Zwei Drittel aller Westeuropäer halten sich für religiös. Aber diese Religiosität ist mehrheitlich nicht mehr die christliche. Der theistische Gottesbegriff, der Gott als eine den Menschen individuell ansprechende Person fasst, hat seine Akzeptanz eingebüßt. Neue Glaubensinhalte, Bruchstücke für neue Weltbilder werden sichtbar - Reinkarnationsglaube, Evolutionismus, Dänikens Präastronautik und Parapsychologie seien hier nur als Beispiel genannt. Es sind "religionsförmige Neomythen", die die Weltbilder der Moderne kennzeichnen. Sie werden in diesem großangelegten Werk einer umfassenden Gesamtschau unterzogen. Der erste Band behandelt den Neomythos von seinen Anfängen in der Aufklärung und während des Aufstiegs der wissenschaftsfundierten Technik bis hin zu den neomythischen Gedankenspielen der Nationalsozialisten. Hauser nimmt dabei die gesamte Kultur- und Geistesgeschichte des ausgehenden 18., des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick (Stichworte u.a.: Mesmerismus, Spiritismus, Populärdarwinismus, Blavatskys Theosophie, katastrophisch ausgerichtete Kosmologien, völkische Phantastik, Ariosophie). Spätestens die Nationalsozialisten sind ein Fanal dafür, dass es einen Neomythos gibt, der das Humanum global zu gefährden vermag.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2004Göttermenschen wollen wir sein
Linus Hauser enttarnt die Spinnereien als neomythische Vernunft
Daß die Aufklärung, dieser große Prozeß der Entzauberung und Intellektualisierung, die Welt des Mythos nicht einfach aufgelöst hat, gehört zu den bleibenden Einsichten, die der "Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu verdanken sind. Eine große Schwäche dieses Buches war allerdings, daß es den Mythos in der Moderne überall und damit zugleich nirgends sah: im Positivismus nicht weniger als in den antipositivistischen Strömungen; im asketischen Wissenschaftsbetrieb nicht weniger als im kulturindustriellen Amüsement; in den rationalen Wahlhandlungen des Homo oeconomicus nicht weniger als in der kollektiven Paranoia des Antisemitismus. Horkheimer und Adorno waren virtuos genug, um, wenn es darauf ankam, über den Schatten ihrer eigenen Vorentscheidungen zu springen. Was sie aber nicht anzubieten vermochten, war eine Methode; und so ist es denn auch nicht verwunderlich, wenn die Kritische Theorie in der zweiten und dritten Generation sich von den Perspektiven der "Dialektik der Aufklärung" abgekehrt und es vorgezogen hat, sich der Aufgabe einer Rettung des Projekts der Moderne zu widmen, mit der erwartbaren Folge, daß dessen Dialektik gar nicht mehr in den Blick geriet.
Es nimmt von vornherein für das Unternehmen von Linus Hauser ein, daß es vorschnelle Identifizierungen und Totalisierungen vermeidet und auf klare Differenzierung setzt. Es unterscheidet zwischen Mythos und Religion als verschiedenen Formen des Bewußtseins der radikalen Endlichkeit des Menschen einerseits und der Wissenschaft als eines ebendiese Endlichkeit negierenden Bewußtseins andererseits, und schafft sich damit die Möglichkeit, das Gegeneinander beider Grundeinstellungen zu denken. Zugleich stellt es aber auch eine Beziehung zwischen beiden her, indem es die Konzepte des Neomythos beziehungsweise der Religiosität ohne Religion einführt: Konzepte, die als eine Art Hineinnahme des wissenschaftlichen Standpunkts in das Feld des mythischen und religiösen Denkens verstanden werden können.
Die Verfestigung und Ausbreitung des wissenschaftlichen "Könnens-Bewußtseins" (Christian Meier), so läßt sich der Leitgedanke des Buches formulieren, führt im Bereich der Religiosität zu einer Auflösung theo- und kosmozentrischer Weltbilder und zur Idee der Machbarkeit auch von Religionen und Gottesbildern sowie darüber hinaus der Machbarkeit von Gott beziehungsweise des metaphysisch transzendenten Göttlichen selbst. Einmal etabliert, kann dieses "theopoietische" Grundmuster zur Basis einer weiteren Radikalisierung des Könnens-Bewußtseins werden, in deren Folge sich der Mensch selbst zum "Neugott" macht, zu einem personalen Schöpfergott, der sein eigenes Universum schafft und in ihm einen transzendenten Status erhält.
Der vorliegende Band ist der erste Teil eines auf drei Bände angelegten Projekts, das die verschiedenen Stadien dieser Entwicklung vom menschenerschaffenden über den menschengeschaffenen bis hin zum menschlichen Gott nachzeichnen soll. Er enthält die begriffliche Grundlegung, eine theologie- und vor allem philosophiegeschichtliche Einund Hinführung, und einen ersten empirischen Hauptteil. In ihm verfolgt Hauser anhand einiger religionsförmiger Neomythen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, wie der Mensch in ein Wesen verwandelt wird, in dem die unbewußten Vorstellungen eines sich selbst nicht bewußten "Evolutionsgottes" zu sich selbst kommen. An diesen Teil, in dem es unter anderem um Mesmerismus und Spiritismus, Theosophie und Ariosophie, Astrologie und Welteislehre sowie deren Rezeption im Nationalsozialismus geht, sollen in den folgenden Bänden weitere Untersuchungen anschließen, die den Umschlag von "Theopoiesis" in "Autotheosis" plausibel machen sollen, etwa am Beispiel von Scientology.
Die wissenschaftliche Fachkritik wird erweisen, ob der kategoriale Rahmen tragfähig ist. Schon jetzt aber läßt sich sagen, daß Hausers Buch ein ganzes Forschungsfeld wenn nicht eröffnet, so doch besser erschließbar gemacht hat. Es ermöglicht, Erscheinungen wie den Spiritismus nicht mehr als individuelle Spinnereien oder unbegreifliche Rückfälle in archaisches Denken zu deuten, sondern als "empiristische" Religiosität zum Wissenschaftsglauben der Moderne in Beziehung zu setzen und so die ungewöhnliche Anziehungskraft zu verstehen, die dieser Neomythos ausgerechnet auf prominente Naturwissenschaftler ausgeübt hat: auf den Entdecker des Schwermetalls Thallium, Sir William Crooke, auf den Mediziner und Nobelpreisträger Charles Richet oder auf den Herausgeber des Scientific American, John Fairbanks, der 1856 bei einem parapsychologischen Selbstversuch ums Leben kam. Zu den Hauptprotagonisten der spiritistischen Bewegung in England zählte immerhin auch ein Erzpositivist wie der Erfinder von Sherlock Holmes, Sir Arthur Conan Doyle.
Darüber hinaus macht das Buch erkennbar, weshalb selbst die Zugehörigkeit zu einer vergleichsweise so rationalen Weltanschauung wie dem Sozialismus nicht dagegen immunisiert, an die Kommunikation mit den Toten zu glauben - der Fall Robert Owen. Und es bietet Gründe an, um auch politisch so fatale Erscheinungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wie die "völkische Weltanschauung" nicht länger schlicht als Ausdruck einer antimodernen beziehungsweise "irrationalistischen" Haltung zu denken und einem lunatic fringe zuzuweisen, für den als einzige Wissenschaft die Psychiatrie zuständig wäre. Die völkischen und rassistischen Theoreme sind nach Hauser (Neo-)Mytheme, die durch zahlreiche und vielfältige Verbindungsstränge mit dem wissenschaftlich respektablen Evolutionismus der Haeckel und Ostwald zusammenhängen. Auch in ihnen artikuliert sich kein überständiges, von heutiger Aufgeklärtheit und Liberalität überwundenes Denken, sondern etwas durchaus nicht Abgeschlossenes, Fortwirkendes, mit dem so lange zu rechnen ist, wie die Vermehrung des technisch verwertbaren Wissens nicht zugleich einhergeht mit der Produktion eines über dieses hinausgehenden und es legitimierenden Sinnes - also wohl ad infinitum. Die selbstgemachte bricolage des modernen Religiositätsbastlers hat ihre Wurzel nicht so sehr in einem unzeitgemäßen, auf Reaktion oder Regression sinnenden Neubarbarentum als vielmehr in dem allzu zeitgemäßen Könnens-Bewußtsein der Moderne, wie es aus dem ins Gigantische gesteigerten Auflösungs- und Rekombinationspotential der experimentellen Wissenschaft fließt. Den Blick für diese Bezüge geschärft zu haben, ist ein Verdienst, das Hauser nicht hoch genug anzurechnen ist.
Wenn es an diesem ungemein reichhaltigen und anregenden Buch dennoch etwas auszusetzen gibt, dann betrifft dies vor allem Fragen der Gewichtung. Gerade um der bequemen Neigung zur Distanzierung und Marginalisierung der Neomythen zu begegnen, wäre es wichtiger gewesen, dem philosophischen und literarischen Mainstream mehr Aufmerksamkeit und Raum zu widmen als etwa der insgesamt doch reichlich obskuren Ariosophie. Eine für das späte neunzehnte Jahrhundert so zentrale Figur wie Eduard von Hartmann kommt zwar vor, wird jedoch viel zu knapp abgehandelt, besonders wenn man sich dessen Einfluß auf so bekannte Publizisten wie Arthur Drews, Albert Kalthoff oder Arthur Bonus vor Augen führt, die kurz nach der Jahrhundertwende ein Massenpublikum mit ihren Umdeutungen der Christus-Mythe faszinierten.
Zu kurz auch kommt die neomythische Verlagsproduktion eines Eugen Diederichs, die über Ernst Krieck auf ihre Weise in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus hineinreicht, oder der Einfluß Bayreuths, dessen Gründer-Stifter von keinem Geringeren als Ludwig II. von Bayern als Gottmensch apostrophiert wurde. Beschwörungen des Gottmenschentums begegnet man auf Schritt und Tritt in den Hervorbringungen der Berliner Boheme, namentlich in ihrer Friedrichshagener Variante, von Heinrich Hart über Johannes Schlaf und Richard Dehmel bis hin zu Arthur Moeller van den Bruck, dem Beethoven als "unser Bekenntnis der Menschgöttlichkeit" galt. Man kann sie, jeweils auf andere Weise, ebenso im George-Kreis finden wie bei den Münchner Kosmikern und endlich auch in der Trivialliteratur, die zumal in der Sparte des Abenteuerromans (Karl May) reiches Anschauungsmaterial für jenen Erlösungsweg enthält, der in Max Webers Religionssoziologie als "Selbstvervollkommnung" figuriert. Daß jeder in sich den "inneren Christus" (Bruno Wille) ausbilden und damit "Gottmenschheit" (Kalthoff) werden kann, das war den Bewunderern von Kara ben Nemsi Effendi eine ebenso selbstverständliche Tatsache wie den Lesern von Houston Stewart Chamberlains "Mensch und Gott". So neugierig man auf den zweiten und dritten Band ist: Diesen ersten Band hat Linus Hauser vielleicht doch eine Spur zu schnell abgeschlossen.
STEFAN BREUER.
Linus Hauser: "Kritik der neomythischen Vernunft". Band I: Menschen als Götter der Erde. 1800-1945. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2004. 513 S., geb., 98,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Linus Hauser enttarnt die Spinnereien als neomythische Vernunft
Daß die Aufklärung, dieser große Prozeß der Entzauberung und Intellektualisierung, die Welt des Mythos nicht einfach aufgelöst hat, gehört zu den bleibenden Einsichten, die der "Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu verdanken sind. Eine große Schwäche dieses Buches war allerdings, daß es den Mythos in der Moderne überall und damit zugleich nirgends sah: im Positivismus nicht weniger als in den antipositivistischen Strömungen; im asketischen Wissenschaftsbetrieb nicht weniger als im kulturindustriellen Amüsement; in den rationalen Wahlhandlungen des Homo oeconomicus nicht weniger als in der kollektiven Paranoia des Antisemitismus. Horkheimer und Adorno waren virtuos genug, um, wenn es darauf ankam, über den Schatten ihrer eigenen Vorentscheidungen zu springen. Was sie aber nicht anzubieten vermochten, war eine Methode; und so ist es denn auch nicht verwunderlich, wenn die Kritische Theorie in der zweiten und dritten Generation sich von den Perspektiven der "Dialektik der Aufklärung" abgekehrt und es vorgezogen hat, sich der Aufgabe einer Rettung des Projekts der Moderne zu widmen, mit der erwartbaren Folge, daß dessen Dialektik gar nicht mehr in den Blick geriet.
Es nimmt von vornherein für das Unternehmen von Linus Hauser ein, daß es vorschnelle Identifizierungen und Totalisierungen vermeidet und auf klare Differenzierung setzt. Es unterscheidet zwischen Mythos und Religion als verschiedenen Formen des Bewußtseins der radikalen Endlichkeit des Menschen einerseits und der Wissenschaft als eines ebendiese Endlichkeit negierenden Bewußtseins andererseits, und schafft sich damit die Möglichkeit, das Gegeneinander beider Grundeinstellungen zu denken. Zugleich stellt es aber auch eine Beziehung zwischen beiden her, indem es die Konzepte des Neomythos beziehungsweise der Religiosität ohne Religion einführt: Konzepte, die als eine Art Hineinnahme des wissenschaftlichen Standpunkts in das Feld des mythischen und religiösen Denkens verstanden werden können.
Die Verfestigung und Ausbreitung des wissenschaftlichen "Könnens-Bewußtseins" (Christian Meier), so läßt sich der Leitgedanke des Buches formulieren, führt im Bereich der Religiosität zu einer Auflösung theo- und kosmozentrischer Weltbilder und zur Idee der Machbarkeit auch von Religionen und Gottesbildern sowie darüber hinaus der Machbarkeit von Gott beziehungsweise des metaphysisch transzendenten Göttlichen selbst. Einmal etabliert, kann dieses "theopoietische" Grundmuster zur Basis einer weiteren Radikalisierung des Könnens-Bewußtseins werden, in deren Folge sich der Mensch selbst zum "Neugott" macht, zu einem personalen Schöpfergott, der sein eigenes Universum schafft und in ihm einen transzendenten Status erhält.
Der vorliegende Band ist der erste Teil eines auf drei Bände angelegten Projekts, das die verschiedenen Stadien dieser Entwicklung vom menschenerschaffenden über den menschengeschaffenen bis hin zum menschlichen Gott nachzeichnen soll. Er enthält die begriffliche Grundlegung, eine theologie- und vor allem philosophiegeschichtliche Einund Hinführung, und einen ersten empirischen Hauptteil. In ihm verfolgt Hauser anhand einiger religionsförmiger Neomythen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, wie der Mensch in ein Wesen verwandelt wird, in dem die unbewußten Vorstellungen eines sich selbst nicht bewußten "Evolutionsgottes" zu sich selbst kommen. An diesen Teil, in dem es unter anderem um Mesmerismus und Spiritismus, Theosophie und Ariosophie, Astrologie und Welteislehre sowie deren Rezeption im Nationalsozialismus geht, sollen in den folgenden Bänden weitere Untersuchungen anschließen, die den Umschlag von "Theopoiesis" in "Autotheosis" plausibel machen sollen, etwa am Beispiel von Scientology.
Die wissenschaftliche Fachkritik wird erweisen, ob der kategoriale Rahmen tragfähig ist. Schon jetzt aber läßt sich sagen, daß Hausers Buch ein ganzes Forschungsfeld wenn nicht eröffnet, so doch besser erschließbar gemacht hat. Es ermöglicht, Erscheinungen wie den Spiritismus nicht mehr als individuelle Spinnereien oder unbegreifliche Rückfälle in archaisches Denken zu deuten, sondern als "empiristische" Religiosität zum Wissenschaftsglauben der Moderne in Beziehung zu setzen und so die ungewöhnliche Anziehungskraft zu verstehen, die dieser Neomythos ausgerechnet auf prominente Naturwissenschaftler ausgeübt hat: auf den Entdecker des Schwermetalls Thallium, Sir William Crooke, auf den Mediziner und Nobelpreisträger Charles Richet oder auf den Herausgeber des Scientific American, John Fairbanks, der 1856 bei einem parapsychologischen Selbstversuch ums Leben kam. Zu den Hauptprotagonisten der spiritistischen Bewegung in England zählte immerhin auch ein Erzpositivist wie der Erfinder von Sherlock Holmes, Sir Arthur Conan Doyle.
Darüber hinaus macht das Buch erkennbar, weshalb selbst die Zugehörigkeit zu einer vergleichsweise so rationalen Weltanschauung wie dem Sozialismus nicht dagegen immunisiert, an die Kommunikation mit den Toten zu glauben - der Fall Robert Owen. Und es bietet Gründe an, um auch politisch so fatale Erscheinungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wie die "völkische Weltanschauung" nicht länger schlicht als Ausdruck einer antimodernen beziehungsweise "irrationalistischen" Haltung zu denken und einem lunatic fringe zuzuweisen, für den als einzige Wissenschaft die Psychiatrie zuständig wäre. Die völkischen und rassistischen Theoreme sind nach Hauser (Neo-)Mytheme, die durch zahlreiche und vielfältige Verbindungsstränge mit dem wissenschaftlich respektablen Evolutionismus der Haeckel und Ostwald zusammenhängen. Auch in ihnen artikuliert sich kein überständiges, von heutiger Aufgeklärtheit und Liberalität überwundenes Denken, sondern etwas durchaus nicht Abgeschlossenes, Fortwirkendes, mit dem so lange zu rechnen ist, wie die Vermehrung des technisch verwertbaren Wissens nicht zugleich einhergeht mit der Produktion eines über dieses hinausgehenden und es legitimierenden Sinnes - also wohl ad infinitum. Die selbstgemachte bricolage des modernen Religiositätsbastlers hat ihre Wurzel nicht so sehr in einem unzeitgemäßen, auf Reaktion oder Regression sinnenden Neubarbarentum als vielmehr in dem allzu zeitgemäßen Könnens-Bewußtsein der Moderne, wie es aus dem ins Gigantische gesteigerten Auflösungs- und Rekombinationspotential der experimentellen Wissenschaft fließt. Den Blick für diese Bezüge geschärft zu haben, ist ein Verdienst, das Hauser nicht hoch genug anzurechnen ist.
Wenn es an diesem ungemein reichhaltigen und anregenden Buch dennoch etwas auszusetzen gibt, dann betrifft dies vor allem Fragen der Gewichtung. Gerade um der bequemen Neigung zur Distanzierung und Marginalisierung der Neomythen zu begegnen, wäre es wichtiger gewesen, dem philosophischen und literarischen Mainstream mehr Aufmerksamkeit und Raum zu widmen als etwa der insgesamt doch reichlich obskuren Ariosophie. Eine für das späte neunzehnte Jahrhundert so zentrale Figur wie Eduard von Hartmann kommt zwar vor, wird jedoch viel zu knapp abgehandelt, besonders wenn man sich dessen Einfluß auf so bekannte Publizisten wie Arthur Drews, Albert Kalthoff oder Arthur Bonus vor Augen führt, die kurz nach der Jahrhundertwende ein Massenpublikum mit ihren Umdeutungen der Christus-Mythe faszinierten.
Zu kurz auch kommt die neomythische Verlagsproduktion eines Eugen Diederichs, die über Ernst Krieck auf ihre Weise in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus hineinreicht, oder der Einfluß Bayreuths, dessen Gründer-Stifter von keinem Geringeren als Ludwig II. von Bayern als Gottmensch apostrophiert wurde. Beschwörungen des Gottmenschentums begegnet man auf Schritt und Tritt in den Hervorbringungen der Berliner Boheme, namentlich in ihrer Friedrichshagener Variante, von Heinrich Hart über Johannes Schlaf und Richard Dehmel bis hin zu Arthur Moeller van den Bruck, dem Beethoven als "unser Bekenntnis der Menschgöttlichkeit" galt. Man kann sie, jeweils auf andere Weise, ebenso im George-Kreis finden wie bei den Münchner Kosmikern und endlich auch in der Trivialliteratur, die zumal in der Sparte des Abenteuerromans (Karl May) reiches Anschauungsmaterial für jenen Erlösungsweg enthält, der in Max Webers Religionssoziologie als "Selbstvervollkommnung" figuriert. Daß jeder in sich den "inneren Christus" (Bruno Wille) ausbilden und damit "Gottmenschheit" (Kalthoff) werden kann, das war den Bewunderern von Kara ben Nemsi Effendi eine ebenso selbstverständliche Tatsache wie den Lesern von Houston Stewart Chamberlains "Mensch und Gott". So neugierig man auf den zweiten und dritten Band ist: Diesen ersten Band hat Linus Hauser vielleicht doch eine Spur zu schnell abgeschlossen.
STEFAN BREUER.
Linus Hauser: "Kritik der neomythischen Vernunft". Band I: Menschen als Götter der Erde. 1800-1945. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2004. 513 S., geb., 98,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dieser erste von drei geplanten Bänden, in denen Linus Hauser die "Entwicklung vom menschenerschaffenden über den menschengeschaffenen bis hin zum menschlichen Gott" zu untersuchen und darzustellen beabsichtigt, widme sich vor allem der Ausbildung eines begrifflichen Rahmens und einer philosophie- und religionsgeschichtlichen Fundierung, berichtet Stefan Breuer in seiner recht akademischen Rezension. Der Leitfaden des Buches sei, dass die im Zuge der Aufklärung und des Erfolges der Naturwissenschaft raumgreifende Idee der "Machbarkeit" auf die Religiosität übergreife und damit zur "Idee der Machbarkeit von Religionen und Gottesbildern" und schließlich von Gott führe, so Breuer, der Hausers Unternehmen im Umfeld der "Dialektik der Aufklärung" verortet. Anhand seines Konzeptes der "Neomythen", das "eine Art Hineinnahme des wissenschaftlichen Standpunktes in das Feld des mythischen und religiösen Denkens" bezeichnet, analysiere der Autor unter anderem den Mesmerismus und Spiritismus des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Hausers Konzeption erschließe dergleichen Phänomene - wie auch die "völkischen und rassistischen Theoreme" des Nationalsozialismus - nicht länger als bloßen "Rückfall in archaisches Denken", sondern als "'empiristische' Religiosität", die mit dem modernen Wissenschaftsglauben verbunden sei, würdigt Breuer. Als einziges Manko dieses "ungemein reichhaltigen und anregenden" Buches kritisiert der Rezensent eine unglückliche Gewichtung der empirischen Untersuchungen, die dem "philosophischen und literarischen Mainstream" der in den Blick genommenen Zeit zu wenig Raum gewähre.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH