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Soweit es in der Diskussion um die Reform des Sozialstaats darum geht, ökonomische und moralische Fehlentwicklungen zu korrigieren, hat sich Ratlosigkeit breitgemacht. In Ermangelung einer angemessenen Theorie des Sozialstaats herrscht Ungewißheit darüber, welcher Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit man folgen sollte. Was gerecht ist, versteht sich ja keineswegs von selbst. Die Frage gerechter Verteilungskriterien für materielle Güter gehört zu den dunkelsten Zonen des moralischen Bewußtseins; keinerlei geteilte Überzeugungen bieten hier eine gesicherte Wissensgrundlage.
Solange die
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Produktbeschreibung
Soweit es in der Diskussion um die Reform des Sozialstaats darum geht, ökonomische und moralische Fehlentwicklungen zu korrigieren, hat sich Ratlosigkeit breitgemacht. In Ermangelung einer angemessenen Theorie des Sozialstaats herrscht Ungewißheit darüber, welcher Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit man folgen sollte. Was gerecht ist, versteht sich ja keineswegs von selbst. Die Frage gerechter Verteilungskriterien für materielle Güter gehört zu den dunkelsten Zonen des moralischen Bewußtseins; keinerlei geteilte Überzeugungen bieten hier eine gesicherte Wissensgrundlage.

Solange die Finanzierbarkeit des Sozialstaats gesichert ist, kann die Gesellschaft gut mit der semantischen Undeutlichkeit des gerechtigkeitsethischen Vokabulars leben. Wenn sich jedoch - da der Sozialstaat an seine Grenzen gelangt ist - das Bewußtsein von der Unerläßlichkeit seiner ökonomischen und moralischen Reform ausbreitet, ist ein genaueres moralisches Orientierungswissen notwendig. Andernfalls wäre die fällige Umstrukturierung des Sozialstaats dem ökonomischen und politischen Opportunismus ausgeliefert.

Wolfgang Kersting plädiert entschieden für eine Modernisierung der Ethik; für eine inventive Ethik der aktiven moralischen Gestaltung der im Prozeß der Modernisierung erzeugten neuen Problemfelder; für eine deliberative moralische Rationalität, die - pluralistisch und dissensfähig - ihre Gesaltungsvorstellungen nach dem Vorbild wissenschaftlicher Hypothesenbildung begreift, sich ihres experimentell revidierbaren Charakters bewußt bleibt und die fälligen Entscheidungen im Rahmen einer offenen gesellschaftlichen Diskussion nach demokratischen Verhaltensregeln fällt.

Inhalt:
Vorwort: Kritik der Gleichheit

Grenzen der Gerechtigkeit
1. Der Sozialstaat im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit
2. Internationale Verteilungsgerechtigkeit und Menschenrecht
3. Egalitäre Grundversorgung und Rationierungsethik. Überlegungen zu den Problemen und Prinzipien einer gerechten Gesundheitsversorgung

Grenzen der Moral
4. Glück, Tugend, Gerechtigkeit. Über Aristoteles' Ethik
5. Zur Geschichte der Tugend und der Tugendkritik
6. Moralphilosophie der limitierten Rationalität
7. Zur ethischen Entsorgung der Modernisierungslasten
Autorenporträt
Wolfgang Kersting, geb. 1946, ist Ordinarius für Philosophie und Direktor am Philosophischen Seminar der Universität Kiel.
Jüngste Buchveröffentlichungen: Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend (1997); Theorien der sozialen Gerechtigkeit (2000). Bei Velbrück Wissenschaft sind erschienen: Politik und Recht. Abhandlungen zur politischen Philosophie der Gegenwart und zur neuzeitlichen Rechtsphilosophie (2000); (Hg.) Politische Philosophie des Sozialstaats (2000).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2002

Wann ist ein Satz ein Satz zuviel?
Anleitung, um die Kosten der eigenen Entscheidungen zu tragen: Wolfgang Kersting schnürt die Mogelpackungen der Moral auf

Hier ist das berühmte Buch, das man mitnimmt auf die nicht minder berühmte einsame Insel. Ganze Bibliotheken getrost zu Hause lassend, um nur dieses eine zu lesen. Das braucht seine Zeit. Genau die, die einer benötigt, um halbwegs klar zu sehen im schier undurchdringlichen Dschungel der wild wuchernden Gerechtigkeits- und Moralsemantiken.

Wo den Anfang machen bei diesem Buch? Nicht notwendig vorn. Denn es handelt sich um eine Sammlung von sieben eigenständigen, zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen, aktualisierten Beiträgen. Aufgeteilt in zwei große Abschnitte, überschrieben mit: "Grenzen der Gerechtigkeit" und "Grenzen der Moral". Wolfgang Kersting hat nicht nur etwas zu sagen, sondern kann auch schreiben. Ich habe mit dem dritten Beitrag begonnen. Aber auf die Basisbegriffe stößt der Leser natürlich überall. Und damit auf Fragen wie: Was ist Recht, zumal als Menschenrecht? Was Gerechtigkeit, zumal als austeilende? Was heißt Sozialstaat? Wann ist ein Satz "ein Satz zu viel" (Manfred Stolpe)?

Das, sagen wir: als Moral Verpackte erweist sich freilich häufig genug als Mogelpackung. Aber wer entscheidet das eigentlich? Hinz und Kunz wohl kaum. Eher schon Räte. Am besten nationale Räte, Nationale Ethikräte. Und das in Zeiten der Globalisierung? Aber wer auch immer, woher nimmt er die Kriterien? Gibt es die überhaupt, verbindliche Kriterien? Darüber gibt Kersting Auskünfte. Die will gewiß nicht jeder hören, schon gar nicht Kerstings Antworten ausnahmslos akzeptieren. Er wird sich aber schwertun, sie überzeugend zu widerlegen.

Was hat der Kieler Philosoph zu bieten? Eines vor allem: Klarheit. Das ist viel. Gerade auf dem Gebiete der Praktischen Philosophie. Kersting kennt seine Pappenheimer und nennt auch manche namentlich. Das geht schon fröhlich im Vorwort los. Nicht ohne gekonnte, hinreißende Polemik. Die trifft als erstes die Universalisten. Ihr "Universalismus ist ein Humanismus". Und dieser "eine gleichheitsorientierte Moral des Wegsehens". Aber so unverzichtbar für Kersting eine "ungleichheitsorientierte Ethik des Hinsehens" auch ist, sie allein und für sich genommen wäre so beklagenswert einseitig wie das nicht selten alles übertönende Credo der Universalisten. Auf Zimmerlautstärke gebracht, ist diese jedoch hörenswert. Zum vollen Chorus einer "liberalen Sozialkonzeption", wie Kersting sie anstrebt, gehört indessen beides: das Weghören und das Hinhören. In der Metaphorik des Autors: das Wegsehen und Hinsehen. Deshalb durchzieht alle Beiträge ein Faden, den niemand wird rot nennen wollen: die "Zurückweisung von Alleinvertretungsansprüchen". Das verlangt klare Unterscheidungen. Darin bewährt sich Kersting ein um das andere Mal.

Die dicht geschriebenen, inhaltsvollen Aufsätze zu lesen, ist eine Lust. Nehmen wir beispielsweise die "Überlegungen zu den Problemen und Prinzipien einer gerechten Gesundheitsversorgung". Gesundheit sei "kein Gut unter anderen". Eine Aussage, die eingeschränkt werden muß, was Kersting sogleich auch selbst besorgt. Denn wie einige andere Güter auch, nämlich "Frieden, Freiheit, Sicherheit und das Leben selbst, ist Gesundheit ein transzendentales oder konditionales Gut". Wenn Menschen sich zum Geburtstag oder Jahreswechsel "vor allem Gesundheit" wünschen, ist das mehr als eine Floskel. Denn sie wissen, daß Gesundheit zwar nicht alles ist, aber ohne Gesundheit alles nichts. Wir haben nicht alle dieselbe und schon gar nicht die beste Konstitution. Soll man es da den lediglich defizitär Gesunden allein überlassen, für ihre mangelhafte Gesundheit gefälligst selbst zu sorgen, auch wenn ihnen die Mittel dazu unverschuldetermaßen fehlen? Kein Zweifel: Die Solidargemeinschaft muß einspringen. Aber knappe Kassen erlauben keine großen Sprünge. Eine Einsicht, die "Diesseitspriestern" ersichtlich selten kommt, die für alle unterschiedslos alles fordern.

In einer anderen Studie zitiert Kersting eine "Interpretation", die er treffend als "euphorische" charakterisiert. Nach ihr verlangt Sozialstaatlichkeit eine "Ordnung größtmöglicher und gleichberechtigter Wohlfahrt des einzelnen, bei notwendiger Gerechtigkeit für alle". So Werner Maihofer. Dazu Kersting: "Hier ist wirklich alles Wünschenswerte versammelt, nur die Klarheit fehlt." Nein, es führt klarerweise kein Weg daran vorbei, "Rationierung" ist unumgänglich. Ein Zwang, der freilich kein Alibi liefert, den Kopf im übrigen in den Sand zu stecken oder ihn gar nicht erst zu gebrauchen. Wir lesen darum bei Kersting, mit Bedacht kursiv gesetzt: "Grundsätzlich geht Rationalisierung vor Rationierung." Das klingt gut. Das Beste wäre, die Ratio verriete uns zugleich, was genau sie gebietet. Ein frommer Wunsch. Denn es ist unsere Vernunft. Wie unsere Gerechtigkeit, wie unsere Moral. Wer sich auf das Doppelthema Gesundheit/Gerechtigkeit denkerisch einläßt, gerät folglich unweigerlich in Nöte.

Dennoch können wir den Maximalisten nicht das Feld überlassen, wo immer sie anzutreffen sind. Zum Beispiel auch bei den "Menschenrechtsfanatikern", die bereits "jede Abweichung vom zivilisatorischen Höchststand als Menschenrechtsverletzung brandmarken und dadurch das kostbare Menschenrechtskonzept verderben . . ." Das lastet Kersting speziell den Menschenrechtskatalogisierern der Vereinten Nationen an. Der World Health Organization wiederum wirft er vor, die Gesundheit zu definieren als "Zustand des vollkommenen biologischen, sozialen und psychischen Wohlbefindens". Auch das kann nur desaströs enden. Denn so wird der Mediziner letztlich in die "Rolle eines Gesundheit, Glück und Sinn spendenden Globaltherapeuten . . . gedrängt und die ganze Gesellschaft in ein Wartezimmer verwandelt". Der einzige Vorteil spendet wenig Trost: Wenn die Menschheit nur noch aus Patienten bestehe, gäbe es seitens der Ärzte wohl weniger betrügerische Abrechnungen. Und die optimale Statistik erwiese sich als manipulationsresistent.

In der Tat kümmert sich der Ordinarius für Philosophie auch um solche scheinbar banalen Dinge wie strafrechtsrelevante Aspekte der Gesundheitsvorsorge. Hier sieht er gleichermaßen "Markt- und Staatsversagen". Zu letzterem rechnet er die "bekannten Unredlichkeits-, Fahrlässigkeits-, Verschwendungs- und Überkonsumtionseffekte staatlicher Versorgungssysteme". Er läßt sich aber durch nichts und von keiner Seite entmutigen, plädiert vielmehr für ein "Mischmodell", das er "als sowohl ökonomisch als auch moralisch vorzugswürdig" empfiehlt. Maximalismen sind und bleiben Kersting ein Greuel. Hier speziell der "Versorgungsmaximalismus", der neben allen seinen sonstigen Übeln aus dem sonst doch mündigen Bürger nur noch einen "betreuten Bürger" macht mit einem "Verhaltens- und Erwartungsprofil", das für eine selbstbestimmte Lebensführung "wenig gedeihlich ist". Eine Lebensführung, zu der auch die "Bereitschaft" gehören muß, "die Kosten der eigenen Entscheidungen zu tragen".

Wohl wahr. Aber doch zu fordern nur, wenn der Staat seinerseits alles daransetzt, eine "anständige" gesundheitliche "Daseinsversorgung" zu gewährleisten. Dieses "anständig" buchstabiert Kersting nach Kräften durch. Er beläßt es nicht bei allgemeinen Appellen. Er sorgt sich auch um Details. Wie also sieht eine effektive Unterstützung Schwangerer aus, wie eine professionelle Hilfe bei der Entbindung? Aus den Höhen der Abstraktionen in die Niederungen alltäglicher praktischer Probleme herabzusteigen, es täte vielen gut.

WALTER GRASNICK

Wolfgang Kersting: "Kritik der Gleichheit". Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral. Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2002. 368 S., geb., 40.- .

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Freiheit statt Gleichheit fordert der Kieler Philosoph Wolfgang Kersting in seinen für dieses Buch zusammengestellten Texten, berichtet Wilfried Hinsch. Der "Freund scharfer Abgrenzungen und kräftiger Formulierungen" hole auch diesmal, so der wenig überraschte Rezensent, weit aus und kritisiere ausgiebig den Sozialstaat und dahinter stehende Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit. Vieles von Kerstings Behauptungen hat Hinsch wegen seiner "moralischen Klarsicht" und "sozialpolitischem Common Sense" überzeugt. Doch sieht der Rezensent anders als der Autor darin keinen Widerspruch zwischen "egalitären Konzepten" und Liberalismus. Abgesehen davon, gibt Hinsch zu bedenken, dass die Freiheit des Einzelnen an der realen Unfreiheit des Marktes scheitert, was die Überzeugung und Argumentation Kerstings doch recht fragwürdig erscheinen lasse, wie der Rezensent findet.

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