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Nach »Durch den Schnee« und »Linkes Ufer« erscheint nun der dritteBand der »Erzählungen aus Kolyma«. Er enthält zwei Zyklen desmonumentalen Werks Warlam Schalamows. Wieder entführt er denLeser in die erbarmungslose Welt der sibirischen Lager und erzähltdie Geschichte der Besiegten. Im Mittelpunkt steht in diesem drittenBand die meisterhaft geschilderte Ganovenwelt im Lager, ihr Alltag,ihre Sprache, ihre Sitten und ihr Verhältnis zu den politischen Gefangenen.

Produktbeschreibung
Nach »Durch den Schnee« und »Linkes Ufer« erscheint nun der dritteBand der »Erzählungen aus Kolyma«. Er enthält zwei Zyklen desmonumentalen Werks Warlam Schalamows. Wieder entführt er denLeser in die erbarmungslose Welt der sibirischen Lager und erzähltdie Geschichte der Besiegten. Im Mittelpunkt steht in diesem drittenBand die meisterhaft geschilderte Ganovenwelt im Lager, ihr Alltag,ihre Sprache, ihre Sitten und ihr Verhältnis zu den politischen Gefangenen.
Autorenporträt
Warlam Schalamow, 1907 im nordrussischen Wologda als Sohn eines orthodoxen Geistlichen geboren, studierte zunächst sowjetisches Recht in Moskau. Nach seiner Verhaftung wegen »konterrevolutionärer Agitation« wurde er zu Lagerhaft im Ural verurteilt und in die Kolyma-Region um den gleichnamigen Fluss im Nordosten Sibiriens deportiert. 1956 kehrte er nach Moskau zurück, wo er 1982 starb. Bei Matthes & Seitz Berlin erscheint eine Ausgabe seiner Werke in Einzelbänden. Gabriele Leupold, 1954 geboren, übersetzte u. a. Ossip Mandelstam, Michail Bachtin, Boris Pasternak, Andrej Platonow und die Werke von Warlam Schalamow. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Paul-Celan-Preis, den Johann-Heinrich-Voß-Preis, den Hieronymus-Ring und den Jane Scatcherd-Übersetzerpreis 2018 der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung. Franziska Thun-Hohenstein, 1951 geboren, studierte russische Sprache und Literatur in Moskau und Berlin. Sie ist senior-fellow am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin und ist seit 2007 Herausgeberin der Warlam-Schalamow-Werkausgabe bei Matthes & Seitz Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Jörg Plath ist merklich erschüttert von Warlam Schalamows Kolyma-Erzählungen, die an Grausamkeit und Schrecken nicht zu überbieten sind, wie er beklommen feststellt. Der Autor war von 1938 bis 1953 selbst in einem stalinistischen Lager in der Kolyma inhaftiert und überlebte nur, weil er zum Feldscher, also zum einfachen Militärarzt ausgebildet worden war, informiert der Rezensent. Die Geschichten aus der Kolyma, von denen bereits zwei Zyklen auf Deutsch vorlagen und von denen jetzt auch die restlichen vier als 3. Band der Werkausgabe publiziert worden sind, sind nach Ansicht Plaths aus einem "Erinnerungszwang" heraus entstanden, die auf eine tiefe Traumatisierung hinweisen. Glaube man, mehr und Schlimmeres könne man nicht berichten, werde man hier eines Besseren belehrt, warnt Plath, den die Lektüre ziemlich "mitgenommen" hat, wie er bekennt. Neben der Unmittelbarkeit und Eindringlichkeit der Erzählungen aus dem Lagerleben, aus der nur die Welt der Kriminellen insofern herausfällt, als dass Schalamow hier eher eine reflektierende, beobachtende Position einnimmt, beeindruckt Plath besonders die Unabhängigkeit, die sich der Autor in seinen moralischen Urteilen bewahrt hat, und ihm imponiert es sehr, wie Schalamow die "Herkulesaufgabe" bewältigt, mit großer Wahrheitsliebe diesen schrecklichen "Kosmos mit Millionen Menschen nahe am Verlöschen" zu schildern.

© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.11.2010

Traumbilder eines blinden Priesters
„Künstler der Schaufel“, der dritte Band von Warlam Schalamows „Erzählungen aus Kolyma“
Es sind die vielen selbstgefangenen Fische und Hasen, selbstgekocht und selber gebraten, die dazu beitragen, dass Warlam Schalamow nach 17 Jahren in Stalins Lagern kurz vor der Entlassung 6000 Rubel sein eigen nennen kann, aufgehäuft in den letzten drei Jahren, in denen der ehemalige Häftling als Hilfsarzt arbeiten durfte. Das kommt ihm jetzt zugute. Nach Monaten des Wartens auf die Entlassungspapiere findet sich Schalamow vor einem Buchhalter wieder, der sich weigert, die dem Entlassenen zustehenden Transferkosten nach Moskau, 3200 Rubel, auszuzahlen. Ansonsten müsse er Wochen auf einen Vorgesetzten warten, alle Entlassungen seien aufgehoben.
Schalamow zögert nicht. Auch nicht, als er am Provinzflughafen Ojmiaikon ankommt, der auf unbestimmte Zeit unbenutzbar ist. Bis auf einmal eine Maschine landet, und Schalamow, dank der Fürsprache eines Bekannten, plötzlich auf einer Warteliste steht, von der ein anderer gestrichen wurde. „,Hier bin ich‘. – ‚Zum Kassierer – schnell.‘ – Ich dachte, ich werde nicht den Hochherzigen spielen, ich werde nicht ablehnen, ich fahre, ich fliege. Hinter mir liegen siebzehn Jahre Kolyma. Ich stürmte zum Kassierer, als Letzter.“ Er kommt durch, wird zur Luke hochgehievt, sie wird geschlossen, der Pilot sagt: „Start!“
Dass der 1907 in Wolgoda bei Moskau geborene Schalamow, der 1982, körperlich und psychisch zerrüttet, an den Spätfolgen seiner Gefangenschaft starb, sich nicht besser zu machen versucht, als er in einem Augenblick seines Lebens war, passt zum Werk dieses erst in den letzten Jahren wiederentdeckten, eindrucksvollsten Beschreibers der sibirischen Lager. Schalamows 1500 Seiten starke „Erzählungen aus Kolyma“, von denen nun der dritte Band mit den Zyklen „Künstler der Schaufel“ und „Skizzen aus der Verbrecherwelt“ erschienen ist, vermeiden Moralismen. Gerade in ihrer „Richtungslosigkeit“ aber kommen die Texte den eigentlichen moralischen Fragen nahe.
Die beiden letzten Geschichten von „Künstler der Schaufel“, die das Ende der Kolyma-Zeit und die Reise nach Moskau schildern, sind zwei der Höhepunkte des neuen Bands. Unzählige Schwierigkeiten, die sich während der Tausende Kilometer langen Reise ergeben, machen die ungeheure Distanz zum „normalen Leben“ sichtbar. Aber manchmal geschehen Wunder, die zu dem großen Wunder gehören, dass einer die Lager überlebt.
Schalamow ist in Irkutsk, der ersten richtigen Stadt auf dem Weg. Es soll nur ein Zwischenhalt sein, aber plötzlich kommt ein Mann auf ihn zu, führt ihn in ein dunkles Gebäude. Da sind andere Gestalten. Der Ich-Erzähler soll ausgenommen werden. Bis sich aus dem Hintergrund einer meldet. „Ich kenne ihn.“ Der Mann ist Schalamow völlig unbekannt, aber er sagt „Ja, er hat an der Kolyma gearbeitet . . . Sie sagen: ein Mensch. Hat unseren Leuten geholfen. Haben ihn gelobt.“ Schalamow kommt davon.
Auch dies ist nicht unpikant, stammt die an Primo Levi erinnernde Adelskennzeichnung „Mensch“ doch aus den Verbrecherkreisen, die Schalamow zutiefst hasste, was im vorliegenden Band sehr deutlich wird. Denn sein zweiter Teil, die „Skizzen aus der Verbrecherwelt“, stehen, darauf weist Mikhail Ryklin in seinem informativen Nachwort zu Recht hin, im Gegensatz zum übrigen Werk. Statt enigmatisch zu beschreiben und auf Wertungen zu verzichten, gibt sich Schalamow, was den „Abschaum“ der Gaunerwelt im Lager betrifft, meinungsstark, richtet sich gegen jede „Romantisierung“ der Verbrecher, wie sie in der Weltliteratur, etwa Dostojewskijs, gängig sei.
Der Grund für Schalamows Verachtung ist nicht schwer zu erkennen. Ohne durch Befehlsstrukturen zur Unmenschlichkeit verpflichtet zu sein, was manche der kleinen Beamten und Aufseher zu ihrer Entlastung anführen mögen, bauen die Lagerganoven eine eigene sadistische Machtstruktur auf, die zweite Unterdrückung und Ausbeutung.
Trotz der Gründe für die Verachtung sind die „Skizzen der Verbrecherwelt“ kein Glanzpunkt von Schalamows Schaffen. Die Passagen, die Dostojewskij und anderen die verstohlene gesellschaftliche Verehrung der Verbrecherwelt zur Last legen, machen wenig Sinn. Waren doch dessen Verbrecher nicht die von Schalamow gemeinten. Statt von der Erfahrung auszugehen, wie sonst, setzt Schalamow hier eine überzeitliche Physiognomie des Verbrechens voraus. Dagegen gab es schon im ersten Band der Kolyma-Erzählungen, „Durch den Schnee“ Geschichten, die die Demütigung der normalen Gefangenen durch die Verbrecher erzählten, ohne sie je behaupten zu müssen.
So auch in „Künstler der Schaufel“, dem ersten Teil des vorliegenden Bandes, der drei Viertel des Umfangs ausmacht. Hier trifft man auf Menschen wie Andrejew und Krist, zwei Alter Egos von Schalamow, die unpathetisch leben, so gut es den Umständen entsprechend geht. Dabei wird auch hier ein gesellschaftlicher Hintergrund sichtbar. Etwa in den aufeinanderfolgenden Erzählungen „Juni“ und „Mai“ über den in der Sowjetunion gern heroisierten Zweiten Weltkrieg. Für Lagerhäftling Andrejew stellt sich die Situation anders dar. Weder der deutsche Überfall im Juni 1941 noch das Kriegsende im Mai spielen eine Rolle. Der Kriegsbeginn in Sewastopol, Odessa, ist für ihn ein Geschehen in „Paraguay oder Bolivien“: er „hörte höflich zu“. Der Vorarbeiter, der berichtet, „war satt . . . , da interessierten ihn auch solche Dinge wie der Krieg.“ Das Kriegsende im Mai nimmt Andrejew kaum mehr wahr. Seine Fußlappen sind verbrannt, er hat Fieber.
Zur Sonderstellung des vorliegenden Bandes trägt auch die nur zehn Seiten umfassende Erzählung „Das Kreuz“ bei. Sie bezieht sich nicht auf das Lagerleben, lässt sich jedoch paradoxerweise zugleich als autobiographische Allegorie darauf und als Gegenwelt zu dieser lesen. Die „Helden“ dieser Erzählung sind die Eltern von Warlam Schalamow, neben zwei Brüdern und Schwestern. Dargestellt ist jene Zeit, in der Schalamows Vater, ein orthodoxer Priester, vom sowjetischen Staat schon des Amtes enthoben worden war.
Die Mutter versucht, durch den Verkauf von Piroggen und Bittbriefen zu Geld zu kommen. Zugleich lässt sie den erblindeten Vater im Glauben, seine Pflege der Ziegen, die etwas kosten, mache Sinn. Ein Heiligenbild der Armut entsteht, das von Verzweiflung und vom „Verrat“ des ältesten Sohnes durchsetzt ist, der sich der Sowjetideologie anpasst, sich vom Vater „lossagt“, ohne dass ihm dies etwas nützt. Trotz des Elends bleibt Schalamow bewundernswert lapidar, manchmal sogar humorvoll. Der Vater schläft kaum, bemüht sich darum. „Papa, warum schläfst du Tag und Nacht?“ – „Du bist ein Dummkopf“, antwortet der Geistliche, „im Schlaf kann ich ja sehen.“
Am Ende muss der Blinde mit einem Beil Dukatengold von einem winzigen Kreuz schlagen. Eine jämmerliche Angelegenheit. Doch das letzte Gold soll gegen Lebensmittel eingetauscht werden. Ganz wie im Lager. HANS-PETER KUNISCH
WARLAM SCHALAMOW: Künstler der Schaufel. Erzählungen aus Kolyma 3. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Herausgegeben von Franziska Thun-Hohenstein. Mit einem Nachwort von Michail Ryklin. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2010. 603 Seiten, 29,90 Euro.
Sein Werk ist eine Flaschenpost
aus den sibirischen Lagern
der Sowjetunion
Ein Heiligenbild der Armut,
durchsetzt von Armut und
vom „Verrat“ des ältesten Sohnes
Warlam Schalamow
Foto: Matthes & Seitz Verlag Berlin
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2010

In der Hölle ist jeder sein eigener Sprengmeister

Dass sich in den Lagern des Stalinismus eine Gesellschaft selbst verstümmelte, ist durchaus im Wortsinn gemeint: Warlam Schalamows Erzählungen beschreiben den Menschen als Opfer der modernen Barbarei.

Es ist der andere Blick, der zählt. Keiner hat die Kriminellen in den Straflagern genauer beobachtet als er, doch mit anderen Augen als Solschenizyn, der seine Bewunderung für die straffe Organisation der Ganoven nicht verhehlen konnte. In Warlam Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" hingegen wird die Ganovenhierarchie nicht romantisiert. Er sah in ihr nur skrupellose Verbrecher am Werk und, politisch pikant, einen Abklatsch der auf Eigennutz bedachten Parteikader.

Eine der gehätschelten Infamien des sowjetischen Lagersystems bestand darin, brutale Kriminelle die "Klassenfeinde" und "Intellektuellen", kurz: die nach Artikel 58 ("antisowjetische Propaganda") verurteilten "Politischen", drangsalieren zu lassen. Ihre ungemütliche Nachbarschaft war Teil der Repression, die Ganoven wurden zu Komplizen der Lagerleitung. In der offiziellen Logik zeichneten sich Diebe und Mörder durch eine gewisse "soziale Nähe" zum Proletariat aus, die "Volksfeinde" jedoch galt es auszumerzen. Die Vergehen der "Politischen" waren in den meisten Fällen fiktiv, die Vernichtungsmaschinerie der Terror-Jahre 1937/1938 konnte jeden erfassen. Bei Schalamow selbst lag wenigstens ein gewisses "Verbrechen" vor: Im Jahr 1927, zur Zeit der Entmachtung Trotzkis und der Unterdrückung jeder Opposition, soll er bei einer Demonstration ein Schriftband mit der Parole "Nieder mit Stalin" gehisst haben.

Der 1907 im nordrussischen Wologda geborene, 1982 in einer Moskauer Nervenheilanstalt verstorbene Autor verbrachte siebzehn Jahre in der Lagerhölle am nordostsibirischen Fluss Kolyma. Schalamow kannte die von Goldgruben und Zinnbergwerken ausgespuckte "menschliche Schlacke" aus nächster Nähe. Er war selbst ein ausgehungerter "Docht", wie es im Lagerjargon hieß, und blieb es in schreibender Vergegenwärtigung noch in der "Freiheit", in der er nie wieder wirklich Fuß fassen konnte.

Der neue Band "Künstler der Schaufel" der von Gabriele Leupold exzellent übersetzten Schalamow-Werkausgabe führt weitere Kreise der Kolyma-Hölle vor. Schalamow ist längst zu einem Dante des 20. Jahrhunderts geworden, einem Dante aus dem Reich des Permafrostbodens: ohne Aussicht auf ein ofenwarmes Purgatorium und noch weniger auf ein gleißendes, besterntes Paradies.

Wer glaubt, das Inferno aus den beiden vorangegangenen Bänden ("Durch den Schnee" und "Linkes Ufer") bereits zu kennen, muss irren. Dieser Autor täuscht jede simple Erwartung, das vermeintlich Bekannte bekommt fortwährend neue Schattierungen. Seine lakonischen Erzählungen sind unvorhersehbar, sprunghaft, dicht. Erst mit der rückwirkenden Explosion abrupter Schlüsse ergießt sich ein prekäres Licht auf die Abgründe.

Mitten unter den Kolyma-Erzählungen findet sich als unerwartetes Einsprengsel "Das Kreuz", eine Erinnerung an Schalamows Eltern. Es ist die Geschichte eines durch Hunger, Glauben und gegenseitige Fürsorge aneinandergeketteten Paares. Der erblindete Vater war Priester, der bei der erneuten Kampagne gegen die Kirche im grausamen Jahr 1929 jede Lebensgrundlage verliert. Zwischen den Eheleuten stehen drei Ziegen, um die sich alles dreht. Die Mutter versucht die Milch zu verkaufen, doch Nahrung und Unterhalt der Tiere verschlingen mehr, als sie einbringen. Der Vater wiederum will ihr diesen Lebenssinn nicht wegnehmen. Vor Hunger schon halb verrückt, kramt der Geistliche - Möbel und Trauringe sind längst verkauft - ein winziges Kruzifix mit goldener Christusfigur hervor. Der Priester zerschlägt das Kreuz mit einem Beil, um das bisschen Gold zu Brot zu machen, und mit der bestürzenden Frage: "Ist denn darin Gott?" Die Erzählung ist eine der anrührendsten der russischen Literatur, sie endet - typisch für Schalamow - ohne Aufschrei und abrupt mit der Öffnungszeit der offiziellen Läden, wo Wertsachen eingetauscht werden konnten.

Was der Dichter in einer gewaltigen Gedächtnisleistung in den "Erzählungen aus Kolyma" versammelt, ist nicht weniger als die Enzyklopädie des Menschlichen und des Unmenschlichen. Auch unter dem Bewachungspersonal, den "Bestien auf Befehl", gibt es Abstufungen. Die Erzählung "Ingenieur Kisseljow" führt einen Natschalnik vor, der sich durch Belesenheit und Bildung auszeichnet - und sich als der schlimmste Schlächter entpuppt.

Wie Menschen reagieren auf fünfzig Grad Frost, Hunger, Sklavenarbeit und Schläge, aber auch auf seltene Zeichen der Solidarität - das ist in diesem tiefgründigen Katalog der menschenmöglichen Verhaltensweisen zu erkennen. Über die nicht auszurottende Sehnsucht nach Freiheit und völlig aussichtslose Fluchtversuche gibt die Erzählung "Der grüne Staatsanwalt" Auskunft. In "Mai" erfährt man von "tausend Arten", den Genuss von Brot zu verlängern. "Essen" ist das falsche Wort: "Man konnte dieses Brot lecken, bis es von der Handfläche verschwindet; man konnte Krümel, winzige Krümel davon abbrechen und jeden Krümel lutschen und mit der Zunge im Mund umdrehen."

Wozu Menschen fähig sind für einen Augenblick in Ofennähe oder gar den ersehnten Aufenthalt in der Krankenstation, übersteigt die Vorstellung. Die "Selbstverstümmler" nehmen einen besonderen Platz ein in Schalamows Häftlingsgalerie. Kolja Rutschkin in "Der Geschäftsmann" sprengt sich die rechte Hand ab, um nicht mehr im tödlichen Bergwerk schuften zu müssen. Als auch noch die Einarmigen als Goldwäscher und "Wegetreter" in Schnee und Eis eingesetzt werden, finden die Verzweifelten neue Methoden, die von Schalamow emotionslos rapportiert werden. Was das Überleben ermöglichte, lässt sich nicht systematisieren: ein ungeheurer Zufall, Geduld, eine banale Fähigkeit, etwa eine leserliche Handschrift, die den Bürogehilfen Krist seine Untersuchungsführer überleben lässt, als beim Wechsel der NKWD-Häuptlinge alle vorherigen Henker erschossen werden. "Und Krist schrieb und schrieb, heftete ab."

Schalamow selbst verdankte dem rettenden Zufall sein Leben, dass er nach acht Jahren zu einer Feldscherausbildung abkommandiert wurde ("Der Lehrgang"). Und in diesem neuen Band erfährt man auch von der unwahrscheinlich anmutenden Rückkehr aus der Hölle nach siebzehn Jahren, der Entlassung nach Stalins Tod. In Irkutsk betritt der Ex-Häftling einen Buchladen: "Aber Bücher in der Hand zu halten . . . das war wie ein guter Borschtsch mit Fleisch . . . Wie ein Glas lebendiges Wasser." Besser lässt sich die Kraft von Schalamows eigenen Büchern nicht beschreiben.

"Das, was ich gesehen habe - soll ein Mensch nicht sehen und nicht einmal wissen." Die Unsagbarkeit und absolute Negativität der Lagererfahrung gehören zu Schalamows Grundsätzen - die er, den Widerspruch nicht fürchtend, fortwährend widerlegt. Dass er mit Bestimmtheit wollte, dass die Menschen vom Schreckensuniversum der Kolyma erfahren, steht außer Zweifel. Wozu hätte er sonst in einem einsamen Akt des Widerstandes Tausende von Seiten seinem Inferno gewidmet? Und noch etwas trieb ihn an: "Ich erschrak über die schreckliche Kraft des Menschen - den Wunsch und die Fähigkeit zu vergessen. Ich wusste, dass ich meinem Gedächtnis nicht erlauben werde, alles zu vergessen, was ich gesehen habe."

Schalamows "Geschichte der Besiegten", so Michail Ryklin im profunden Nachwort, ist auch heute von erheblicher politischer Brisanz, wenn unter Präsident Medwedjew seit 2009 eine Kommission nach "Geschichtsfälschungen zum Schaden Russlands" zu fahnden hat. Wird sich Schalamows bitteres Zeugnis eines Tages vor strammen Kommissionen zu rechtfertigen haben? Sein rigoroser Versuch, die Vergangenheit zu verstehen (das Wort "bewältigen" würde er ablehnen), ist noch kostbarer zu einem Zeitpunkt, da Moskaus Bürgermeister Plakate mit Stalinporträts zur Feier des Sieges im Zweiten Weltkrieg drucken will. Im fulminanten Auftakt des Bandes ("Der Anfall") führen ein Zusammenbruch auf einer Moskauer Straße und die Einlieferung in eine Klinik zum Auftauen des Gedächtnisses. "Ich wollte allein sein. Ich hatte keine Angst vor meinen Erinnerungen."

RALPH DUTLI

Warlam Schalamow: "Künstler der Schaufel". Erzählungen aus Kolyma 3.

Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2010. 603 S., geb., 29,90 [Euro].

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