwar nicht zu knapp. An anderer Stelle wird der Begriff der "Ordnung" als "neue bürgerliche Tugend" denunziert, als habe es Ordnungsideale in früheren Epochen nicht gegeben. Vom Umgang mit Kategorien wie "Aufklärung" sei ganz zu schweigen.
Wegen dieser systematischen Schwächen der Darstellung wird die Andersartigkeit der frühneuzeitlichen Körpererfahrung nur fallweise deutlich. So waren bei schwierig zu diagnostizierenden Phänomenen wie einer Schwangerschaft im Frühstadium alle Beteiligten (Frau, Arzt, Familie) eingeladen, ihre Theorien und ihre Zeichenlesekunst in Ansatz zu bringen. Schwoll der Leib der Frau von einer Befruchtung oder bloß "vom vielen Genuss der Erdbirn", wie mancher vermutete? Weil Sexualität viel mit Rollenerwartungen zu tun hat und diese wiederum mit sozialem Status, liest man über alle Gutachten hinweg durchgängige Differenzierungen. Wissen über das andere Geschlecht, das Männer offen legen durften, war für begutachtete Frauen nachteilig, da es ihre Geschlechtsehre in Zweifel ziehen konnte. Verhalten, das die Ärzte bei Bürgerfrauen tolerierten, fanden sie bei Unterschichtmitgliedern inakzeptabel. Doch was hätte man anderes erwartet von einer Gesellschaft, für die soziale Ungleichheit konstitutiv war? Ob man diese Phänomene zutreffend mit Begriffen wie "Klassenjustiz" und "Klassenpsychologie" beschreibt, wie die Autorin meint, ist zweifelhaft.
Betrachtet man die Gutachterpraxis aus chronologischer Perspektive, so wird der Versuch des frühmodernen Staates deutlich, abweichendes Verhalten und Rechtsgutgefährdungen justitiell und medizinisch zu stigmatisieren. Unerwünschte Äußerungen, wie weibliches Begehren, das nicht auf Fortpflanzung gerichtet war, wurden pathologisiert. Die Gutachterpraxis, die sich seitens der Gerichtsmediziner dabei herausbildete, passt in das vertraute Bild der Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen und staatlicher Institutionen zwischen 1500 und 1800. Der Staat zog vormalige Kompetenzen anderer Institutionen wie der Kirchen an sich, die bis dato gleichfalls Definitionsmacht gehabt hatten. Nicht überall stand von Anfang an das begriffliche Instrumentarium zur Verfügung, um bestimmte als Krankheit begriffene Symptome zu klassifizieren. Ungereimtheiten in der Argumentation der Ärzte kommen hinzu. Es gehört zu den ständigen Ärgernissen des Buches, dass die Autorin in ganz ahistorischer Weise diese "Fehler" der Mediziner aufrechnet und sogar über ihren "akademischen Aberglauben" lästert, statt zu versuchen, ihre Diagnosen als historische Konstrukte zu verstehen.
Diese grundsätzliche Schwäche resultiert auch aus einem kuriosen Umgang mit der wissenschaftlichen Sekundärliteratur. Am Ende der einzelnen Abschnitte gibt die Autorin vor, irrige Gegenpositionen innerhalb der frühneuzeitlichen zuhauf widerlegt zu haben. Sie widerspricht der angeblichen These, die weibliche Einstellung gegenüber Schwangerschaft und Neugeborenen ließe sich als "gottgegebenes oder endogenes und damit kulturell konstantes Naturverhältnis kategorisieren", auch die Vorstellung von der "Existenz des linearen Fortschritts" könne man dank ihrer ad acta legen, ebenso die Mär von der "glücklichen Großfamilie". Doch wer solche Positionen heute vertreten soll, erfahren wir leider nicht. Keine dieser Wendungen ist mit einer Fundstelle belegt, und es dürfte in der Tat schwer sein, Verfasser solcher konservativ-männlich-chauvinistisch konturierten Plattitüden zu finden. So kritisiert die Autorin von Anfang an heftig Forschungsansichten, die es nicht gibt, und bestreitet Gefechte gegen die aus eigenen Vorurteilen gekleisterten Pappkameraden. Wissenschaftliche Arbeiten haben oft zu viele Fußnoten, diese hat zu wenige.
MILOS VEC
Maren Lorenz: "Kriminelle Körper - Gestörte Gemüter". Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung. Hamburger Edition, Hamburg 1999. 495 S., 23 Abb., geb., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main