Produktdetails
  • Verlag: Suhrkamp
  • ISBN-13: 9783518005132
  • ISBN-10: 3518005138
  • Artikelnr.: 24387316
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2009

Das Sein ist nicht im Angebot

Wolfgang Fritz Haugs Kritik der Warenästhetik wurde zum Kultbuch der Achtundsechziger. Nun hat es der Autor bis zur Gegenwart fortgeschrieben. Ums Ganze geht es weiterhin. Man lernt: Die Krise ist immer auch eine Frage der Krawatte.

Im Jahr 1970 wurden in Deutschland die Herrenkrawatten breiter und bunter. Sie wurden das natürlich nicht von sich aus, sondern weil die Branche mit neuen Modellen den Absatz ankurbeln wollte. Oder in den Worten von Wolfgang Fritz Haugs kurz darauf erschienener "Kritik der Warenästhetik", die nun überarbeitet und in einem zweiten Teil bis zur Gegenwart fortgeschrieben vorliegt: "Die in Gebrauch befindlichen Krawattenmassen, der Krawattenreichtum der Gesellschaft sind die Schranke und der Alptraum des einschlägig engagierten Kapitals. Jetzt erhalten seine Erscheinungsschneider den Auftrag, ein neues Erscheinungsbild der Krawatte zu entwerfen, um zu versuchen, mit der neuen Mode eine neue ,Notwendigkeit' zu setzen."

Womit auf eine wenig pompöse Weise eine ziemlich bescheidene Einsicht formuliert war. Und weil die Kleiderindustrie neue Krawatten nicht an den Mann bringt, indem sie potentiellen Kunden von ihren Alpträumen erzählt, wurde damals auf ganzer Breite heftig geworben. Die Ende der sechziger Jahre gegen Umsatzrückgänge kämpfende Konfektionsbranche half sich mit Werbung für eine Männermode mit jugendlichem Touch aus der Klemme.

Und solche Werbung hatte Haug mit seiner "Kritik" nicht zuletzt im Blick. Eine raffinierte Kritik sollte es sein und ein "Beitrag zur Sozioanalyse des Schicksals der Sinnlichkeit und der Entwicklung der Bedürfnisse im Kapitalismus". Nicht eine bloß an der Oberfläche sich bewegende Ablehnung von Konsumismus und Werbemanipulation, sondern die gut kritisch-theoretische Demonstration kapitalistischer Widersprüchlichkeiten aus dem Kern der Sache selbst.

Und an den Krawatten kann man ganz gut sehen, was dabei herauskam: Die ästhetische Innovation wurde eines ökonomischen Antriebs überführt, der den Warenfluss in Gang hält, indem er neue Selbstbilder und Bedürfnisse der Konsumenten kreiert - zunehmend abgekoppelt von soliden Gebrauchswerten und in steigendem Maße orientiert an ästhetisch inszenierten Anpreisungen.

Kritik sollte da schon drinstecken, oder in diesem Fall etwas deutlicher: "Die natürlichen Charaktere ganzer Generationen von Männern veralteten mit der verdrängten Warengeneration." Das war für sich genommen zwar vielleicht kein besonders trauriger Umstand, zeigte aber, worauf es einem kritischen Theoretiker ankommen musste, nämlich "den Irrationalismus dieser Gesellschaft noch in den kleinsten Dingen" aufzuweisen. Mode ist nicht vernünftig, und natürliche Charaktere sollte man offenbar erst wegschmeißen, wenn sie aufgetragen waren; was immer das auch bedeutete.

Fast ein wenig gerührt liest man im ersten Teil dieser überarbeiteten Ausgabe. Wie neu muteten damals noch Züge der Konsumkultur und des Marketing an, die längst selbstverständlich wurden. Und wie gut gelang es Haug offenbar, mit ihrer Beschreibung bei seinen zahlreichen Lesern einen Schauer angesichts solch unnatürlicher Veranstaltungen des Kapitals hervorzurufen.

Für den neu geschriebenen und heutigen Verhältnissen gewidmeten zweiten Teil fällt dieser Reiz des Rückblicks natürlich weg. Und kassiert wird auch die seinerzeit geäußerte schlichte Überzeugung, von der spätkapitalistischen Gesellschaft seien nur noch Fortschritte auf dem Weg zur Korruption der Menschheit zu erwarten. So einfach oder in Haugs Worten "undialektisch" lasse sich das Urteil nun doch nicht fällen.

An den grundlegenden Strategien und Verwertungsinteressen kann sich allerdings im Übergang zum "transnationalen High-Tech-Kapitalismus" nichts geändert haben. Bloß wird am Warenschein nun mit perfektionierten Techniken, neuen (virtuellen) Zirkulationsmedien und der Kreation ästhetisch wie absatztechnisch durchkomponierter Lebensstilanmutungen gearbeitet. Diesen Stand der alles durchwaltenden Marketingtechniken vor Augen zu führen ist bei Haug weiterhin eine Sache der gekonnten Zusammenstellung einschlägiger Beschreibungen. Wobei übrigens, halten wir das im Vorübergehen fest, Artikel aus dem Wirtschaftsteil wie auch dem Feuilleton dieser Zeitung einen Ehrenplatz erhalten.

Der Effekt soll sich in der Massierung einstellen, nämlich die anthropologische, nachgerade gattungsverändernde Macht des Kapitals beziehungsweise der Werbeindustrie vor Augen zu führen. Die wird man, sofern einige tief verankerte Züge dieser Gattung im Bild bleiben, auch gar nicht in Abrede stellen wollen. Aber wie sieht es dann nun mit der Kritik an den nicht nur universal, sondern auch ziemlich selbstreflexiv gewordenen Werbebotschaften aus?

Dass sie Schein erzeugen, wissen ohnehin alle. Dass es den von diesem Schein animierten Konsumenten aber doch eigentlich ums Sein gehe, ist, selbst wenn es immer stimmte, kein Einwand. Das Sein ist nie im Angebot. Man mag das "ontologisches Defizit" der Warenästhetik nennen. Aber so gesehen, bestehen wir aus ontologischen Defiziten. Und der Hinweis, dass unsere wahre Wirklichkeit darin bestünde, "mit aggregierter Handlungsfähigkeit unsere gesellschaftlichen Daseinsformen im Einklang mit den Naturbedingungen unseren Bedürfnissen gemäß zu veranstalten", muss als Rückfall in eine eher undialektische Geste verbucht werden.

In kritischer Absicht gälte es wohl, etwas kleinere, aber dafür greifbare Brötchen zu backen: etwa auf die realen Produktionsverhältnisse zu zielen, die hinter Markeninszenierungen stecken, auf Effekte einer weitgehend konsumkulturell geprägten Sozialisierung oder allgemeiner auf das Übergreifen der Marktlogik auf Bereiche, die man als Gegengewichte sehen möchte. Alle diese Motive kommen bei Haug auch vor, aber eher im Vorbeigehen.

Abgesehen von den Rückfällen - mit Marx-Zitat oder ohne -, bleibt es dabei, dass der kritische Funke aus den Beschreibungen selbst springen muss. Wenn er es aber nicht tut, kann ihn auch kein Argument mehr entfachen. Woran sich zeigt, es geht immer noch und erst recht ums Ganze. So entschieden, dass an der nächsten Krawattenmode nun zumindest kein Anstoß mehr genommen werden kann.

HELMUT MAYER

Wolfgang Fritz Haug: "Kritik der Warenästhetik". Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 350 S., br., 14,- [Euro].

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