Marktplatzangebote
6 Angebote ab € 2,96 €
  • Gebundenes Buch

Sophie Morlang ist im Pflegeheim gelandet, umgeben von Ärzten und Schwestern, die es gut mit ihr meinen, der Alten jedoch lästig fallen, und umgeben vor allem von Erinnerungen, Geschichten und Träumen. Und wer sie warten läßt, ist Trude - das Kuckuckskind. Trude, das Pflegekind, liebt Sophie. Zumindest behauptet sie das. Doch in Wahrheit erdrückt sie die Alte: durch ihre forcierte Aufgeregtheit, ihr gespreiztes Getue, ihre Zuneigung, die sie mit anderen nicht teilen will. So bringt sie denn "aus lauter Liebe" mehr Unruhe denn Ruhe in Sophies Leben, das bald nur noch eines vor sich weiß: das…mehr

Produktbeschreibung
Sophie Morlang ist im Pflegeheim gelandet, umgeben von Ärzten und Schwestern, die es gut mit ihr meinen, der Alten jedoch lästig fallen, und umgeben vor allem von Erinnerungen, Geschichten und Träumen. Und wer sie warten läßt, ist Trude - das Kuckuckskind. Trude, das Pflegekind, liebt Sophie. Zumindest behauptet sie das. Doch in Wahrheit erdrückt sie die Alte: durch ihre forcierte Aufgeregtheit, ihr gespreiztes Getue, ihre Zuneigung, die sie mit anderen nicht teilen will. So bringt sie denn "aus lauter Liebe" mehr Unruhe denn Ruhe in Sophies Leben, das bald nur noch eines vor sich weiß: das Ende, die Erleichterung. Und was unbedingt noch hätte gesagt sein müssen, wird nicht gesagt, bleibt zu erinnern.
Autorenporträt
Erica Pedretti wurde 1930 im nordmährischen Sternberk (im heutigen Tschechien) geboren und erlebte dort die Kriegsjahre. Im Dezember 1945 kam sie mit einem Rotkreuztransport zu Verwandten in die Schweiz (ihre Großmutter war Schweizerin) und besuchte in Zürich die Kunstgewerbeschule. 1950 musste sie, da sie keine Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz erhielt, das Land verlassen. Erica Pedretti emigrierte in die USA und verbrachte zwei Jahre in New York. 1952 kehrte sie jedoch in die Schweiz zurück und heiratete den Künstler Gian Pedretti aus der Engadiner Künstlerfamilie Pedretti. Seit den 70er Jahren arbeitet sie erfolgreich als bildende Künstlerin.

Auslandsaufenthalte führten sie 1971 nach London und 1988 als Gast an das Istituto Svizzero in Rom. 1989 war sie Writer in Residence an der Washington University in St. Louis. 1994 hatte sie den Swiss Chair an der City University of New York inne. Seit 1988 war sie korrespondierendes Mitglied in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.

Erica Pedretti lebte mit ihrem Mann in La Neuveville am Bieler See. Sie zählt zu den herausragenden Persönlichkeiten der zeitgenössischen Schweizer Literatur. Am 14. Juli 2022 verstarb sie im Alter von 92 Jahren.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.1999

Ein Kuckuckskind hebt nicht ab
Erica Pedrettis Monolog aus dem Krankenzimmer des Lebens

Von Gertrude Kunz besucht zu werden, ist eine Strafe. Man hat den egomanen Auftritt einer Dame von sechzig Jahren zu gewärtigen, der gespickt ist mit rhetorischen und körperlichen Zudringlichkeiten und obendrein keine Ende zu finden droht, weil Frau Kunz sich zwar darauf versteht, ihren - vom Besuchten sehnlich erhofften - Abschied anzukündigen, aber nicht darauf, diese Ankündigung auch rasch umzusetzen.

Sophie Morlang, fast dreißig Jahre älter als Frau Kunz, weiß das alles bis zum Überdruß, gleichwohl ist von ihr zu hören: "Wo bleibt sie denn, sie sollte doch längst hier sein, läßt mich wieder warten." Frau Morlang wartet im Pflegeheim. Daß sie dort ist und nicht mehr in ihrer Wohnung, das hat sie nach ihrer Meinung Gertrude Kunz zu verdanken, die alle, die Frau Morlang dort bei der Lebensführung halfen,vergraulte, ihr gegenüber jetzt aber tönt: "Du gehörst doch nicht zu diesen Kretins ins Pflegeheim."

Die Verschränkung von Frau Kunz und Frau Morlang währt schon fünfundfünfzig Jahre; erstere kam mit fünf als Pflegekind in den großbürgerlichen Haushalt der jungen Frau, die sich wie ihr Mann Otto Kinder wünschte, aus medizinischen Gründen keine eigenen haben konnte und so ihren Hege- und Pflegetrieb fremden Kindern anbot, der Liesl, der Vera, der Anne und, auf absehbare Zeit gedacht, der Gertrude, von allen Trude genannt. Daß mit Trude was nicht stimmte, daß Trude nicht echt war, merkten alle sofort. Frau Morlangs Mutter sprach von einem Kuckuckskind. Die anderen wurde flügge, Trude blieb, mit einem leicht zu durchschauenden, aber von Frau Morlang nicht auszuhebelnden psychischen Erpressungsrepertoire, das reichhaltig war bis hin zum - sorgfältig auf gesichertes Mißlingen hin angelegten - Selbstmordversuch.

Bei der Darstellung dieser Sachverhalte folgen wir den Ausführungen Frau Morlangs. Andere Informationen haben wir nicht. Aber darum geht es ja der alten Dame: ihre Sicht auf ihr schwindendes Leben darzulegen, im Kampf gegen das Schwinden der Erinnerung und im Ringen mit denen, die ihr zuhören sollten, an erster Stelle Anne, die älteste Tochter ihrer nach Amerika ausgewanderten Schwester Fanny, die bald und jung nach Europa zurückkehrte und bei ihr aufwuchs. "Hörst du mir überhaupt zu, was ich dir erzähle? Du hörst wieder nicht zu", hält sie der Nichte vor. Sie vergißt dabei jedoch nicht, daß auch sie ihrer Mutter nicht zuhören mochte. Das heißt, Frau Morlang besitzt Selbstdistanz.

Bei aller Gebrechlichkeit fehlt ihr der lebensabschnittsgemäße Altersstarrsinn, der viele schon sehr jung befällt. "Ich fange immer von vorne an, dumm zu sein", sinniert sie wiederkehrend, ohne Larmoyanz, denn sie hat sich eingerichtet im "Krankenzimmer des Lebens" und weiß um ihren "Wackelkontakt" und um den Unterschied zwischen erwünschter und unerwünschter Erinnerung. "Vieles, was ich einmal gewußt und wieder vergessen habe, weiß jetzt niemand mehr. Sonderbar, daß man sich erinnert, an was man sich nicht hat erinnern wollen." An ihren Mann im Reich der Sinne etwa, das der meist mit anderen Frauen, wohl auch mit Trude, aufsuchte, denn "das, worum alle Welt sich dreht, hat mir kein Vergnügen gemacht." Otto hingegen, "er versagte sich kein Vergnügen." Daß da Trudes nimmermüde detaillierte Berichte über ihr Intimleben die Pflegetante nicht erbauen, liegt nahe, allerdings nicht nah genug für Trude. Immerhin stellt die schließlich, mit Rücksicht auf sich selbst, ihre Heimsuchungen ein und eine Gesellschafterin für Sophie Morlang an, die sich nur fragt: "Warum sollte ich diese fremde Person Thea nennen?"

Ein chinesisches Sprichwort besagt, mit jedem alten Menschen, der sterbe, verbrenne eine Bibliothek. So weit würde Frau Morlang nicht gehen. Sie würde nur ein Bücherregal für sich reklamieren. Aber das will sie verteidigen und die Schriften retten, in denen etwa verzeichnet ist, wie ihre erste und wohl einzige große Liebe, damals in Wien, sich als Heiratsschwindler entpuppte, was ihr eine Herzklappenentzündung einbrachte, aber auch, daß sie nicht mit dem Wolf und den Wölfen heulte im Zweiten Weltkrieg, sondern die Zwangsarbeiter in ihrer Nähe unterstützte, während Gatte Otto am "Stammtisch arischer Männer" schwadronierte.

"Wir haben nicht mehr so viel Zeit. Das Leben eines jeden von uns ist kaum mehr als ein zarter Hauch und ein Einatmen von Luft", sagt die alte Dame, der das Einatmen immer schwerer fällt, "dieses Leben ist unerträglich, ein anderes unerreichbar", schließlich hört sie die Schwestern auf dem Flur des Pflegeheims fragen: "Was sollen wir ihr anziehen, wenn sie tot ist?" Ihr ist es gleich, ihr Testament ist gemacht, "in meinem letzten Willen figuriert kein Mann", aber an erster Stelle Trude.

Sophie Morlangs Sorge, es höre wohl keiner zu, ist unnötig. Wer "Kuckuckskind" zur Hand nimmt, wird ihr bis zu ihrem letzten Atemzug lauschen, denn Erica Pedretti ist, hier kann man das sagen, ein tief menschliches Buch gelungen. Dieser große prämortale Monolog der Sophie Morlang als ideeller Gesamtseniorin ist ein Memento mori, ein sanfter Aufruf, die Hirnarchive der Alten zu nutzen und zu respektieren, und eine tachistische Skizze der Katastrophen dieses Jahrhunderts.

Die Anna, die in "Kuckuckskind" Sophie Morlangs Hauptadressatin sein dürfte, taucht auch in "Engste Heimat" von 1995 auf, dort als Erica Pedrettis Alter ego, in beiden Fällen ist sie die Nichte des Künstler-Onkels Gregor, wie überhaupt die Bezüge auf die Lebensstationen der Autorin, beginnend mit einer idyllischen Kindheit in Mähren, und - damit zusammenhängend - auf ihr literarisches Schaffen seit 1970 zahlreich sind. Pedrettis Generalthema ist die Arbeit an der Erinnerung, "Kuckuckskind" dabei die bislang tiefste Grabung. BURKHARD SCHERER

Erica Pedretti: "Kuckuckskind oder Was ich ihr unbedingt noch sagen wollte". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1998. 186 S., geb., 36,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr