Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 18,00 €
  • Gebundenes Buch

Soweit es in der Diskussion um die Reform des Sozialstaats darum geht, ökonomische und moralische Fehlentwicklungen zu korrigieren, hat sich Ratlosigkeit breitgemacht. In Ermangelung einer angemessenen Theorie des Sozialstaats herrscht Ungewißheit darüber, welcher Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit man folgen sollte. Was gerecht ist, versteht sich ja keineswegs von selbst. Die Frage gerechter Verteilungskriterien für materielle Güter gehört zu den dunkelsten Zonen des moralischen Bewußtseins; keinerlei geteilte Überzeugungen bieten hier eine gesicherte Wissensgrundlage.
Solange die
…mehr

Produktbeschreibung
Soweit es in der Diskussion um die Reform des Sozialstaats darum geht, ökonomische und moralische Fehlentwicklungen zu korrigieren, hat sich Ratlosigkeit breitgemacht. In Ermangelung einer angemessenen Theorie des Sozialstaats herrscht Ungewißheit darüber, welcher Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit man folgen sollte. Was gerecht ist, versteht sich ja keineswegs von selbst. Die Frage gerechter Verteilungskriterien für materielle Güter gehört zu den dunkelsten Zonen des moralischen Bewußtseins; keinerlei geteilte Überzeugungen bieten hier eine gesicherte Wissensgrundlage.

Solange die Finanzierbarkeit des Sozialstaats gesichert ist, kann die Gesellschaft gut mit der semantischen Undeutlichkeit des gerechtigkeitsethischen Vokabulars leben. Wenn sich jedoch - da der Sozialstaat an seine Grenzen gelangt ist - das Bewußtsein von der Unerläßlichkeit seiner ökonomischen und moralischen Reform ausbreitet, ist ein genaueres moralisches Orientierungswissen notwendig. Andernfalls wäre die fällige Umstrukturierung des Sozialstaats dem ökonomischen und politischen Opportunismus ausgeliefert.

Wolfgang Kersting plädiert entschieden für eine Modernisierung der Ethik; für eine inventive Ethik der aktiven moralischen Gestaltung der im Prozeß der Modernisierung erzeugten neuen Problemfelder; für eine deliberative moralische Rationalität, die - pluralistisch und dissensfähig - ihre Gesaltungsvorstellungen nach dem Vorbild wissenschaftlicher Hypothesenbildung begreift, sich ihres experimentell revidierbaren Charakters bewußt bleibt und die fälligen Entscheidungen im Rahmen einer offenen gesellschaftlichen Diskussion nach demokratischen Verhaltensregeln fällt.

Inhalt:
Vorwort: Kritik der Gleichheit

Grenzen der Gerechtigkeit
1. Der Sozialstaat im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit
2. Internationale Verteilungsgerechtigkeit und Menschenrecht
3. Egalitäre Grundversorgung und Rationierungsethik. Überlegungen zu den Problemen und Prinzipien einer gerechten Gesundheitsversorgung

Grenzen der Moral
4. Glück, Tugend, Gerechtigkeit. Über Aristoteles' Ethik
5. Zur Geschichte der Tugend und der Tugendkritik
6. Moralphilosophie der limitierten Rationalität
7. Zur ethischen Entsorgung der Modernisierungslasten
Autorenporträt
Wolfgang Kersting, geb. 1946, ist Ordinarius für Philosophie und Direktor am Philosophischen Seminar der Universität Kiel.
Jüngste Buchveröffentlichungen: Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend (1997); Theorien der sozialen Gerechtigkeit (2000). Bei Velbrück Wissenschaft sind erschienen: Politik und Recht. Abhandlungen zur politischen Philosophie der Gegenwart und zur neuzeitlichen Rechtsphilosophie (2000); (Hg.) Politische Philosophie des Sozialstaats (2000).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2002

Wann ist ein Satz ein Satz zuviel?
Anleitung, um die Kosten der eigenen Entscheidungen zu tragen: Wolfgang Kersting schnürt die Mogelpackungen der Moral auf

Hier ist das berühmte Buch, das man mitnimmt auf die nicht minder berühmte einsame Insel. Ganze Bibliotheken getrost zu Hause lassend, um nur dieses eine zu lesen. Das braucht seine Zeit. Genau die, die einer benötigt, um halbwegs klar zu sehen im schier undurchdringlichen Dschungel der wild wuchernden Gerechtigkeits- und Moralsemantiken.

Wo den Anfang machen bei diesem Buch? Nicht notwendig vorn. Denn es handelt sich um eine Sammlung von sieben eigenständigen, zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen, aktualisierten Beiträgen. Aufgeteilt in zwei große Abschnitte, überschrieben mit: "Grenzen der Gerechtigkeit" und "Grenzen der Moral". Wolfgang Kersting hat nicht nur etwas zu sagen, sondern kann auch schreiben. Ich habe mit dem dritten Beitrag begonnen. Aber auf die Basisbegriffe stößt der Leser natürlich überall. Und damit auf Fragen wie: Was ist Recht, zumal als Menschenrecht? Was Gerechtigkeit, zumal als austeilende? Was heißt Sozialstaat? Wann ist ein Satz "ein Satz zu viel" (Manfred Stolpe)?

Das, sagen wir: als Moral Verpackte erweist sich freilich häufig genug als Mogelpackung. Aber wer entscheidet das eigentlich? Hinz und Kunz wohl kaum. Eher schon Räte. Am besten nationale Räte, Nationale Ethikräte. Und das in Zeiten der Globalisierung? Aber wer auch immer, woher nimmt er die Kriterien? Gibt es die überhaupt, verbindliche Kriterien? Darüber gibt Kersting Auskünfte. Die will gewiß nicht jeder hören, schon gar nicht Kerstings Antworten ausnahmslos akzeptieren. Er wird sich aber schwertun, sie überzeugend zu widerlegen.

Was hat der Kieler Philosoph zu bieten? Eines vor allem: Klarheit. Das ist viel. Gerade auf dem Gebiete der Praktischen Philosophie. Kersting kennt seine Pappenheimer und nennt auch manche namentlich. Das geht schon fröhlich im Vorwort los. Nicht ohne gekonnte, hinreißende Polemik. Die trifft als erstes die Universalisten. Ihr "Universalismus ist ein Humanismus". Und dieser "eine gleichheitsorientierte Moral des Wegsehens". Aber so unverzichtbar für Kersting eine "ungleichheitsorientierte Ethik des Hinsehens" auch ist, sie allein und für sich genommen wäre so beklagenswert einseitig wie das nicht selten alles übertönende Credo der Universalisten. Auf Zimmerlautstärke gebracht, ist diese jedoch hörenswert. Zum vollen Chorus einer "liberalen Sozialkonzeption", wie Kersting sie anstrebt, gehört indessen beides: das Weghören und das Hinhören. In der Metaphorik des Autors: das Wegsehen und Hinsehen. Deshalb durchzieht alle Beiträge ein Faden, den niemand wird rot nennen wollen: die "Zurückweisung von Alleinvertretungsansprüchen". Das verlangt klare Unterscheidungen. Darin bewährt sich Kersting ein um das andere Mal.

Die dicht geschriebenen, inhaltsvollen Aufsätze zu lesen, ist eine Lust. Nehmen wir beispielsweise die "Überlegungen zu den Problemen und Prinzipien einer gerechten Gesundheitsversorgung". Gesundheit sei "kein Gut unter anderen". Eine Aussage, die eingeschränkt werden muß, was Kersting sogleich auch selbst besorgt. Denn wie einige andere Güter auch, nämlich "Frieden, Freiheit, Sicherheit und das Leben selbst, ist Gesundheit ein transzendentales oder konditionales Gut". Wenn Menschen sich zum Geburtstag oder Jahreswechsel "vor allem Gesundheit" wünschen, ist das mehr als eine Floskel. Denn sie wissen, daß Gesundheit zwar nicht alles ist, aber ohne Gesundheit alles nichts. Wir haben nicht alle dieselbe und schon gar nicht die beste Konstitution. Soll man es da den lediglich defizitär Gesunden allein überlassen, für ihre mangelhafte Gesundheit gefälligst selbst zu sorgen, auch wenn ihnen die Mittel dazu unverschuldetermaßen fehlen? Kein Zweifel: Die Solidargemeinschaft muß einspringen. Aber knappe Kassen erlauben keine großen Sprünge. Eine Einsicht, die "Diesseitspriestern" ersichtlich selten kommt, die für alle unterschiedslos alles fordern.

In einer anderen Studie zitiert Kersting eine "Interpretation", die er treffend als "euphorische" charakterisiert. Nach ihr verlangt Sozialstaatlichkeit eine "Ordnung größtmöglicher und gleichberechtigter Wohlfahrt des einzelnen, bei notwendiger Gerechtigkeit für alle". So Werner Maihofer. Dazu Kersting: "Hier ist wirklich alles Wünschenswerte versammelt, nur die Klarheit fehlt." Nein, es führt klarerweise kein Weg daran vorbei, "Rationierung" ist unumgänglich. Ein Zwang, der freilich kein Alibi liefert, den Kopf im übrigen in den Sand zu stecken oder ihn gar nicht erst zu gebrauchen. Wir lesen darum bei Kersting, mit Bedacht kursiv gesetzt: "Grundsätzlich geht Rationalisierung vor Rationierung." Das klingt gut. Das Beste wäre, die Ratio verriete uns zugleich, was genau sie gebietet. Ein frommer Wunsch. Denn es ist unsere Vernunft. Wie unsere Gerechtigkeit, wie unsere Moral. Wer sich auf das Doppelthema Gesundheit/Gerechtigkeit denkerisch einläßt, gerät folglich unweigerlich in Nöte.

Dennoch können wir den Maximalisten nicht das Feld überlassen, wo immer sie anzutreffen sind. Zum Beispiel auch bei den "Menschenrechtsfanatikern", die bereits "jede Abweichung vom zivilisatorischen Höchststand als Menschenrechtsverletzung brandmarken und dadurch das kostbare Menschenrechtskonzept verderben . . ." Das lastet Kersting speziell den Menschenrechtskatalogisierern der Vereinten Nationen an. Der World Health Organization wiederum wirft er vor, die Gesundheit zu definieren als "Zustand des vollkommenen biologischen, sozialen und psychischen Wohlbefindens". Auch das kann nur desaströs enden. Denn so wird der Mediziner letztlich in die "Rolle eines Gesundheit, Glück und Sinn spendenden Globaltherapeuten . . . gedrängt und die ganze Gesellschaft in ein Wartezimmer verwandelt". Der einzige Vorteil spendet wenig Trost: Wenn die Menschheit nur noch aus Patienten bestehe, gäbe es seitens der Ärzte wohl weniger betrügerische Abrechnungen. Und die optimale Statistik erwiese sich als manipulationsresistent.

In der Tat kümmert sich der Ordinarius für Philosophie auch um solche scheinbar banalen Dinge wie strafrechtsrelevante Aspekte der Gesundheitsvorsorge. Hier sieht er gleichermaßen "Markt- und Staatsversagen". Zu letzterem rechnet er die "bekannten Unredlichkeits-, Fahrlässigkeits-, Verschwendungs- und Überkonsumtionseffekte staatlicher Versorgungssysteme". Er läßt sich aber durch nichts und von keiner Seite entmutigen, plädiert vielmehr für ein "Mischmodell", das er "als sowohl ökonomisch als auch moralisch vorzugswürdig" empfiehlt. Maximalismen sind und bleiben Kersting ein Greuel. Hier speziell der "Versorgungsmaximalismus", der neben allen seinen sonstigen Übeln aus dem sonst doch mündigen Bürger nur noch einen "betreuten Bürger" macht mit einem "Verhaltens- und Erwartungsprofil", das für eine selbstbestimmte Lebensführung "wenig gedeihlich ist". Eine Lebensführung, zu der auch die "Bereitschaft" gehören muß, "die Kosten der eigenen Entscheidungen zu tragen".

Wohl wahr. Aber doch zu fordern nur, wenn der Staat seinerseits alles daransetzt, eine "anständige" gesundheitliche "Daseinsversorgung" zu gewährleisten. Dieses "anständig" buchstabiert Kersting nach Kräften durch. Er beläßt es nicht bei allgemeinen Appellen. Er sorgt sich auch um Details. Wie also sieht eine effektive Unterstützung Schwangerer aus, wie eine professionelle Hilfe bei der Entbindung? Aus den Höhen der Abstraktionen in die Niederungen alltäglicher praktischer Probleme herabzusteigen, es täte vielen gut.

WALTER GRASNICK

Wolfgang Kersting: "Kritik der Gleichheit". Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral. Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2002. 368 S., geb., 40.- .

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2002

Wenn der Wirt die Rechnung zeigt
Zonen moralischer Ratlosigkeit: Wolfgang Kersting betreibt das philosophische Management des Ungewissen
Ethiker haben Hochkonjunktur. In Talk-Shows dürfen sie Expertenwissen über schwierige Konflikte ausbreiten, und in Volkshochschulen belehren sie das verunsicherte Publikum über den moralischen Status katholischer Stammzellen oder die Würde protestantischer Embryonen. „Nie zuvor konnte man mit Moral so viel Geld verdienen”, stellt der Kieler Ethiker Wolfgang Kersting zum aktuellen Markterfolg seiner Profession fest.
In sympathischer Selbstironie warnt er eine „moralsüchtige” Öffentlichkeit vor der Überschätzung der Orientierungsberater. Zwar wird inzwischen jedem gesellschaftlichen Problem und allen möglichen neuen Erkenntnissen eine „ethische Dimension” zuerkannt. Auch errichtet die politische Klasse zum Wohl der Republik Ethikräte und Moralkommissionen, in denen sich eine Mehrheit von Tugendspezialisten mit einer Minderheit darüber verständigen darf, dass pragmatische Kompromisse in schwierigen ethischen Dilemmata prekär bleiben. Den Nutzen solcher Ethik-Gremien beurteilt Kersting jedoch skeptisch. Die professionellen Ethiker wüssten es selbst nicht besser als die Leute, die sich moralische Weisung erhofften.
In den Themenfeldern der angewandten Ethik, etwa in der Wirtschaftsethik, Technikfolgenabschätzung, Medizinethik, Bioethik und Genethik seien die Spezialisten genauso ratlos und zerstritten wie andere Zeitgenossen auch. Der erst vor zwanzig Jahren in den USA eingeführte Begriff „applied ethics” spiegelt die Schwierigkeiten, die mit den schnellen Fortschritten in Wissenschaft, Technik und globalisiertem Kapitalismus verbundenen Moralkonflikte zu beschreiben. Erzeugte ethische Reflexion vor der Erfindung der „applied ethics” nur abstraktes Prinzipienwissen, das sich nicht anwenden ließ?
Kersting will seine Ethik auf konkrete Konfliktlagen beziehen. Je schneller sich der forschende Mensch neue Handlungschancen erschließt, desto mehr wächst der Bedarf an ethischer Selbstreflexion. Die alten Fragen „Was soll ich tun? Was soll ich lassen?” gewinnen an Gewicht, weil wir durch die Verwissenschaftlichung unseres Weltumgangs immer mehr tun können – bis hin zur genetischen Selbstveränderung. Zugleich erzeugt die wissenschaftlich- technische Expansionsdynamik neue Verteilungskonflikte, etwa im Gesundheitswesen, weil angesichts knapper Ressourcen nicht jeder Patient alle möglichen medizinischen Dienstleistungen erhalten kann.
Die Erosion der überkommenen Sozialstaatsinstitutionen gibt klassischen Fragen nach einer gerechten Ordnung des Politischen oder dem spannungsreichen Verhältnis von Freiheit und Gleichheit ungeahnte Aktualität. Sind Begriffe wie „sozialer Rechtsstaat”, „Solidargemeinschaft” und „Generationenvertrag” nur ideologische Leerformeln? Ist radikales Eigennutzdenken moralisch legitim? Dürfen wir die Finanzierungsprobleme im Gesundheitswesen lösen, indem wir uns von überkommenen Gleichheitslügen befreien und offensiv eine Mehrklassenmedizin vertreten? Gerechtigkeit wäre dann so zu denken: Wer aus eigener Tasche mehr bezahlt, kauft auch den moralischen Anspruch, auf deregulierten Medizinmärkten bessere Arzneien, Diagnosen und Therapien zu erhalten.
Kersting ist ein bekennender Liberaler. In Fallstudien zum Sozialstaat, zu internationaler Verteilungsgerechtigkeit und zu medizinischer Rationierungsethik analysiert er unaufhebbare Spannungen zwischen Freiheit und Gleichheit. Der wohlfahrtsstaatliche Egalitarismus sei eine freiheitsfeindliche Herrschaftsideologie, mit der wohlmeinende Paternalisten nur die Besitzstände von Entmündigungsexperten in Sozialstaatsbürokratien sicherten. Dennoch hält Kersting am Sozialstaat fest, da er nun einmal im Grundgesetz steht. Im Unterschied zu westeuropäischen Radikalliberalen wie Isaiah Berlin lehnt er einen rein negativen Freiheitsbegriff ab. Freiheit soll um „ein normatives Profil” erweitert werden. Diese Normativität beschreibt Kersting als einen „um der Wirksamkeit und Wirklichkeit des Freiheitsrechts willen selber notwendigen Rechtsanspruch auf einen für Selbstbestimmung hinreichenden Anteil an den kollektiv erwirtschafteten Gütern für den Fall wie immer verursachter Selbstversorgungsunfähigkeit”. Das klingt sozialphilosophisch gebildet, bleibt jedoch abstrakt. Wer darf entscheiden, welcher Anteil an gemeinsam erzeugten Gütern zur Ermöglichung von Freiheit hinreichend ist?
Ehe und Vaterland
Seit den siebziger Jahren sind ethische Diskurse durch den Streit zwischen liberalen Universalisten und partikularistisch denkenden Kommunitaristen bestimmt. Diese Gemeinschaftsdenker sehen im aufgeklärten Menschenrechtsuniversalismus eine allzu abstrakte, nur schwache Verpflichtungen erzeugende Ethik. Über den bloßen Rechtsgehorsam hinaus bedürfe der demokratische Staat gemeinschaftlicher Bürgertugenden, um nicht zum Kampfplatz egozentrischer Interessenagenten zu verfallen. Die Kommunitaristen legen den Staat auf ein material bestimmtes Gemeinwohl fest und klagen von den Bürgern mit aristotelischen Denkfiguren die Tugend der innerlichen Bindung ans gemeinschaftliche Gute ein. Liberale hingegen konstruieren Ethos durch allgemeingültige, formalisierte Anerkennungsverhältnisse: Jeder Mensch sei jedem anderen Menschen einen elementaren Respekt vor seiner unveräußerlichen Menschenwürde schuldig. Um der Freiheit der Individuen willen müsse der Staat ethisch neutral bleiben und dürfe keine bestimmten Kulturwerte vertreten. Kersting vertritt eine originelle Vermittlungsposition. Ein reiner Menschenrechtsuniversalismus bleibe abstrakt, weil er im einzelnen Menschen immer nur den Menschen an sich sehe. Jeder Mensch sei aber ein konkretes Individuum, das immer schon in kleine Lebenswelten wie die Familie und in die Solidarnetze des Nationalstaates eingebunden sei. Kersting will eine allgemein humanistische Ethik deshalb durch eine kommunitäre „Loyalitätsmoral der besonderen, von Freundschaft, Ehe und Familie bis zur nationalen Gemeinschaft reichenden Beziehungen vervollständigen”. Doch wie lässt sich in einer liberalen, der Vergesellschaftung freier Individuen verpflichteten Perspektive ein spezifischer ethischer Verpflichtungsgehalt „der nationalen Gemeinschaft” denken? Durch die Aufnahme kommunitärer Denkformen unterläuft Kersting die beanspruchte Liberalität. Wenn die „nationale Gemeinschaft” ein ethisches Gut ist, muss vom Bürger die Tugend des Patriotismus eingeklagt werden.
Trotz solcher Widersprüche beeindruckt Kerstings Gegenwartsdeutung durch den Mut, Grenzen des Wissens zu markieren. Im Gegensatz zu vielen „Certisten”, die aus ihren Prinzipien kluge Antworten auf alle möglichen Fragen ableiten, betont er den offenen, hypothetischen Charakter ethischer Reflexion. In einer unvollkommenen Welt gebe es keine letztgültigen Antworten und einfachen Lösungen. Angesichts „wachsender Zonen moralischer Ratlosigkeit” sollten die Ethiker der Gesellschaft besser präzisere Beschreibungen der Dilemmata als vermeintliche Patentrezepte liefern. Der Vorschlag zum philosophischen „Ungewißheitsmanagement” klingt sympathisch bescheiden. Aber es geht den Ethikern auch um ihre Denkgeschäfte. Bedürfen komplexe Gesellschaften ethischer Dauerreflexion, können Ethik-Experten ihre Marktanteile am öffentlichen Diskurs steigern.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
WOLFGANG KERSTING: Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2002. 368 Seiten, 40 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Freiheit statt Gleichheit fordert der Kieler Philosoph Wolfgang Kersting in seinen für dieses Buch zusammengestellten Texten, berichtet Wilfried Hinsch. Der "Freund scharfer Abgrenzungen und kräftiger Formulierungen" hole auch diesmal, so der wenig überraschte Rezensent, weit aus und kritisiere ausgiebig den Sozialstaat und dahinter stehende Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit. Vieles von Kerstings Behauptungen hat Hinsch wegen seiner "moralischen Klarsicht" und "sozialpolitischem Common Sense" überzeugt. Doch sieht der Rezensent anders als der Autor darin keinen Widerspruch zwischen "egalitären Konzepten" und Liberalismus. Abgesehen davon, gibt Hinsch zu bedenken, dass die Freiheit des Einzelnen an der realen Unfreiheit des Marktes scheitert, was die Überzeugung und Argumentation Kerstings doch recht fragwürdig erscheinen lasse, wie der Rezensent findet.

© Perlentaucher Medien GmbH