"Sahel" bedeutet auf Arabisch "Ufer" oder "Küste" - gemeint ist das Südufer der Sahara, des großen Sand- und Steinmeeres. Dieses Sahara-"Ufer" erstreckt sich vom Atlantik im Westen bis zum Roten Meer im Osten. Anteil am Sahel haben die Staaten Senegal, Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger, Nigeria, Tschad, Sudan und Eritrea.Die AutorInnen analysieren die Situation in den neun Sahel-Staaten. Zudem werden das regionale Umfeld (Libyen, Tunesien) betrachtet sowie die wichtigsten internen Faktoren wie die Rolle des Islam, die Stellung der Frau, die unterschiedlichen Ethnien sowie Probleme der Migration und der Umwelt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Joel Glasmann weiß, wie wichtig die Sahelzone für Europa ist und wie gering noch immer das Wissen um die Länder der Region. Mit Interesse nimmt er den federführend von Günther Lanier herausgegebenen Sammelband zur Hand. Einige Kapitel findet er durchaus aufschlussreich, etwa Charlotte Wiedemanns Beitrag zur Weidewirtschaft oder Ishraga Mustafa Hamids und Franz Schmidjells Artikel zur Migration. Weniger überzeugen können ihn allerdings die Texte, in denen es unheilvoll raunt, in denen lange Bögen der Unterdrückung von der Kolonialisierung bis zur "Coronisierung" gezogen werden oder Hoffungen auf die "Erfindung einer neuen Welt" gesetzt werden. Da wird Glasmann es zu schematisch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2022Nicht nur Dschihadisten und Flüchtlinge
Und nicht nur Krise: Ein Sammelband über die komplexe Sahel-Region
Am 31. Januar erfuhr Emmanuel Macron, dass die Regierung in Mali den französischen Botschafter gerade entlassen hatte. Neun Jahre nach Anfang der französischen Militärintervention musste nun der französische Präsident den Rückzug seiner Streitkräfte aus diesem Land verkünden. Die Bundesregierung, die auch Truppen in Mali hatte, entschied sich trotzdem fürs Bleiben. Denn die Sahelzone gilt heute als eine der wichtigsten Regionen für die Sicherheit Europas. Auch wenn die französischen Truppen Mali verlassen, bleiben europäische Kräfte in der Region. Selbst die Franzosen gehen nicht weit weg, Burkina Faso und Niger bekommen Verstärkung.
Seit dem Fall von Libyens Autokrat Muammar al-Gaddafi 2011 gilt der Sahel als potentielle Gefahr für die Sicherheit Europas. Allerdings sind sich die europäischen Länder nicht darüber einig, um welche Gefahr es sich genau handelt. Für Paris steht Terrorismus im Vordergrund. Für Madrid oder Rom geht es hauptsächlich um Migration. Für Estland oder die Tschechische Republik, die auch Truppen schicken, geht es vor allem darum, sich gegenüber Frankreich und Deutschland solidarisch zu zeigen, um im Ernstfall gegen Russland ihrerseits mit Unterstützung rechnen zu können. Die 2021 verabschiedete "Integrierte Strategie der Europäischen Union für die Sahelzone" wirkt wie ein Sammelsurium unterschiedlicher Ängste. Die EU sieht den Sahel zunehmend durch das Prisma Sicherheit und vor dem Hintergrund der Konkurrenz mit Russland, China und der Türkei, die in der Region aktiver werden. Der Einsatz der Wagner-Söldnertruppe in Mali und Burkina Faso hat diese Ängste geschürt.
Dabei wird der Sahel oft missverstanden. Die Machtübernahme der Taliban in Kabul 2021, nach zwanzig Jahren internationaler Intervention, war auch für die EU im Sahel ein Warnzeichen. In Öffentlichkeit und Politik wird gerne über "Sahelistan" oder "Afrikanistan" geredet. Das Problem dabei ist, dass die Besonderheit der Region völlig aus den Augen gerät. Der Konflikt in der Sahelzone ist komplexer. Während sich in Afghanistan die Taliban ideologisch, militärisch und politisch weitgehend durchsetzen konnten, gibt es im Sahel zahlreiche aufständische Gruppen, die nicht miteinander agieren. Zudem war die internationale Mission in Afghanistan die Folge einer ausländischen Invasion mit dem Ziel eines Regimewechsels. In Mali fand die Intervention auf Bitte und Einladung der malischen Regierung statt. Vor allem aber: Die Geschichte, Politik und Geographie der Sahelzone sind einzigartig und von einer lange Geschichte geprägt.
In diesen Kontext will der Sammelband "Krisenregion Sahel" einführen. Der Band bietet einen doppelten Zugang zu der Materie, zunächst durch eine Reihe von Länderkapiteln - zu Senegal, Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger, Nigeria, Tschad, Sudan, Eritrea -, dann durch einige thematische Kapitel (zum Islam, zu Pastoralismus, Terrorismus, Migration, Wirtschaft, Klimawandel, Neokolonialismus, Entwicklungszusammenarbeit, französische Militärinterventionen, Frauen). Dreizehn Autorinnen und Autoren, meist aus der Welt der Entwicklungshilfe und dem Journalismus, haben sich hierfür zusammengetan, wobei die Hälfte der Beiträge aus der Feder eines Autors ist, des Wiener Ökonomen Günther Lanier, der auch durch sein Vorwort und seine Einleitung den Band stark prägt.
Einige Kapitel sind sehr überzeugend. Charlotte Wiedemann kann auf nur wenigen Seiten zeigen, dass Weidewirtschaft ein komplexes Zusammenspiel von sozialen, ökonomischen und kulturellen Praktiken abdeckt. Ishraga Mustafa Hamid und Franz Schmidjell schaffen es, viele Falschannahmen über afrikanische Migration zu widerlegen. Migration aus afrikanischen Ländern ist, entgegen einer verbreiteten Annahme, nicht vornehmlich nach Europa gerichtet. Sie findet vielmehr vorwiegend regional statt. Tobias Orischnig kann in seinem Kapitel über Umwelt und Klima sehr gut zeigen, dass just die Sahelländer, die kaum zur Klimaerwärmung beigetragen haben, sehr stark unter deren Folgen leiden. Trockenheit, Verwüstung und auch Erosion gehören schon jetzt zu den spürbaren Effekten. Gekonnt weist der Autor darauf hin, dass das Argument, wonach mehr Bevölkerung mehr Verbrauch und darum auch mehr Umweltschäden bringe, irreführend ist. Im Gegenteil: Bevölkerungszunahme kann auch eine Chance sein, denn sie führt zu einer effizienteren Bewirtschaftung von Böden und Wald.
Trotzdem überzeugt der Sammelband nicht. Denn das Pochen auf "Krise" führt an mehreren Stellen zu klischeehaften Aussagen. Die Vorstellung, dass Staaten in der Sahelzone "Gebilde kolonialer Provenienz und relativ geringer historischer Tiefe sind", ist kaum haltbar. Die Forschung hat schon längst auf die Historizität afrikanischer Staatlichkeit hingewiesen. Um dem Schlagwort der "Krisenregion" gerecht zu werden, wurden selbst einige gute Nachrichten ausgeblendet. Denn gute Nachrichten gibt es: Etwa, dass die Covid-Pandemie sich als weniger tödlich erwies als erwartet oder dass Senegal vom amerikanischen Präsidenten Joe Biden als "demokratischer Vorreiter" in Afrika behandelt wird. Lanier stellt zu Recht fest, dass Mauretanien seit mehr als zehn Jahren keinen Terroranschlag mehr erlebt hat. Es ist, schlussfolgert er dann aber, nicht nur erfreulich, sondern, "verdächtig".
Es ist ein zentrales Anliegen Laniers, auf die Kontinuitäten der Krisen hinzuweisen. Doch diese werden eher vermutet als gezeigt. Die These eines langen Bogens von der "Kolonisierung Ende des 19. Jh." über die Unabhängigkeiten hinweg und bis zur "Coronisierung" Anfang des 21. Jahrhunderts kann nicht überzeugen. Für Lanier brauchte der Sahel einen Neuanfang. Die Region könne profitieren "von der Idee eines generischen Bruchs, von der Erfindung einer neuen Welt, geboren aus einer radikalen Fantasie", argumentiert der Herausgeber in seiner Einleitung. Nach der Lektüre dieses Buches möchte man eher für weniger radikale Phantasie plädieren und für mehr Normalität und Bodenständigkeit, auch im Umgang mit Wissen über diese Region. JOEL GLASMANN
Fritz Edlinger/ Günther Lanier (Hrsg.): Krisenregion Sahel. Hintergründe, Analysen, Berichte.
Promedia Verlag, Wien 2022. 256 S., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und nicht nur Krise: Ein Sammelband über die komplexe Sahel-Region
Am 31. Januar erfuhr Emmanuel Macron, dass die Regierung in Mali den französischen Botschafter gerade entlassen hatte. Neun Jahre nach Anfang der französischen Militärintervention musste nun der französische Präsident den Rückzug seiner Streitkräfte aus diesem Land verkünden. Die Bundesregierung, die auch Truppen in Mali hatte, entschied sich trotzdem fürs Bleiben. Denn die Sahelzone gilt heute als eine der wichtigsten Regionen für die Sicherheit Europas. Auch wenn die französischen Truppen Mali verlassen, bleiben europäische Kräfte in der Region. Selbst die Franzosen gehen nicht weit weg, Burkina Faso und Niger bekommen Verstärkung.
Seit dem Fall von Libyens Autokrat Muammar al-Gaddafi 2011 gilt der Sahel als potentielle Gefahr für die Sicherheit Europas. Allerdings sind sich die europäischen Länder nicht darüber einig, um welche Gefahr es sich genau handelt. Für Paris steht Terrorismus im Vordergrund. Für Madrid oder Rom geht es hauptsächlich um Migration. Für Estland oder die Tschechische Republik, die auch Truppen schicken, geht es vor allem darum, sich gegenüber Frankreich und Deutschland solidarisch zu zeigen, um im Ernstfall gegen Russland ihrerseits mit Unterstützung rechnen zu können. Die 2021 verabschiedete "Integrierte Strategie der Europäischen Union für die Sahelzone" wirkt wie ein Sammelsurium unterschiedlicher Ängste. Die EU sieht den Sahel zunehmend durch das Prisma Sicherheit und vor dem Hintergrund der Konkurrenz mit Russland, China und der Türkei, die in der Region aktiver werden. Der Einsatz der Wagner-Söldnertruppe in Mali und Burkina Faso hat diese Ängste geschürt.
Dabei wird der Sahel oft missverstanden. Die Machtübernahme der Taliban in Kabul 2021, nach zwanzig Jahren internationaler Intervention, war auch für die EU im Sahel ein Warnzeichen. In Öffentlichkeit und Politik wird gerne über "Sahelistan" oder "Afrikanistan" geredet. Das Problem dabei ist, dass die Besonderheit der Region völlig aus den Augen gerät. Der Konflikt in der Sahelzone ist komplexer. Während sich in Afghanistan die Taliban ideologisch, militärisch und politisch weitgehend durchsetzen konnten, gibt es im Sahel zahlreiche aufständische Gruppen, die nicht miteinander agieren. Zudem war die internationale Mission in Afghanistan die Folge einer ausländischen Invasion mit dem Ziel eines Regimewechsels. In Mali fand die Intervention auf Bitte und Einladung der malischen Regierung statt. Vor allem aber: Die Geschichte, Politik und Geographie der Sahelzone sind einzigartig und von einer lange Geschichte geprägt.
In diesen Kontext will der Sammelband "Krisenregion Sahel" einführen. Der Band bietet einen doppelten Zugang zu der Materie, zunächst durch eine Reihe von Länderkapiteln - zu Senegal, Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger, Nigeria, Tschad, Sudan, Eritrea -, dann durch einige thematische Kapitel (zum Islam, zu Pastoralismus, Terrorismus, Migration, Wirtschaft, Klimawandel, Neokolonialismus, Entwicklungszusammenarbeit, französische Militärinterventionen, Frauen). Dreizehn Autorinnen und Autoren, meist aus der Welt der Entwicklungshilfe und dem Journalismus, haben sich hierfür zusammengetan, wobei die Hälfte der Beiträge aus der Feder eines Autors ist, des Wiener Ökonomen Günther Lanier, der auch durch sein Vorwort und seine Einleitung den Band stark prägt.
Einige Kapitel sind sehr überzeugend. Charlotte Wiedemann kann auf nur wenigen Seiten zeigen, dass Weidewirtschaft ein komplexes Zusammenspiel von sozialen, ökonomischen und kulturellen Praktiken abdeckt. Ishraga Mustafa Hamid und Franz Schmidjell schaffen es, viele Falschannahmen über afrikanische Migration zu widerlegen. Migration aus afrikanischen Ländern ist, entgegen einer verbreiteten Annahme, nicht vornehmlich nach Europa gerichtet. Sie findet vielmehr vorwiegend regional statt. Tobias Orischnig kann in seinem Kapitel über Umwelt und Klima sehr gut zeigen, dass just die Sahelländer, die kaum zur Klimaerwärmung beigetragen haben, sehr stark unter deren Folgen leiden. Trockenheit, Verwüstung und auch Erosion gehören schon jetzt zu den spürbaren Effekten. Gekonnt weist der Autor darauf hin, dass das Argument, wonach mehr Bevölkerung mehr Verbrauch und darum auch mehr Umweltschäden bringe, irreführend ist. Im Gegenteil: Bevölkerungszunahme kann auch eine Chance sein, denn sie führt zu einer effizienteren Bewirtschaftung von Böden und Wald.
Trotzdem überzeugt der Sammelband nicht. Denn das Pochen auf "Krise" führt an mehreren Stellen zu klischeehaften Aussagen. Die Vorstellung, dass Staaten in der Sahelzone "Gebilde kolonialer Provenienz und relativ geringer historischer Tiefe sind", ist kaum haltbar. Die Forschung hat schon längst auf die Historizität afrikanischer Staatlichkeit hingewiesen. Um dem Schlagwort der "Krisenregion" gerecht zu werden, wurden selbst einige gute Nachrichten ausgeblendet. Denn gute Nachrichten gibt es: Etwa, dass die Covid-Pandemie sich als weniger tödlich erwies als erwartet oder dass Senegal vom amerikanischen Präsidenten Joe Biden als "demokratischer Vorreiter" in Afrika behandelt wird. Lanier stellt zu Recht fest, dass Mauretanien seit mehr als zehn Jahren keinen Terroranschlag mehr erlebt hat. Es ist, schlussfolgert er dann aber, nicht nur erfreulich, sondern, "verdächtig".
Es ist ein zentrales Anliegen Laniers, auf die Kontinuitäten der Krisen hinzuweisen. Doch diese werden eher vermutet als gezeigt. Die These eines langen Bogens von der "Kolonisierung Ende des 19. Jh." über die Unabhängigkeiten hinweg und bis zur "Coronisierung" Anfang des 21. Jahrhunderts kann nicht überzeugen. Für Lanier brauchte der Sahel einen Neuanfang. Die Region könne profitieren "von der Idee eines generischen Bruchs, von der Erfindung einer neuen Welt, geboren aus einer radikalen Fantasie", argumentiert der Herausgeber in seiner Einleitung. Nach der Lektüre dieses Buches möchte man eher für weniger radikale Phantasie plädieren und für mehr Normalität und Bodenständigkeit, auch im Umgang mit Wissen über diese Region. JOEL GLASMANN
Fritz Edlinger/ Günther Lanier (Hrsg.): Krisenregion Sahel. Hintergründe, Analysen, Berichte.
Promedia Verlag, Wien 2022. 256 S., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main