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Krisen und Krisengerede gehen Hand in Hand und bedingen einander: Ohne Krisendiagnostiker, Krisenmanager und Krisenszenarien kein Krisenbewusstsein. Der Sammelband analysiert die Wechselwirkung von Krisendiskursen und Krisenwahrnehmung und leistet so die kritische Reflexion eines (allzu) geläufigen Erklärungsmusters. 'Wir leben provisorisch, die Krise nimmt keine Ende'. Die Diagnose, die Erich Kästners Fabian 1931 stellte, hat nichts an Aktualität verloren. Krisen sind allgegen-wärtig, die Rede von der Krise ist in aller Munde: militärische und religiöse Krisen, aussenpolitische und…mehr

Produktbeschreibung
Krisen und Krisengerede gehen Hand in Hand und bedingen einander: Ohne Krisendiagnostiker, Krisenmanager und Krisenszenarien kein Krisenbewusstsein. Der Sammelband analysiert die Wechselwirkung von Krisendiskursen und Krisenwahrnehmung und leistet so die kritische Reflexion eines (allzu) geläufigen Erklärungsmusters. 'Wir leben provisorisch, die Krise nimmt keine Ende'. Die Diagnose, die Erich Kästners Fabian 1931 stellte, hat nichts an Aktualität verloren. Krisen sind allgegen-wärtig, die Rede von der Krise ist in aller Munde: militärische und religiöse Krisen, aussenpolitische und sportliche, Schaffens- und Wirtschaftskrisen, Midlife- und Männlichkeitskrisen, ganz zu schweigen von Verfassungs-, Renten-, und Opernkrise. Die Allgegenwart von Krisendiskursen, die unser gesteigertes Krisen-bewusstsein begleiten und formen, ruft nach kritischer, auch historischer Reflexion. Angesichts dieses epidemischen Befundes fragt der Sammelband 'Krisis. Krisen-szenarien, Diagnosen und Diskursstrategien', welche diskur-siven Prozesse hinter dem verkürzten und inflationär gebrauchten Krisenbegriff ablaufen, welche der ursprünglichen Bedeutungsebenen und Assoziationen inmitten der Geläufigkeit des Erklärungsmusters 'Krise' verschüttet worden sind. So setzt die Rede von der Krise - eigentlich das entscheidende Stadium einer Erkrankung - eine Körperlichkeit des Phänomens voraus, an dem diagnostiziert wird. Insbesondere impliziert der Begriff eine wie auch immer geartete 'Gesundheit' oder Normalität, die der Krisis gegenübersteht. Zweitens ist die Rede von der Krise ein rhetorisches Werkzeug der Inszenierung bestimmter sozio-kultureller, aber auch persönlicher und politischer Prozesse im öffentlichen Raum. Wer von Krise spricht, diagnostiziert Notstand, Zeitknappheit und Handlungsbedarf. Gleichzeitig wird die eigene Position als eine die Krise erkennende und reflektierende legitimiert und bereitet das 'Krisengerede' die Bühne für den Auftritt des Krisenmanagers oder -Therapeuten als Deus ex Machina. Damit sind auch die beiden Pole benannt, zwischen denen 'Krisis' situiert werden kann: Diagnose und Diskursstrategie. Unter diesen Vorzeichen nehmen Vertreter unterschiedlicher akade-mischer Disziplinen - von der Literatur- bis zur Theater- und Filmwissenschaft, von der Ge-schichte bis zur Psychiatrie, von der Religionswissenschaft bis zur Rechtssprechung - die Rede von der Krise in den Blick. Von den antiken Ursprüngen des Krisenbegriffs über Rekonstruktionen der Renaissance als einer Krisenepoche bis zur medialen Inszenierung und drama-tischen Zuspitzung der weltpoli-tischen Dauerkrise seit dem 11. September soll das Erklärungsmuster 'Krise' historisch perspektiviert, sein Gebrauch kritisch reflektiert werden.
Autorenporträt
Manfred Pfister ist Professor für Englische Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er hat sich vor allem mit seinem Standardwerk zur Dramentheorie einen Namen gemacht. Weitere Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Theorie der Intertextualität und die Erforschung interkultureller Gattungen, insbesondere des Reiseberichts und der Übersetzung. Er hat u.a. Bücher zu William Shakespeare, Laurence Sterne und Oscar Wilde veröffentlicht und war Mitherausgeber einer englischen Literaturgeschichte.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2007

Was fällig und noch nicht gefallen ist
Von Krankheit und Terror, Dynamik und Warten: Ein Band über Krisen und Krisenerzählungen
Vielleicht würde die „Tagesschau” ohne die Krisen dieser Welt nur zwei Minuten dauern. Krisen gibt es in politischer, psychischer, moralischer Form und also immer und überall. Jede Krisenepidemie ist aber zunächst ein epidemischer Befund von Krisen: Es gibt keine Krise ohne Krisengerede. Ereignis und Diskurs bedingen einander. Diesem Zusammenhang geht der aus einer Berliner Ringvorlesung hervorgegangene, von Henning Grunwald und Manfred Pfister herausgegebene Sammelband „Krisis!” nach. Welche Formen von Krisengerede gibt es, und welche Strategien verbergen sich hinter ihr, welche Brüche und Kontinuitäten gibt es in der Rede über die Krise?
Die ursprüngliche Bedeutung von Krise ist eine medizinische: Krise bezeichnet die Zeitspanne, in der sich herausstellt, ob der Patient gesund wird oder stirbt. Die einstige Offenheit des Begriffs sowie sein körperlicher Ursprung sind in der heutigen, ausschließlich negativen Rede über Krisen nicht leicht zu erkennen. Auch gelten im Verlauf der Geschichte unterschiedliche Ereignisse als Krise. Der Band trägt der Vielfalt wie dem Wandel Rechnung, beginnt mit einem Beitrag zur Krise in der griechischen Antike und arbeitet sich über die Renaissance bis zum Kino der Weimarer Republik vor, um schließlich gegenwärtige Krisenphänomene in Sport, Film oder Neurowissenschaft zu untersuchen.
Dass es Krisen nicht immer schon gibt, sondern dass sie Produkte diskursiver Prozesse sind, räumt der narratologischen Analyse eine besondere Stellung ein. Statt eine Essenz verschiedener Krisen zu unterscheiden gilt es, das „emplotment” (Hayden White) von Krisenerzählungen zu definieren. Ansgar Nünning weist in seinem Beitrag darauf hin, dass insbesondere die Literatur des 20. Jahrhunderts voller politischer und Identitätskrisen ist, dass es aber bislang keine narratologische Forschung zur Krise gibt. „Krise” als eine dem medizinischen Bereich entlehnte Metapher legt bereits bestimmte Plotelemente nahe: die Rollen von Patient und Arzt beziehungsweise Beobachter, Symptome, Anamnese, Diagnose, Therapie. Die Metapher gibt ein Verlaufsschema vor, das den Anspruch erhebt, auf alle Szenarien anwendbar zu sein.
Eckhard Lobsien geht in seinem Beitrag zu „Renaissance-Krisen” von Reinhart Kosellecks Befund eines Wandels in der Bedeutung von „Krise” im Neuen Testament aus: Während der Begriff etwa bei Platon noch ein Faktum, nämlich die Entscheidung, bedeutet, meint er im Neuen Testament eine Konstellation der Latenz: jenen Zeitabschnitt, in dem die Entscheidung fällig, aber noch nicht gefallen ist. „Krise ist das, was gleichzeitig ansteht und aussteht; sie ist Dynamik und Warten, Zustand und Gerichtetheit, Spannung mit aufgegebener Lösung.” Lobsien bedient sich einer These Ortega y Gassets, der die Zeit zwischen 1350 und 1550 als Epoche beschreibt, in der es nur negative Überzeugungen und falsche Ersatzlösungen gab. Lobsien zeigt auf, dass die von Jacob Burckhardt verklärte Entfesselung des Subjekts tatsächlich krisenhafte Ungewissheit bringt. Verunsichert klammert sich der Renaissancemensch ans Empirische, während ihm die eigene Imagination als Produzent immer neuer Möglichkeiten unheimlich wird. Die Funktion der Literatur kann es in diesem Kontext nicht sein, die Krise aufzulösen, sondern sie in einen anderen Modus zu transformieren: Literatur beantwortet die Krise mit einem Modell der Krise, die keiner Lösung bedarf, sondern auf Dauer gestellt bleibt.
In seinem Beitrag über „Traditionen des paranoiden Denkens” beschreibt Heinz Ickstadt den 11. September 2001 als Krise, die allzu gut zum paranoiden Denkstil amerikanischer Politik und Kultur passte. Während der Ursprung des paranoiden Stils amerikanischer Politik der Versuch einer weißen und protestantischen Kultur ist, zwischen konkurrierender Religionen, Ethnien und Rassen ihre privilegierte Stellung zu behaupten, findet mit den Anschlägen von New York die Paranoia, die Melvilles „Moby-Dick” und Pynchons „Crying of Lot 49” fiktional inszenieren, ihre Bestätigung in der Realität. Hans Ulrich Gumbrecht schließlich versucht sich an einer Definition der „kleinen” Krise, die sich im Alltag einstellt, wenn Menschen eine ästhetische Erfahrung machen und ihre gewohnten Wahrnehmungsmuster außer Kraft gesetzt werden. Gemeint ist nicht bloß die Erfahrung von Kunstwerken, sondern beispielsweise der Eindruck beim Abheben mit einem Überschallflugzeug oder die Erfahrung eines geglückten Spielzugs beim American Football. KAI WIEGANDT
HENNING GRUNWALD, MANFRED PFISTER (Hrsg.): Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien. Wilhelm Fink Verlag, München 2007. 281 Seiten, 39,90 Euro.
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Kai Wiegandt hat mit Interesse diesen Sammelband über Krisen und Krisendiskurse gelesen. Der aus dem Medizinischen stammende Begriff "Krisis" lässt sich nicht von seinem Diskurs abtrennen, denn die Krise ist ohne ein Reden über sie nicht existent, erklärt der Rezensent als Ergebnis der Lektüre und er bemerkt eingenommen, dass die Beiträge, die Krisen von der Antike bis zur Gegenwart unter die Lupe nehmen, der Komplexität des Themas gerecht werden. Insbesondere die erzähltheoretische Analyse von Krisen, die Hayden White in seinem Beitrag vornimmt, bietet sich deshalb laut Rezensent an. Unter anderem enthält der Band dann noch Untersuchungen von Eckhard Lobsien zum Wandel des Krisenverständnisses im Neuen Testament, der Häufung der Krisenerfahrung im 20. Jahrhunderts von Ansgar Nünning und Überlegungen von Heinz Ickstadt zum 11. September 2001 als Krise, fasst Wiegandt zusammen, der insgesamt zufrieden mit dem aus einer Berliner Ringvorlesung hervorgegangenen Sammelband scheint.

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