Anders über Transformation nachdenken - Eine Streitschrift Über Transformation wird zumeist mit großer Geste und noch größerer Betroffenheit gesprochen. Ob es um die Bekämpfung des Klimawandels, den Umbau von Staat und Wirtschaft oder die Frage nach der Beendigung von Kriegen geht: Von der Dringlichkeit wird auf die Möglichkeit und Zustimmungsfähigkeit geschlossen, oft mit mahnendem Blick. In Vergessenheit gerät dabei, dass alle Transformation in einer Welt stattfinden muss, die bereits da ist und mit ihren eigenen Mitteln darauf reagiert, unter anderem mit populistischen Gefährdungen der Demokratie. Armin Nassehi fragt in seiner deutlichen Intervention, was jenseits der großen Geste zu finden ist: eine Gesellschaft, die anders über Transformation nachdenken muss und am Ende von der Logik kleiner Schritte profitieren wird. Multiple Krisenerfahrung bedeutet: Viele Bedingungen unserer Lebensweise der letzten Jahrzehnte sind fragwürdig geworden, ihre Verletzlichkeit und ihre Voraussetzungen werden immer sichtbarer. Das erzeugt allerorts einen Ruf nach rascher, möglichst umfassender Transformation. Denn: Eine andere Welt sei möglich, wir müssten sie nur wollen. Aber dieser Triumph des Willens rechnet nicht mit dem Eigensinn, mit der inneren Komplexität und den Widerständen einer Gesellschaft, die eben kein ansprechbares Kollektiv ist. Und sie rechnet nicht mit der populistischen Reaktion auf Krisenerfahrungen. Dabei wird immer deutlicher: Man kann nicht gegen die Gesellschaft transformieren, sondern nur in ihr und mit ihr - und nur mit ihren eigenen Mitteln. "Kleine Schritte heißt nicht kleine Lösungen." . Armin Nassehis engagiertestes Buch . Eine Absage an die großen Gesten und Illusionen des Transformationsdiskurses . Warum gesellschaftliche Transformation nur in konkreten Schritten und nicht als disruptiver Umbau möglich ist . Von einem der renommiertesten Soziologen Deutschlands
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Gerald Wagner entdeckt im Buch des Soziologen Armin Nassehi, das dezidiert unakademisch gegen die "große Geste" im Kampf um die Gesellschaft und den Klimawandel anschreibt, am Ende doch eine nicht ganz kleine Geste des Autors selbst. Nassehi nämlich setzt auf die Produktiv- und Transformationskräfte von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, nur eben klimafreundlicher, stellt Wagner fest. Zuvor schreibt der Autor gut soziologisch und umso polemischer gegen den "radikalen Umbau" an, meint Wagner. Dennoch ist der Rezensent froh, dass sich hier mal ein Soziologe ernsthaft mit dem Klimawandel befasst.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2024Das Kollektiv namens Gesellschaft ist nun einmal illusorisch
Soziologische Aufklärung: Armin Nassehi führt die Gründe ins Feld, warum radikaler gesellschaftlicher Umbau eine Chimäre ist
Muss ein Buch, das die großen Gesten kritisiert, die kleinen Schritte loben? Ja. Muss es darum Enttäuschungen zumuten? Nein. Nicht, wenn diese kleinen Schritte womöglich weiterführen, als man es ihnen zunächst zugetraut hätte. Armin Nassehis "Kritik der großen Geste" will ein "anderes Nachdenken" lehren - über die Gesellschaft, den Kampf gegen den Klimawandel und die damit verbundene große Transformation dieser Gesellschaft.
Natürlich ist das ein soziologisch fundiertes Nachdenken, aber Nassehi hat hier ganz ausdrücklich kein akademisches Buch vorgelegt. Es kommt fast ganz ohne Zitate und Literaturverweise aus, stattdessen entfaltet sein Autor sein soziologisches Argument in Form eines engagierten Essays. Weit ausholend, manchmal etwas mäandernd in der Variation seines Arguments, stellenweise auch polemisch. Aber so hat der Leser Zeit, sich an den äußerst desillusionierenden Befund dieses Buches zu gewöhnen: Dass es aus strukturellen Gründen nichts werden kann mit der großen Geste, dem radikalen Umbau, der ganz schnellen und ganz gewaltigen Transformation der trägen Gesellschaft. Soll das also heißen, dass all diese Anstrengungen und Mahnungen und Appelle zur Mäßigung, zum Verzicht und Opfer für die Rettung des Planeten vergebens sind? Will Nassehi sagen, lassen wir es, das bringt alles nichts?
Nein, im Gegenteil, Nassehi schreibt zwar gegen die "Gesellschaftsvergessenheit" des Denkens in großen Gesten an, aber nicht im Geiste eines "alles vergebens", sondern als Bekenntnis zu einem trotzigen "Dennoch". Ihn ärgert, dass die Gesellschaft über sich selbst spricht, als gäbe es so etwas wie ein "Wir", ein Kollektiv, das sich adressieren lasse und zum kollektiven Handeln durch die Androhung von Katastrophen und Untergängen motivieren lasse.
Das ist natürlich auch der Ärger eines Soziologen, dessen Fach immer gelehrt hat, dass solche Steuerungsphantasien in der modernen Gesellschaft notwendig scheitern müssen. Die einschlägigen Begriffe dafür - am prominentesten jener der Komplexität - sind soziologisch auch alte Hüte. Das weiß Nassehi natürlich. Was ihn empört, ist eher der fast vormoderne, also vorsoziologische Rückfall der öffentlichen Diskurse auf den Standpunkt, es müsse doch angesichts der Krise die Selbstbesinnung auf das eine Gemeinsame gelingen, diesen archimedischen Punkt, von wo aus alle in die große Transformation einstimmen könnten.
Wer das behaupte, übersehe eben, dass sich die ungeheure Komplexität der Gesellschaft hinter ihrer ungeheuren Stabilität verbirgt, dem evolutionär erreichten Niveau des Bewährten und Gewöhnten. Gleichzeitig erlaube die Gesellschaft so ziemlich jede Sprecherposition - Moral- und Meinungsunternehmer, Kirchenleute, Intellektuelle, Moralisten, Politiker, Journalisten und Transformationsaktivisten -, die alle etwas gemeinsam haben: Wer sie einnimmt, glaubt für das Ganze sprechen zu können und vergisst auf sträfliche Weise, dass diese Position keinem zur Verfügung steht - auch nicht dem Soziologen, wie Nassehi selbstironisch anmerkt.
Doch irgendwie muss das, was der Soziologe Nassehi hier sagt, doch besser, überlegter, reflektierter sein als die Ansichten der von ihm Kritisierten mit dem "Geschäftsmodell der großen Geste und der zitierbaren Pose". Er muss die Sprecherpositionen also hierarchisieren. Das soziologische Sprechen muss die privilegierte Position sein, den anderen Sprechern Illusionen nachzuweisen. Nassehi spricht hier vom "Kairos", den es zu nutzen gelte, denn "wann, wenn nicht jetzt" sollte man sich die Struktur der Gesellschaft in ihrem Umgang mit der sichtbar gewordenen Krisenhaftigkeit genauer ansehen? Man könnte das auch als eine Mahnung an Nassehis eigene Disziplin lesen, denn bisher ist das Interesse der deutschen Soziologie zumindest am Klimawandel sehr bescheiden. Nassehi gehört neben Jens Beckert zu den ganz wenigen Vertretern seines Faches, der diesen Kairos nutzt. Dass er dabei mit der "Illusion des Gemeinsamen" aufräumt, ist weniger bemerkenswert als die Frage, die er an das politische System stellt: Ob die liberale Demokratie angesichts multipler Krisen überhaupt gerüstet ist, existenzielle Herausforderungen zu bewältigen. Nun ist diese Frage auch schon während der Corona-Krise gestellt worden und hat sich schon da mangels ernsthafter Alternativen als eine rhetorische Frage verraten. Sie wie Nassehi hier dennoch wieder aufzubringen, kann natürlich nur dazu dienen, die liberale Demokratie für die kommenden Herausforderungen besser aufzustellen.
Abgesehen davon, dass die Politik eigentlich nur lösbare Probleme erfindet, weil sie an anderen gar nicht interessiert sei, und politische Kommunikation gar nicht anders kann, mehr an Kausalität zu unterstellen, als sich tatsächlich voraussetzen lasse: Der größte Fehler demokratischer Politik sei ihre immanente Neigung, alle Konflikte als soziale Verteilungskonflikte zu bearbeiten. Klimakrise und Erderwärmung seien aber nicht das Ergebnis eines Verteilungskonfliktes und könnten auch nicht als solcher gelöst werden.
Nassehi sieht hier vielmehr einen Zielkonflikt, und zwar darum, auf welcher energetischen Basis die Industrie der Zukunft zu wirtschaften habe, um CO2-Neutralität zu erreichen. Dafür brauche es Innovationen, technologische Durchbrüche, mehr Leistungsfähigkeit des ökonomischen Systems - aber keinesfalls weniger. Nassehi will auch in diesen Innovationen nur evolutionäre, orts- und zeitgebundene Lösungen sehen. Aber es wären eben Lösungsperspektiven, die in der gesellschaftlichen Praxis längst aufscheinen würden.
So ganz verzichten auf die große Geste will Nassehi dann aber auch selbst nicht. Denn im Grund setzt sein "Programm der kleinen Schritte" ja doch wieder - mit Marx formuliert - auf die Entfesselung der Produktivkräfte, nur eben klimafreundlicher. Seine Forderung an die Politik, Staatstätigkeit in den Dienst ergebnisoffener Prozesse zu stellen und dann auch gleich noch die Schuldenbremse abzuschaffen, zielt in die gleiche Richtung. Nassehis Absage an die Möglichkeit gesellschaftlicher Steuerung wird also durch ein ausgeprägtes Vertrauen in die Transformationskräfte von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik kompensiert. Darum auch seine Warnung, dass Rezessionszeiten für Klimabelange die schlechtesten Zeiten sein dürften. Das ist allerdings keine so ganz andere Art, sondern eine durchaus vertraute Art, über gesellschaftliche Transformationen nachzudenken. Man kennt sie eigentlich schon lange als Liberalismus. GERALD WAGNER
Armin Nassehi: "Kritik der großen Geste". Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken.
Verlag C. H. Beck, München 2024.
224 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Soziologische Aufklärung: Armin Nassehi führt die Gründe ins Feld, warum radikaler gesellschaftlicher Umbau eine Chimäre ist
Muss ein Buch, das die großen Gesten kritisiert, die kleinen Schritte loben? Ja. Muss es darum Enttäuschungen zumuten? Nein. Nicht, wenn diese kleinen Schritte womöglich weiterführen, als man es ihnen zunächst zugetraut hätte. Armin Nassehis "Kritik der großen Geste" will ein "anderes Nachdenken" lehren - über die Gesellschaft, den Kampf gegen den Klimawandel und die damit verbundene große Transformation dieser Gesellschaft.
Natürlich ist das ein soziologisch fundiertes Nachdenken, aber Nassehi hat hier ganz ausdrücklich kein akademisches Buch vorgelegt. Es kommt fast ganz ohne Zitate und Literaturverweise aus, stattdessen entfaltet sein Autor sein soziologisches Argument in Form eines engagierten Essays. Weit ausholend, manchmal etwas mäandernd in der Variation seines Arguments, stellenweise auch polemisch. Aber so hat der Leser Zeit, sich an den äußerst desillusionierenden Befund dieses Buches zu gewöhnen: Dass es aus strukturellen Gründen nichts werden kann mit der großen Geste, dem radikalen Umbau, der ganz schnellen und ganz gewaltigen Transformation der trägen Gesellschaft. Soll das also heißen, dass all diese Anstrengungen und Mahnungen und Appelle zur Mäßigung, zum Verzicht und Opfer für die Rettung des Planeten vergebens sind? Will Nassehi sagen, lassen wir es, das bringt alles nichts?
Nein, im Gegenteil, Nassehi schreibt zwar gegen die "Gesellschaftsvergessenheit" des Denkens in großen Gesten an, aber nicht im Geiste eines "alles vergebens", sondern als Bekenntnis zu einem trotzigen "Dennoch". Ihn ärgert, dass die Gesellschaft über sich selbst spricht, als gäbe es so etwas wie ein "Wir", ein Kollektiv, das sich adressieren lasse und zum kollektiven Handeln durch die Androhung von Katastrophen und Untergängen motivieren lasse.
Das ist natürlich auch der Ärger eines Soziologen, dessen Fach immer gelehrt hat, dass solche Steuerungsphantasien in der modernen Gesellschaft notwendig scheitern müssen. Die einschlägigen Begriffe dafür - am prominentesten jener der Komplexität - sind soziologisch auch alte Hüte. Das weiß Nassehi natürlich. Was ihn empört, ist eher der fast vormoderne, also vorsoziologische Rückfall der öffentlichen Diskurse auf den Standpunkt, es müsse doch angesichts der Krise die Selbstbesinnung auf das eine Gemeinsame gelingen, diesen archimedischen Punkt, von wo aus alle in die große Transformation einstimmen könnten.
Wer das behaupte, übersehe eben, dass sich die ungeheure Komplexität der Gesellschaft hinter ihrer ungeheuren Stabilität verbirgt, dem evolutionär erreichten Niveau des Bewährten und Gewöhnten. Gleichzeitig erlaube die Gesellschaft so ziemlich jede Sprecherposition - Moral- und Meinungsunternehmer, Kirchenleute, Intellektuelle, Moralisten, Politiker, Journalisten und Transformationsaktivisten -, die alle etwas gemeinsam haben: Wer sie einnimmt, glaubt für das Ganze sprechen zu können und vergisst auf sträfliche Weise, dass diese Position keinem zur Verfügung steht - auch nicht dem Soziologen, wie Nassehi selbstironisch anmerkt.
Doch irgendwie muss das, was der Soziologe Nassehi hier sagt, doch besser, überlegter, reflektierter sein als die Ansichten der von ihm Kritisierten mit dem "Geschäftsmodell der großen Geste und der zitierbaren Pose". Er muss die Sprecherpositionen also hierarchisieren. Das soziologische Sprechen muss die privilegierte Position sein, den anderen Sprechern Illusionen nachzuweisen. Nassehi spricht hier vom "Kairos", den es zu nutzen gelte, denn "wann, wenn nicht jetzt" sollte man sich die Struktur der Gesellschaft in ihrem Umgang mit der sichtbar gewordenen Krisenhaftigkeit genauer ansehen? Man könnte das auch als eine Mahnung an Nassehis eigene Disziplin lesen, denn bisher ist das Interesse der deutschen Soziologie zumindest am Klimawandel sehr bescheiden. Nassehi gehört neben Jens Beckert zu den ganz wenigen Vertretern seines Faches, der diesen Kairos nutzt. Dass er dabei mit der "Illusion des Gemeinsamen" aufräumt, ist weniger bemerkenswert als die Frage, die er an das politische System stellt: Ob die liberale Demokratie angesichts multipler Krisen überhaupt gerüstet ist, existenzielle Herausforderungen zu bewältigen. Nun ist diese Frage auch schon während der Corona-Krise gestellt worden und hat sich schon da mangels ernsthafter Alternativen als eine rhetorische Frage verraten. Sie wie Nassehi hier dennoch wieder aufzubringen, kann natürlich nur dazu dienen, die liberale Demokratie für die kommenden Herausforderungen besser aufzustellen.
Abgesehen davon, dass die Politik eigentlich nur lösbare Probleme erfindet, weil sie an anderen gar nicht interessiert sei, und politische Kommunikation gar nicht anders kann, mehr an Kausalität zu unterstellen, als sich tatsächlich voraussetzen lasse: Der größte Fehler demokratischer Politik sei ihre immanente Neigung, alle Konflikte als soziale Verteilungskonflikte zu bearbeiten. Klimakrise und Erderwärmung seien aber nicht das Ergebnis eines Verteilungskonfliktes und könnten auch nicht als solcher gelöst werden.
Nassehi sieht hier vielmehr einen Zielkonflikt, und zwar darum, auf welcher energetischen Basis die Industrie der Zukunft zu wirtschaften habe, um CO2-Neutralität zu erreichen. Dafür brauche es Innovationen, technologische Durchbrüche, mehr Leistungsfähigkeit des ökonomischen Systems - aber keinesfalls weniger. Nassehi will auch in diesen Innovationen nur evolutionäre, orts- und zeitgebundene Lösungen sehen. Aber es wären eben Lösungsperspektiven, die in der gesellschaftlichen Praxis längst aufscheinen würden.
So ganz verzichten auf die große Geste will Nassehi dann aber auch selbst nicht. Denn im Grund setzt sein "Programm der kleinen Schritte" ja doch wieder - mit Marx formuliert - auf die Entfesselung der Produktivkräfte, nur eben klimafreundlicher. Seine Forderung an die Politik, Staatstätigkeit in den Dienst ergebnisoffener Prozesse zu stellen und dann auch gleich noch die Schuldenbremse abzuschaffen, zielt in die gleiche Richtung. Nassehis Absage an die Möglichkeit gesellschaftlicher Steuerung wird also durch ein ausgeprägtes Vertrauen in die Transformationskräfte von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik kompensiert. Darum auch seine Warnung, dass Rezessionszeiten für Klimabelange die schlechtesten Zeiten sein dürften. Das ist allerdings keine so ganz andere Art, sondern eine durchaus vertraute Art, über gesellschaftliche Transformationen nachzudenken. Man kennt sie eigentlich schon lange als Liberalismus. GERALD WAGNER
Armin Nassehi: "Kritik der großen Geste". Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken.
Verlag C. H. Beck, München 2024.
224 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.