Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2001Auf der Suche nach dem verdrängten Napoleon
Ekkehart Krippendorff rechnet mit allen ab, die sich wissenschaftlich oder politisch mit Außenpolitik beschäftigen
Ekkehart Krippendorff: Kritik der Außenpolitik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 236 Seiten, 19,90 Mark.
Außenpolitik hat hierzulande traditionell einen schweren Stand. Weder in der Epoche provinzieller weltpolitischer Abgeschiedenheit während des Kalten Krieges noch seither konnten außen- und sicherheitspolitische Themen dauerhaft und erfolgreich mit solchen innenpolitischer Natur im weitesten Sinne konkurrieren. Das gilt für die öffentliche Diskussion - und es gilt für die Wissenschaft.
Nur wenige Politikwissenschaftler und Historiker haben sich in der Bundesrepublik mit den internationalen Beziehungen beschäftigt. Zu ihnen zählt Ekkehart Krippendorff, der sich seit den sechziger Jahren in Artikeln und Büchern zu den internationalen Beziehungen geäußert hat. Daß seine Arbeiten nennenswerte, bleibende Spuren im öffentlichen oder wissenschaftlichen Nachdenken über Außenpolitik hinterlassen hätten, kann man nicht sagen. Jetzt wird verständlich, warum das so ist. Denn in seinem jüngsten Buch - eine Art akademischem Vermächtnis anläßlich seiner Emeritierung - rechnet Krippendorff in einem Rundumschlag mit allen ab, die wissenschaftlich oder politisch mit der Außenpolitik befaßt gewesen sind.
Der Inhalt des Buches ist rasch referiert: Außenpolitik "ist eine pathologische Erscheinungsform und Praxis des Politischen". Hat man das - wie Krippendorff - erst einmal erkannt, lassen sich Geschichte, Theorie und Praxis der Außenpolitik ziemlich einfach erklären. Was die deutsche Politik angeht, so hat sie nach Krippendorff mit Bismarck ihren pathologischen Zug erhalten: Das "Lebenswerk" des Reichsgründers "war eine im höchsten Grade pathologische Konstruktion, ein gewaltiges Artefakt, das Produkt einer virtuellen Wahrnehmung". Dabei ist es geblieben, ganz gleich, wer seither in Deutschland Verantwortung trug und trägt.
"Mitmachen statt Außenpolitik" lautet nach Krippendorffs Beobachtung die Parole seit den Tagen des Kalten Krieges: "Das als Außenpolitik verstandene Mitmachen - in der Substanz europäische bzw. europäisch-atlantische Innenpolitik - begründete bei der deutschen politischen Klasse eine Art moralischen Kretinismus, der von realökonomischen oder anderen Interessen gerechtfertigt werden konnte und kann." Dieser Lageanalyse liegt eine von historischer Tiefenschärfe oder geschichtlichem Verständnis wenig getrübte Sicht der Dinge zugrunde: Steckte nicht in allen Außenpolitikern ein "Stück verborgener, unbewußter, verdrängter Napoleon", hätten sie spätestens nach dem Ersten Weltkrieg die Konsequenzen aus dem Desaster gezogen und konsequent abgerüstet.
Der pauschale Vorwurf ist der Grundtenor dieses Buches; Fragen zu stellen kommt seinem Autor nicht in den Sinn: Warum sind alle Abrüstungsinitiativen seit den Tagen des Völkerbundes gescheitert? Weshalb ist es bis in die Dämmerstunden des Kalten Krieges nicht gelungen, sich über die Voraussetzungen durchgreifender substantieller Abrüstung, vertrauensbildende Maßnahmen nämlich, zu verständigen? Wie erklären sich die Erfolge der achtziger Jahre, die "Konferenz für Vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa" und die doppelte "Null-Lösung", also die Vernichtung sämtlicher landgestützter amerikanischer und sowjetischer nuklearer Mittelstreckenraketen mittlerer und größerer Reichweite in Europa? Und ist diese spektakuläre historische Entwicklung ohne den Zerfallsprozeß der Sowjetunion überhaupt denkbar?
Nein, nichts von alledem findet sich in dieser "Kritik der Außenpolitik", nicht einmal eine begründete, differenzierte Antwort auf die Frage nach den Alternativen, wohl aber der verbreitete Reflex in Form einer nicht realisierbaren, also problemlos zu erhebenden Forderung: "Außenpolitik von unten", "sozusagen ,Antipolitik'", lautet die Parole. Gewiß, das "klingt sehr allgemein, wenig anschaulich, geradezu ,abstrakt' - und in der Tat fehlen den zahllosen Initiativen, die hier unter dem Begriff ,Außenpolitik von unten' subsumiert werden, vielfach selbst sowohl das Bewußtsein ihres Tuns als auch die wissenschaftliche Legitimation", aber das ficht ihre Vertreter nicht an.
Krippendorff ist Jahrgang 1934. Man ahnt, warum eine ganze Generation deutscher Politikwissenschaftler und Historiker angesichts der atemraubenden weltpolitischen Entwicklungen seit den ausgehenden achtziger Jahren entweder in Sprachlosigkeit verharrt oder sich auf einer nicht minder dramatischen intellektuellen Irrfahrt befindet.
GREGOR SCHÖLLGEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ekkehart Krippendorff rechnet mit allen ab, die sich wissenschaftlich oder politisch mit Außenpolitik beschäftigen
Ekkehart Krippendorff: Kritik der Außenpolitik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 236 Seiten, 19,90 Mark.
Außenpolitik hat hierzulande traditionell einen schweren Stand. Weder in der Epoche provinzieller weltpolitischer Abgeschiedenheit während des Kalten Krieges noch seither konnten außen- und sicherheitspolitische Themen dauerhaft und erfolgreich mit solchen innenpolitischer Natur im weitesten Sinne konkurrieren. Das gilt für die öffentliche Diskussion - und es gilt für die Wissenschaft.
Nur wenige Politikwissenschaftler und Historiker haben sich in der Bundesrepublik mit den internationalen Beziehungen beschäftigt. Zu ihnen zählt Ekkehart Krippendorff, der sich seit den sechziger Jahren in Artikeln und Büchern zu den internationalen Beziehungen geäußert hat. Daß seine Arbeiten nennenswerte, bleibende Spuren im öffentlichen oder wissenschaftlichen Nachdenken über Außenpolitik hinterlassen hätten, kann man nicht sagen. Jetzt wird verständlich, warum das so ist. Denn in seinem jüngsten Buch - eine Art akademischem Vermächtnis anläßlich seiner Emeritierung - rechnet Krippendorff in einem Rundumschlag mit allen ab, die wissenschaftlich oder politisch mit der Außenpolitik befaßt gewesen sind.
Der Inhalt des Buches ist rasch referiert: Außenpolitik "ist eine pathologische Erscheinungsform und Praxis des Politischen". Hat man das - wie Krippendorff - erst einmal erkannt, lassen sich Geschichte, Theorie und Praxis der Außenpolitik ziemlich einfach erklären. Was die deutsche Politik angeht, so hat sie nach Krippendorff mit Bismarck ihren pathologischen Zug erhalten: Das "Lebenswerk" des Reichsgründers "war eine im höchsten Grade pathologische Konstruktion, ein gewaltiges Artefakt, das Produkt einer virtuellen Wahrnehmung". Dabei ist es geblieben, ganz gleich, wer seither in Deutschland Verantwortung trug und trägt.
"Mitmachen statt Außenpolitik" lautet nach Krippendorffs Beobachtung die Parole seit den Tagen des Kalten Krieges: "Das als Außenpolitik verstandene Mitmachen - in der Substanz europäische bzw. europäisch-atlantische Innenpolitik - begründete bei der deutschen politischen Klasse eine Art moralischen Kretinismus, der von realökonomischen oder anderen Interessen gerechtfertigt werden konnte und kann." Dieser Lageanalyse liegt eine von historischer Tiefenschärfe oder geschichtlichem Verständnis wenig getrübte Sicht der Dinge zugrunde: Steckte nicht in allen Außenpolitikern ein "Stück verborgener, unbewußter, verdrängter Napoleon", hätten sie spätestens nach dem Ersten Weltkrieg die Konsequenzen aus dem Desaster gezogen und konsequent abgerüstet.
Der pauschale Vorwurf ist der Grundtenor dieses Buches; Fragen zu stellen kommt seinem Autor nicht in den Sinn: Warum sind alle Abrüstungsinitiativen seit den Tagen des Völkerbundes gescheitert? Weshalb ist es bis in die Dämmerstunden des Kalten Krieges nicht gelungen, sich über die Voraussetzungen durchgreifender substantieller Abrüstung, vertrauensbildende Maßnahmen nämlich, zu verständigen? Wie erklären sich die Erfolge der achtziger Jahre, die "Konferenz für Vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa" und die doppelte "Null-Lösung", also die Vernichtung sämtlicher landgestützter amerikanischer und sowjetischer nuklearer Mittelstreckenraketen mittlerer und größerer Reichweite in Europa? Und ist diese spektakuläre historische Entwicklung ohne den Zerfallsprozeß der Sowjetunion überhaupt denkbar?
Nein, nichts von alledem findet sich in dieser "Kritik der Außenpolitik", nicht einmal eine begründete, differenzierte Antwort auf die Frage nach den Alternativen, wohl aber der verbreitete Reflex in Form einer nicht realisierbaren, also problemlos zu erhebenden Forderung: "Außenpolitik von unten", "sozusagen ,Antipolitik'", lautet die Parole. Gewiß, das "klingt sehr allgemein, wenig anschaulich, geradezu ,abstrakt' - und in der Tat fehlen den zahllosen Initiativen, die hier unter dem Begriff ,Außenpolitik von unten' subsumiert werden, vielfach selbst sowohl das Bewußtsein ihres Tuns als auch die wissenschaftliche Legitimation", aber das ficht ihre Vertreter nicht an.
Krippendorff ist Jahrgang 1934. Man ahnt, warum eine ganze Generation deutscher Politikwissenschaftler und Historiker angesichts der atemraubenden weltpolitischen Entwicklungen seit den ausgehenden achtziger Jahren entweder in Sprachlosigkeit verharrt oder sich auf einer nicht minder dramatischen intellektuellen Irrfahrt befindet.
GREGOR SCHÖLLGEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nichtssagend und wenig differenziert findet Gregor Schöllgen Krippendorfs "Kritik der Außenpolitik". Nach Meinung des Rezensenten "rechnet Krippendorff in einem Rundumschlag mit allen ab, die wissenschaftlich und politisch mit Außenpolitik befasst gewesen sind". Das Ergebnis erscheint ihm wenig befriedigend, da sich das Buch auf eine Grundthese reduzieren lasse nach der die deutsche Außenpolitik seit dem Kalten Krieg allein unter dem Primat des Mitmachens statt des eigenverantwortlichen Handelns stehe. Das ist dem Rezensenten zu wenig und verrät vor allem eine "von historischer Tiefenschärfe oder geschichtlichem Verständnis wenig getrübte Sicht der Dinge." Völlig klar jedoch sieht der Rezensent, wenn es darum geht, warum das Projekt misslingen musste: es ist das Alter des Autors, der Jahrgang 1934 ist, und somit zu derjenigen Generation von Politikwissenschaftlern gehöre, "die angesichts der atemberaubenden weltpolitischen Entwicklung seit den ausgehenden achtziger Jahren entweder in Sprachlosigkeit verharrt oder sich auf einer nicht minder dramatischen intellektuellen Irrfahrt befindet." Ob hier wohl schmutzige Wäsche gewaschen wurde, weil der Rezensent fast schon zur Generation Golf gehört?
© Perlentaucher Medien GmbH
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