Nach »Durch den Schnee« und »Linkes Ufer« erscheint nun der dritte Band der »Erzählungen aus Kolyma«. Er enthält zwei Zyklen des monumentalen Werks Warlam Schalamows. Wieder entführt er den Leser in die erbarmungslose Welt der sibirischen Lager und erzählt die Geschichte der Besiegten. Im Mittelpunkt steht in diesem dritten Band die meisterhaft geschilderte Ganovenwelt im Lager, ihr Alltag, ihre Sprache, ihre Sitten und ihr Verhältnis zu den politischen Gefangenen.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Jörg Plath ist merklich erschüttert von Warlam Schalamows Kolyma-Erzählungen, die an Grausamkeit und Schrecken nicht zu überbieten sind, wie er beklommen feststellt. Der Autor war von 1938 bis 1953 selbst in einem stalinistischen Lager in der Kolyma inhaftiert und überlebte nur, weil er zum Feldscher, also zum einfachen Militärarzt ausgebildet worden war, informiert der Rezensent. Die Geschichten aus der Kolyma, von denen bereits zwei Zyklen auf Deutsch vorlagen und von denen jetzt auch die restlichen vier als 3. Band der Werkausgabe publiziert worden sind, sind nach Ansicht Plaths aus einem "Erinnerungszwang" heraus entstanden, die auf eine tiefe Traumatisierung hinweisen. Glaube man, mehr und Schlimmeres könne man nicht berichten, werde man hier eines Besseren belehrt, warnt Plath, den die Lektüre ziemlich "mitgenommen" hat, wie er bekennt. Neben der Unmittelbarkeit und Eindringlichkeit der Erzählungen aus dem Lagerleben, aus der nur die Welt der Kriminellen insofern herausfällt, als dass Schalamow hier eher eine reflektierende, beobachtende Position einnimmt, beeindruckt Plath besonders die Unabhängigkeit, die sich der Autor in seinen moralischen Urteilen bewahrt hat, und ihm imponiert es sehr, wie Schalamow die "Herkulesaufgabe" bewältigt, mit großer Wahrheitsliebe diesen schrecklichen "Kosmos mit Millionen Menschen nahe am Verlöschen" zu schildern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2010In der Hölle ist jeder sein eigener Sprengmeister
Dass sich in den Lagern des Stalinismus eine Gesellschaft selbst verstümmelte, ist durchaus im Wortsinn gemeint: Warlam Schalamows Erzählungen beschreiben den Menschen als Opfer der modernen Barbarei.
Es ist der andere Blick, der zählt. Keiner hat die Kriminellen in den Straflagern genauer beobachtet als er, doch mit anderen Augen als Solschenizyn, der seine Bewunderung für die straffe Organisation der Ganoven nicht verhehlen konnte. In Warlam Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" hingegen wird die Ganovenhierarchie nicht romantisiert. Er sah in ihr nur skrupellose Verbrecher am Werk und, politisch pikant, einen Abklatsch der auf Eigennutz bedachten Parteikader.
Eine der gehätschelten Infamien des sowjetischen Lagersystems bestand darin, brutale Kriminelle die "Klassenfeinde" und "Intellektuellen", kurz: die nach Artikel 58 ("antisowjetische Propaganda") verurteilten "Politischen", drangsalieren zu lassen. Ihre ungemütliche Nachbarschaft war Teil der Repression, die Ganoven wurden zu Komplizen der Lagerleitung. In der offiziellen Logik zeichneten sich Diebe und Mörder durch eine gewisse "soziale Nähe" zum Proletariat aus, die "Volksfeinde" jedoch galt es auszumerzen. Die Vergehen der "Politischen" waren in den meisten Fällen fiktiv, die Vernichtungsmaschinerie der Terror-Jahre 1937/1938 konnte jeden erfassen. Bei Schalamow selbst lag wenigstens ein gewisses "Verbrechen" vor: Im Jahr 1927, zur Zeit der Entmachtung Trotzkis und der Unterdrückung jeder Opposition, soll er bei einer Demonstration ein Schriftband mit der Parole "Nieder mit Stalin" gehisst haben.
Der 1907 im nordrussischen Wologda geborene, 1982 in einer Moskauer Nervenheilanstalt verstorbene Autor verbrachte siebzehn Jahre in der Lagerhölle am nordostsibirischen Fluss Kolyma. Schalamow kannte die von Goldgruben und Zinnbergwerken ausgespuckte "menschliche Schlacke" aus nächster Nähe. Er war selbst ein ausgehungerter "Docht", wie es im Lagerjargon hieß, und blieb es in schreibender Vergegenwärtigung noch in der "Freiheit", in der er nie wieder wirklich Fuß fassen konnte.
Der neue Band "Künstler der Schaufel" der von Gabriele Leupold exzellent übersetzten Schalamow-Werkausgabe führt weitere Kreise der Kolyma-Hölle vor. Schalamow ist längst zu einem Dante des 20. Jahrhunderts geworden, einem Dante aus dem Reich des Permafrostbodens: ohne Aussicht auf ein ofenwarmes Purgatorium und noch weniger auf ein gleißendes, besterntes Paradies.
Wer glaubt, das Inferno aus den beiden vorangegangenen Bänden ("Durch den Schnee" und "Linkes Ufer") bereits zu kennen, muss irren. Dieser Autor täuscht jede simple Erwartung, das vermeintlich Bekannte bekommt fortwährend neue Schattierungen. Seine lakonischen Erzählungen sind unvorhersehbar, sprunghaft, dicht. Erst mit der rückwirkenden Explosion abrupter Schlüsse ergießt sich ein prekäres Licht auf die Abgründe.
Mitten unter den Kolyma-Erzählungen findet sich als unerwartetes Einsprengsel "Das Kreuz", eine Erinnerung an Schalamows Eltern. Es ist die Geschichte eines durch Hunger, Glauben und gegenseitige Fürsorge aneinandergeketteten Paares. Der erblindete Vater war Priester, der bei der erneuten Kampagne gegen die Kirche im grausamen Jahr 1929 jede Lebensgrundlage verliert. Zwischen den Eheleuten stehen drei Ziegen, um die sich alles dreht. Die Mutter versucht die Milch zu verkaufen, doch Nahrung und Unterhalt der Tiere verschlingen mehr, als sie einbringen. Der Vater wiederum will ihr diesen Lebenssinn nicht wegnehmen. Vor Hunger schon halb verrückt, kramt der Geistliche - Möbel und Trauringe sind längst verkauft - ein winziges Kruzifix mit goldener Christusfigur hervor. Der Priester zerschlägt das Kreuz mit einem Beil, um das bisschen Gold zu Brot zu machen, und mit der bestürzenden Frage: "Ist denn darin Gott?" Die Erzählung ist eine der anrührendsten der russischen Literatur, sie endet - typisch für Schalamow - ohne Aufschrei und abrupt mit der Öffnungszeit der offiziellen Läden, wo Wertsachen eingetauscht werden konnten.
Was der Dichter in einer gewaltigen Gedächtnisleistung in den "Erzählungen aus Kolyma" versammelt, ist nicht weniger als die Enzyklopädie des Menschlichen und des Unmenschlichen. Auch unter dem Bewachungspersonal, den "Bestien auf Befehl", gibt es Abstufungen. Die Erzählung "Ingenieur Kisseljow" führt einen Natschalnik vor, der sich durch Belesenheit und Bildung auszeichnet - und sich als der schlimmste Schlächter entpuppt.
Wie Menschen reagieren auf fünfzig Grad Frost, Hunger, Sklavenarbeit und Schläge, aber auch auf seltene Zeichen der Solidarität - das ist in diesem tiefgründigen Katalog der menschenmöglichen Verhaltensweisen zu erkennen. Über die nicht auszurottende Sehnsucht nach Freiheit und völlig aussichtslose Fluchtversuche gibt die Erzählung "Der grüne Staatsanwalt" Auskunft. In "Mai" erfährt man von "tausend Arten", den Genuss von Brot zu verlängern. "Essen" ist das falsche Wort: "Man konnte dieses Brot lecken, bis es von der Handfläche verschwindet; man konnte Krümel, winzige Krümel davon abbrechen und jeden Krümel lutschen und mit der Zunge im Mund umdrehen."
Wozu Menschen fähig sind für einen Augenblick in Ofennähe oder gar den ersehnten Aufenthalt in der Krankenstation, übersteigt die Vorstellung. Die "Selbstverstümmler" nehmen einen besonderen Platz ein in Schalamows Häftlingsgalerie. Kolja Rutschkin in "Der Geschäftsmann" sprengt sich die rechte Hand ab, um nicht mehr im tödlichen Bergwerk schuften zu müssen. Als auch noch die Einarmigen als Goldwäscher und "Wegetreter" in Schnee und Eis eingesetzt werden, finden die Verzweifelten neue Methoden, die von Schalamow emotionslos rapportiert werden. Was das Überleben ermöglichte, lässt sich nicht systematisieren: ein ungeheurer Zufall, Geduld, eine banale Fähigkeit, etwa eine leserliche Handschrift, die den Bürogehilfen Krist seine Untersuchungsführer überleben lässt, als beim Wechsel der NKWD-Häuptlinge alle vorherigen Henker erschossen werden. "Und Krist schrieb und schrieb, heftete ab."
Schalamow selbst verdankte dem rettenden Zufall sein Leben, dass er nach acht Jahren zu einer Feldscherausbildung abkommandiert wurde ("Der Lehrgang"). Und in diesem neuen Band erfährt man auch von der unwahrscheinlich anmutenden Rückkehr aus der Hölle nach siebzehn Jahren, der Entlassung nach Stalins Tod. In Irkutsk betritt der Ex-Häftling einen Buchladen: "Aber Bücher in der Hand zu halten . . . das war wie ein guter Borschtsch mit Fleisch . . . Wie ein Glas lebendiges Wasser." Besser lässt sich die Kraft von Schalamows eigenen Büchern nicht beschreiben.
"Das, was ich gesehen habe - soll ein Mensch nicht sehen und nicht einmal wissen." Die Unsagbarkeit und absolute Negativität der Lagererfahrung gehören zu Schalamows Grundsätzen - die er, den Widerspruch nicht fürchtend, fortwährend widerlegt. Dass er mit Bestimmtheit wollte, dass die Menschen vom Schreckensuniversum der Kolyma erfahren, steht außer Zweifel. Wozu hätte er sonst in einem einsamen Akt des Widerstandes Tausende von Seiten seinem Inferno gewidmet? Und noch etwas trieb ihn an: "Ich erschrak über die schreckliche Kraft des Menschen - den Wunsch und die Fähigkeit zu vergessen. Ich wusste, dass ich meinem Gedächtnis nicht erlauben werde, alles zu vergessen, was ich gesehen habe."
Schalamows "Geschichte der Besiegten", so Michail Ryklin im profunden Nachwort, ist auch heute von erheblicher politischer Brisanz, wenn unter Präsident Medwedjew seit 2009 eine Kommission nach "Geschichtsfälschungen zum Schaden Russlands" zu fahnden hat. Wird sich Schalamows bitteres Zeugnis eines Tages vor strammen Kommissionen zu rechtfertigen haben? Sein rigoroser Versuch, die Vergangenheit zu verstehen (das Wort "bewältigen" würde er ablehnen), ist noch kostbarer zu einem Zeitpunkt, da Moskaus Bürgermeister Plakate mit Stalinporträts zur Feier des Sieges im Zweiten Weltkrieg drucken will. Im fulminanten Auftakt des Bandes ("Der Anfall") führen ein Zusammenbruch auf einer Moskauer Straße und die Einlieferung in eine Klinik zum Auftauen des Gedächtnisses. "Ich wollte allein sein. Ich hatte keine Angst vor meinen Erinnerungen."
RALPH DUTLI
Warlam Schalamow: "Künstler der Schaufel". Erzählungen aus Kolyma 3.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2010. 603 S., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dass sich in den Lagern des Stalinismus eine Gesellschaft selbst verstümmelte, ist durchaus im Wortsinn gemeint: Warlam Schalamows Erzählungen beschreiben den Menschen als Opfer der modernen Barbarei.
Es ist der andere Blick, der zählt. Keiner hat die Kriminellen in den Straflagern genauer beobachtet als er, doch mit anderen Augen als Solschenizyn, der seine Bewunderung für die straffe Organisation der Ganoven nicht verhehlen konnte. In Warlam Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" hingegen wird die Ganovenhierarchie nicht romantisiert. Er sah in ihr nur skrupellose Verbrecher am Werk und, politisch pikant, einen Abklatsch der auf Eigennutz bedachten Parteikader.
Eine der gehätschelten Infamien des sowjetischen Lagersystems bestand darin, brutale Kriminelle die "Klassenfeinde" und "Intellektuellen", kurz: die nach Artikel 58 ("antisowjetische Propaganda") verurteilten "Politischen", drangsalieren zu lassen. Ihre ungemütliche Nachbarschaft war Teil der Repression, die Ganoven wurden zu Komplizen der Lagerleitung. In der offiziellen Logik zeichneten sich Diebe und Mörder durch eine gewisse "soziale Nähe" zum Proletariat aus, die "Volksfeinde" jedoch galt es auszumerzen. Die Vergehen der "Politischen" waren in den meisten Fällen fiktiv, die Vernichtungsmaschinerie der Terror-Jahre 1937/1938 konnte jeden erfassen. Bei Schalamow selbst lag wenigstens ein gewisses "Verbrechen" vor: Im Jahr 1927, zur Zeit der Entmachtung Trotzkis und der Unterdrückung jeder Opposition, soll er bei einer Demonstration ein Schriftband mit der Parole "Nieder mit Stalin" gehisst haben.
Der 1907 im nordrussischen Wologda geborene, 1982 in einer Moskauer Nervenheilanstalt verstorbene Autor verbrachte siebzehn Jahre in der Lagerhölle am nordostsibirischen Fluss Kolyma. Schalamow kannte die von Goldgruben und Zinnbergwerken ausgespuckte "menschliche Schlacke" aus nächster Nähe. Er war selbst ein ausgehungerter "Docht", wie es im Lagerjargon hieß, und blieb es in schreibender Vergegenwärtigung noch in der "Freiheit", in der er nie wieder wirklich Fuß fassen konnte.
Der neue Band "Künstler der Schaufel" der von Gabriele Leupold exzellent übersetzten Schalamow-Werkausgabe führt weitere Kreise der Kolyma-Hölle vor. Schalamow ist längst zu einem Dante des 20. Jahrhunderts geworden, einem Dante aus dem Reich des Permafrostbodens: ohne Aussicht auf ein ofenwarmes Purgatorium und noch weniger auf ein gleißendes, besterntes Paradies.
Wer glaubt, das Inferno aus den beiden vorangegangenen Bänden ("Durch den Schnee" und "Linkes Ufer") bereits zu kennen, muss irren. Dieser Autor täuscht jede simple Erwartung, das vermeintlich Bekannte bekommt fortwährend neue Schattierungen. Seine lakonischen Erzählungen sind unvorhersehbar, sprunghaft, dicht. Erst mit der rückwirkenden Explosion abrupter Schlüsse ergießt sich ein prekäres Licht auf die Abgründe.
Mitten unter den Kolyma-Erzählungen findet sich als unerwartetes Einsprengsel "Das Kreuz", eine Erinnerung an Schalamows Eltern. Es ist die Geschichte eines durch Hunger, Glauben und gegenseitige Fürsorge aneinandergeketteten Paares. Der erblindete Vater war Priester, der bei der erneuten Kampagne gegen die Kirche im grausamen Jahr 1929 jede Lebensgrundlage verliert. Zwischen den Eheleuten stehen drei Ziegen, um die sich alles dreht. Die Mutter versucht die Milch zu verkaufen, doch Nahrung und Unterhalt der Tiere verschlingen mehr, als sie einbringen. Der Vater wiederum will ihr diesen Lebenssinn nicht wegnehmen. Vor Hunger schon halb verrückt, kramt der Geistliche - Möbel und Trauringe sind längst verkauft - ein winziges Kruzifix mit goldener Christusfigur hervor. Der Priester zerschlägt das Kreuz mit einem Beil, um das bisschen Gold zu Brot zu machen, und mit der bestürzenden Frage: "Ist denn darin Gott?" Die Erzählung ist eine der anrührendsten der russischen Literatur, sie endet - typisch für Schalamow - ohne Aufschrei und abrupt mit der Öffnungszeit der offiziellen Läden, wo Wertsachen eingetauscht werden konnten.
Was der Dichter in einer gewaltigen Gedächtnisleistung in den "Erzählungen aus Kolyma" versammelt, ist nicht weniger als die Enzyklopädie des Menschlichen und des Unmenschlichen. Auch unter dem Bewachungspersonal, den "Bestien auf Befehl", gibt es Abstufungen. Die Erzählung "Ingenieur Kisseljow" führt einen Natschalnik vor, der sich durch Belesenheit und Bildung auszeichnet - und sich als der schlimmste Schlächter entpuppt.
Wie Menschen reagieren auf fünfzig Grad Frost, Hunger, Sklavenarbeit und Schläge, aber auch auf seltene Zeichen der Solidarität - das ist in diesem tiefgründigen Katalog der menschenmöglichen Verhaltensweisen zu erkennen. Über die nicht auszurottende Sehnsucht nach Freiheit und völlig aussichtslose Fluchtversuche gibt die Erzählung "Der grüne Staatsanwalt" Auskunft. In "Mai" erfährt man von "tausend Arten", den Genuss von Brot zu verlängern. "Essen" ist das falsche Wort: "Man konnte dieses Brot lecken, bis es von der Handfläche verschwindet; man konnte Krümel, winzige Krümel davon abbrechen und jeden Krümel lutschen und mit der Zunge im Mund umdrehen."
Wozu Menschen fähig sind für einen Augenblick in Ofennähe oder gar den ersehnten Aufenthalt in der Krankenstation, übersteigt die Vorstellung. Die "Selbstverstümmler" nehmen einen besonderen Platz ein in Schalamows Häftlingsgalerie. Kolja Rutschkin in "Der Geschäftsmann" sprengt sich die rechte Hand ab, um nicht mehr im tödlichen Bergwerk schuften zu müssen. Als auch noch die Einarmigen als Goldwäscher und "Wegetreter" in Schnee und Eis eingesetzt werden, finden die Verzweifelten neue Methoden, die von Schalamow emotionslos rapportiert werden. Was das Überleben ermöglichte, lässt sich nicht systematisieren: ein ungeheurer Zufall, Geduld, eine banale Fähigkeit, etwa eine leserliche Handschrift, die den Bürogehilfen Krist seine Untersuchungsführer überleben lässt, als beim Wechsel der NKWD-Häuptlinge alle vorherigen Henker erschossen werden. "Und Krist schrieb und schrieb, heftete ab."
Schalamow selbst verdankte dem rettenden Zufall sein Leben, dass er nach acht Jahren zu einer Feldscherausbildung abkommandiert wurde ("Der Lehrgang"). Und in diesem neuen Band erfährt man auch von der unwahrscheinlich anmutenden Rückkehr aus der Hölle nach siebzehn Jahren, der Entlassung nach Stalins Tod. In Irkutsk betritt der Ex-Häftling einen Buchladen: "Aber Bücher in der Hand zu halten . . . das war wie ein guter Borschtsch mit Fleisch . . . Wie ein Glas lebendiges Wasser." Besser lässt sich die Kraft von Schalamows eigenen Büchern nicht beschreiben.
"Das, was ich gesehen habe - soll ein Mensch nicht sehen und nicht einmal wissen." Die Unsagbarkeit und absolute Negativität der Lagererfahrung gehören zu Schalamows Grundsätzen - die er, den Widerspruch nicht fürchtend, fortwährend widerlegt. Dass er mit Bestimmtheit wollte, dass die Menschen vom Schreckensuniversum der Kolyma erfahren, steht außer Zweifel. Wozu hätte er sonst in einem einsamen Akt des Widerstandes Tausende von Seiten seinem Inferno gewidmet? Und noch etwas trieb ihn an: "Ich erschrak über die schreckliche Kraft des Menschen - den Wunsch und die Fähigkeit zu vergessen. Ich wusste, dass ich meinem Gedächtnis nicht erlauben werde, alles zu vergessen, was ich gesehen habe."
Schalamows "Geschichte der Besiegten", so Michail Ryklin im profunden Nachwort, ist auch heute von erheblicher politischer Brisanz, wenn unter Präsident Medwedjew seit 2009 eine Kommission nach "Geschichtsfälschungen zum Schaden Russlands" zu fahnden hat. Wird sich Schalamows bitteres Zeugnis eines Tages vor strammen Kommissionen zu rechtfertigen haben? Sein rigoroser Versuch, die Vergangenheit zu verstehen (das Wort "bewältigen" würde er ablehnen), ist noch kostbarer zu einem Zeitpunkt, da Moskaus Bürgermeister Plakate mit Stalinporträts zur Feier des Sieges im Zweiten Weltkrieg drucken will. Im fulminanten Auftakt des Bandes ("Der Anfall") führen ein Zusammenbruch auf einer Moskauer Straße und die Einlieferung in eine Klinik zum Auftauen des Gedächtnisses. "Ich wollte allein sein. Ich hatte keine Angst vor meinen Erinnerungen."
RALPH DUTLI
Warlam Schalamow: "Künstler der Schaufel". Erzählungen aus Kolyma 3.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2010. 603 S., geb., 29,90 [Euro].
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