Leo N. Tolstoi - aufgeschreckt durch die kirchliche Assistenz für das militärische Morden - studiert in den Jahren 1879-1884 die offizielle Dogmatik der mit dem Staat eng verbundenen Hierarchie. Zunächst geht diese Unternehmung durchaus noch mit einer kirchlichen Gesinnung einher. Doch die Lektüre des Lehrbuchs von Metropolit Makarij I. bewirkt eine durchgreifende Desillusionierung: "Wie kann ich noch an diese Kirche glauben, ... wenn sie auf die tiefsten Fragen des Menschen ... mit plumpen Betrügereien und albernem Humbug antwortet".Erst 1904 besorgte Carl Ritter auf der Grundlage einer…mehr
Leo N. Tolstoi - aufgeschreckt durch die kirchliche Assistenz für das militärische Morden - studiert in den Jahren 1879-1884 die offizielle Dogmatik der mit dem Staat eng verbundenen Hierarchie. Zunächst geht diese Unternehmung durchaus noch mit einer kirchlichen Gesinnung einher. Doch die Lektüre des Lehrbuchs von Metropolit Makarij I. bewirkt eine durchgreifende Desillusionierung: "Wie kann ich noch an diese Kirche glauben, ... wenn sie auf die tiefsten Fragen des Menschen ... mit plumpen Betrügereien und albernem Humbug antwortet".Erst 1904 besorgte Carl Ritter auf der Grundlage einer zuverlässigen Manuskriptfassung die vollständige Übersetzung von Tolstois "Kritik der dogmatischen Theologie" in die deutsche Sprache. Nach über 110 Jahren ist diese Gesamtausgabe mit der vorliegenden Edition (zwei Teile in einem Band) erstmals wieder in Buchsortimenten greifbar.In seinem Schlusswort formuliert der russische Christ eine scharfe Kritik der Priesterreligion: "Jetzt ist es klar, dass das Lehramt der Kirche ... zum ärgsten Feinde des Christentums geworden ist. ... Die Lehre vom Lehramt der Kirche widerstreitet dem Christentum vollkommen. Indem die Kirche von dem Geiste der Lehre abgewichen ist, hat sie ihn so verfälscht, dass sie durch ihr ganzes Dasein zur absoluten Negation der Lehre gelangt ist: statt Selbstverleugnung - übt sie Selbstüberhebung, statt der Armut - Luxus; statt niemanden zu verurteilen - verurteilt sie alle in der grausamsten Weise, statt Kränkungen zu vergeben, entfacht sie Hass und Kriege, statt das Böse zu dulden, mordet sie. Und alle verleugnen einander, nur nicht sich selbst." - Die "theologischen Streitigkeiten haben sich ... nur um Dinge gehandelt, die niemand nötig hat. ... Das Leben aber ist nie Gegenstand dieses Glaubens gewesen".Tolstoi-FriedensbibliothekReihe A, Band 3 (Signatur TFb_A003)Bearbeitet von Peter Bürgerund Ingrid von HeiselerHinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 Eheschließung mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919); das Paar hatte insgesamt dreizehn Kinder (Hauptwohnsitz: Landgut Jasnaja Poljana bei Tula). Literarischen Weltruhm erlangte L. Tolstoi durch seine Romane "Krieg und Frieden" (1862-1869) und "Anna Karenina" (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum "Hauptmotiv" des Lebens. Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten markieren die Abkehr von einem auf dem Pakt mit der Macht erbauten orthodoxen Kirchentum (Exkommunikation 1901). Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten (Militär, Justiz, Todesstrafe, Herrschaftsideologie des Patriotismus, blutige Revolution mit Menschenopfern). Die in der Bergpredigt Jesu erkannte "Lehre vom Nichtwiderstreben" ließ ihn schließlich zu einem Inspirator Gandhis werden. Lackmusstext für den Wahrheitsgehalt aller Religionen waren für Tolstoi die Ablehnung jeglicher Gewalt und das Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie. Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen "Kunsttheorie" und den (von Rosa Luxemburg z.T. durchaus geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber - mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs - 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt: "Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären."
Foto: Wikipedia, Tolstoi 1908
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