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Wir alle sind Kritiker. Ob im Kino, im Restaurant oder beim Fußball, wir wissen sofort genau, was gut war und was in die Hose gegangen ist. Und wir machen unser Urteil auch gleich in allen möglichen Medien öffentlich: Daumen rauf, Daumen runter. Reicht das? A. O. Scott, in der "New York Times" für die Filmkritik verantwortlich, hat da so seine Zweifel. Er plädiert dafür, die Kritik als eine Kunst zu betrachten. Nicht der spontane Reflex zählt, sondern die fundierte Kenntnis, dazu das genaue Argument, das zu einem begründeten Urteil führt. Langweilig? Überhaupt nicht. Das feine Urteil als hohe…mehr

Produktbeschreibung
Wir alle sind Kritiker. Ob im Kino, im Restaurant oder beim Fußball, wir wissen sofort genau, was gut war und was in die Hose gegangen ist. Und wir machen unser Urteil auch gleich in allen möglichen Medien öffentlich: Daumen rauf, Daumen runter. Reicht das? A. O. Scott, in der "New York Times" für die Filmkritik verantwortlich, hat da so seine Zweifel. Er plädiert dafür, die Kritik als eine Kunst zu betrachten. Nicht der spontane Reflex zählt, sondern die fundierte Kenntnis, dazu das genaue Argument, das zu einem begründeten Urteil führt. Langweilig? Überhaupt nicht. Das feine Urteil als hohe Kunst betrieben macht unsere Gespräche interessanter, egal, ob es um Romane oder um Rotwein geht.
Autorenporträt
Anthony O. Scott, Jahrgang 1966, US-amerikanischer Filmkritiker und Journalist. Seit 2004 leitender Filmkritiker bei der New York Times und Professor für Filmkritik an der Wesleyan University. A.O. Scott lebt in Brooklyn, New York. Bei Hanser erschien: Kritik üben. Die Kunst des feinen Urteils (2017).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2017

Der Zwilling der Kunst
Feiner urteilen: A. O. Scott stellt der Filmkritik die Sinnfrage

Ein Filmkritiker, der über das Buch eines Filmkritikers schreibt, das vom "Kritik üben" handelt - das kann nicht gutgehen. Entweder der Kritiker kritisiert den Kritiker, dann wird man ihm Berufsneid vorwerfen. Oder er lobt das Buch des Kollegen, dann wird es heißen, eine Krähe hacke eben der anderen kein Auge aus.

Nun wird die Sache dadurch etwas weniger heikel, dass A. O. Scott, der Autor des Buches, im fernen Manhattan sitzt. Er ist der Hauptfilmkritiker der "New York Times", und ich lese seine Texte regelmäßig, immer mit Respekt, oft mit Bewunderung. Denn Scott ist ein Meister des aphoristischen Urteils. Wofür andere Rezensenten ganze Zeitungsspalten brauchen, das bringt er in einem Satz auf den Punkt. Etwa zu Hanekes "Weißem Band": "eine Mahnung, wie schlimm wir sind und wie viel schlimmer wir waren". Oder zu "La La Land": "Seine Vorbilder sind ihm ins Gesicht geschrieben, aber er trägt sie wie ein Schönheitspflaster." Oder zu Isabelle Huppert in "Elle": "Man kann an dem Film seine Zweifel haben, aber man kann nicht aufhören, an sie zu glauben."

Nun ist "Kritik üben" kein Sammelband mit Filmkritiken von A. O. Scott. Wäre es so, dann könnte diese Rezension im nächsten Absatz zu Ende sein. Man würde noch ein bisschen hin und her zitieren, ein wenig schwadronieren über die große amerikanische Tradition der Filmkritik, dem lieben transatlantischen Kollegen zu seinen wunderbaren Texten gratulieren und sich wünschen, dass es mehr von seiner Sorte gäbe, auch und besonders in Deutschland.

Dieses Buch aber, das den deutschen Untertitel "Die Kunst des feinen Urteils" trägt, als wäre es für die Fans des Manieren-Zuchtmeisters Asfa-Wossen Asserate verfasst, ist etwas ganz anderes. Es ist das Buch, das ein Kritiker schreibt, wenn er beweisen will, dass er in Wahrheit viel schlauer ist, als die Leser seiner Zeitungsartikel denken. Dass er die theoretischen Grundlagen seines Metiers aus dem Effeff beherrscht. Dass er Vasari gelesen hat, Hesiod, Rilke, Susan Sontag und T. S. Eliot. Dass er über zeitgenössische Kunst ebenso gelenkig räsonieren kann wie über die Geschichte der Popmusik seit Chuck Berry. Dass er, mit anderen Worten, kein Filmkritiker ist, sondern ein Gelehrter, der Filmkritiken schreibt. Oder der gelehrteste Filmkritiker von allen.

Das macht die Besprechung dieses Bändchens so kompliziert. Ist es der Wahrheitsfindung dienlich, wenn man zugibt, dass man sich beim Lesen von "Kritik üben" gelegentlich so gepflegt gelangweilt hat wie in einem Fünfstundenfilm von Apichatpong Weerasethakul? Oder stellt man sich damit sofort in die Schmuddelecke der Filmkritik, zu jenen Banausen, die nicht bereit sind, ihr eigenes Tun historisch-kritisch zu reflektieren? Tatsächlich gibt es so viele kluge Sätze in diesem Buch, dass man sie kaum alle zitieren kann: über Kritik als "spätgeborenen Zwilling der Kunst", über ihre Paradoxie, zugleich überflüssig und unverzichtbar zu sein, über die Pflicht des Kritikers, unrecht zu haben, oder die Unbestimmtheit des Schönen bei Kant. Es gibt aber auch Sätze wie diesen: "Die Tatsache, dass sich wissenschaftliche Erkenntnis immer in einem Zustand der Unvollständigkeit und manchmal des regelrechten Irrtums befindet, liefert Munition zur Infragestellung wissenschaftlicher Behauptungen über Klimawandel, Evolution und öffentliches Gesundheitswesen, und Gleiches gilt . . ." Wir machen hier einen Schnitt, um die Geduld des Lesers zu schonen - und den guten Ruf des Kritikers A. O. Scott.

"Kritik üben" beginnt mit einer Selbstbefragung. Vor Jahren, erzählt Scott, hat er einmal "The Avengers" verrissen, eins jener plastikfarbenen Kinoabenteuer, mit denen der Disney-Konzern die Comics der Firma Marvel vermarktet. Daraufhin twitterte Samuel L. Jackson, der Darsteller der Hauptfigur: "AO Scott braucht einen neuen Job!" Es kam, was kommen musste: Kollegen solidarisierten sich mit Scott, Filmfans mit Jackson. Und unser Kritiker, der fand, dass Jackson "eine berechtigte Frage aufgeworfen" habe, begann mit der Recherche zu seinem Buch.

In dieser Anekdote steckt die ganze Tragik der dreihundertseitigen Verteidigungsrede in eigener Sache, die A. O. Scott geschrieben hat. Denn die Geschichte der Kritik von den Griechen bis heute ist das eine, die Geschichte der Filmkritik das andere. Filmkritiker haben es nicht, wie ihre Kollegen aus Theater, Literatur und Kunst, mit Eliten zu tun, sondern mit Massen. Deren Geschmack wird nicht durch Kritik gesteuert, sondern durch die Kräfte des Marktes: Medienkampagnen, Werbung, Stars und Budgets. Deshalb hängt die Autorität des Filmkritikers von Anfang an in der Luft. Keine Theorie, keine Tradition kann sie ihm verschaffen. Stattdessen muss er sie sich mit jedem Satz, jeder Zeile neu erschreiben. So wie A. O. Scott, der Autor dieses donquichottesken Buches, in seinen Artikeln in der "New York Times".

Aber das ist nur die Meinung eines Filmkritikers.

ANDREAS KILB

A. O. Scott: "Kritik üben. Die Kunst des feinen Urteils". Hanser, 318 Seiten, 22 Euro

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"A.O. Scott pflegt in seinem Buch einen lebendigen, diskursiven Stil, der Argumente gegeneinander führt und mit Witz und zwischengeschalteten kleinen Pro und Contra-Wortgefechten hervortreibt, warum uns Kritik alle Mühe wert sein sollte." Angela Gutzeit, NZZ am Sonntag, 28.05.17

"Das Buch ist jedoch nicht rein defensiv, schon gar nicht weinerlich. Es schwärmt auch, mal lustig und selbstironisch, mal im sehr ernsthaften New Yorker Intellektuellenton (...) 'Kritik üben' ist aber keine weitere Einführung in die ästhetische Theorie, sondern eher eine leidenschaftliche Warnung vor der Abschaffung der rezensorischen Einfühlung und Argumentation in der Gegenwart." Johan Schloemann, Süddeutsche Zeitung, 21.03.17

"Tatsächlich gibt es so viele kluge Sätze in diesem Buch, dass man sie kaum alle zitieren kann" Andreas Kilb, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.03.17

"Es ist die ungemein inspirierte, dichte Beschreibung eines gelehrten Praktikers, keine analytische Durchdringung. (...) Dieser ernsthafte Intellektuelle will dem Leser lieber vorführen, wie Kritik sein sollte, und zwar zeigt er das durch sein essayistisches Buch selbst." Alexander Cammann, Die Zeit, 16.03.17

"(...) eine Fundgrube an scharfsinnigen Reflexionen in einem Themenfeld, das weit ist." Uwe Justus Wenzel, Neue Zürcher Zeitung, 02.03.17