Eine Familiengeschichte über mehrere Generationen, die durch die Landschaften des Exils bis nach Europa führt.Piglias während der argentinischen Militärdiktatur entstandener Roman thematisiert Lateinamerikas schicksalhafte Verbindung mit Europa. Exil, Briefe, Geschichtsfetzen, ungeheuerliche Lebensläufe - dies ist der Stoff des Romans, dessen Autor als wichtigster Repräsentant der argentinischen Gegenwartsliteratur gilt.Ein junger Schriftsteller, Emilio Renzi, veröffentlicht seinen ersten Roman, der von einem Ehebruch aus den vierziger Jahren erzählt. Erst nach der Veröffentlichung lernt er den Protagonisten kennen, seinen Onkel Marcelo Maggi, der zurückgezogen in der Provinz lebt und Briefe eines Vorfahren entziffert: Es handelt sich um Enrique Ossorio, in der Mitte des 19. Jahrhunderts Sekretär des Diktators Rosas. Er wurde, halb tragischer Held, halb Verräter, auf dem Weg über Buenos Aires, New York und Santiago, Zeuge der tumultuarischen Geschichte seines Kontinen
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.2002Nachtclub der toten Dichter
Geschichtsträumer: Der argentinische Romancier Ricardo Piglia
Wenn es ein Genre gibt, das der deutschen Gegenwartsliteratur zu ihrem großen Schaden fehlt, dann ist es der historische Roman. Nichts gegen die dicken Schwarten mit historischen Stoffen aus Stein-, Wald- und Wiesenzeiten und mit Figuren vom Medicus bis zu Gaius Pampelmus. Doch der moderne Roman, der Geschichte zugleich erzählt und reflektiert, der unser Verhältnis - oder auch unser Nichtverhältnis - zu ihr beschreibt, der ist fast ganz verschwunden. Daß Übersetzungen diese Lücke füllen können, kann man nun an den Romanen des Argentiniers Ricardo Piglia überprüfen.
"Jede Epoche träumt die vorhergehende" - dieses scheinbar paradoxe Motto von Jules Michelet stellt in "Künstliche Atmung" Enrique Ossorio, ein exilierter argentinischer Intellektueller aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, seinem geplanten Roman voran. Dieses Werk ist ein Zukunftsroman, der im Jahr 1979 spielen und die politischen Wirren um 1838 spiegeln soll, die Ossorio zunächst ins uruguaische und später ins nordamerikanische Exil zwangen. Der Held soll darin zufällige Briefe aus der Zukunft erhalten, mit denen er die ferne Epoche rekonstruiert: Der Prophet als vorwärtsgewandter Historiker.
Im Jahr 1979 ist auch die Gegenwartshandlung von Piglias Roman angesiedelt: Der junge Schriftsteller Emilio Renzi macht sich auf den Weg, im verschlafenen Provinznest Concordia seinen Onkel zu besuchen. Dieser genießt in der Familie einen legendären Ruf, da er einst eine reiche Erbin heiratete, um dann mit ihrem Geld und einer Cabaret-Tänzerin durchzubrennen. Der Neffe verarbeitete diese reißerische Geschichte zu seinem Romandebüt, dessen Lektüre wiederum den Onkel veranlaßte, brieflichen Kontakt aufzunehmen. Er will die Fakten richtigstellen. Über diese verwandtschaftliche Korrektur der Fiktion durch die Erinnerung entspinnt sich ein Briefwechsel, der sich bald einem anderen Gegenstand zuwendet: Der Biographie eben jenes Ossorio, an der der Onkel seit Jahren arbeitet. Sein Heiratsabenteuer stellt sich als Manöver heraus, um eine Truhe mit dem Nachlaß Ossorios, eines Ahnen der Angetrauten, zu ergattern.
In diesem ersten Teil seines Romans inszeniert Piglia auf vertrackte Weise die Begegnung der Epochen als Briefwechsel zwischen Vergangenheit und Zukunft: Aufzeichnungen Ossorios über sein Buchprojekt wechseln ab mit der Korrespondenz zwischen Onkel und Neffen, die sich ebenso wie der Historiker und sein Gegenstand nie leibhaftig begegnen. Eine Schlüsselfigur ist der Enkel Ossorios, ein greiser, an den Rollstuhl gefesselter Senator, über dessen zwischen Wahnsinn und Hellsicht schwankende Monologe Renzi dem Onkel brieflich Bericht erstattet. Einmal berichtet in einem der fiktiven Briefe Ossorios ein Exil-Argentinier aus der Zukunft über ein "ziemlich bemerkenswertes Buch von Thomas Bernhard", das er gerade übersetze. Nicht nur die intrikate Verschränkung der Zeitebenen, die abschweifende, mehrfach indirekte Figurenrede, auch die eindeutig dem Fürsten in Bernhards Roman "Verstörung" nachempfundene Figur des Senators lassen dies als Hinweis auf eines der wichtigen Vorbilder des Buches erkennen.
Piglia, der 1941 in Buenos Aires geboren wurde, zählt zu den wichtigsten argentinischen Autoren der Gegenwart. "Künstliche Atmung" erschien 1980 unter dem Eindruck der Militärdiktatur. Die Themen des Exils, der politischen Wirren, der Repression und Zensur verhandelt Piglia indirekt: Der alte Senator glaubt sich überwacht und verfolgt, und tatsächlich fängt ein ominöser Agent seine Briefe ab. Die Schreiben Ossorios, aus einer in der Vergangenheit geträumten Gegenwart, hält er für verschlüsselte Botschaften eines oppositionellen Geheimzirkels und versucht verzweifelt, sie zu decodieren, als liege die Brisanz nicht in Wahrheit in der Theorie.
Der zweite, "Descartes" überschriebene Teil berichtet von der Reise Renzis nach Concordia, dem Wohnort des Onkels, wo er allerdings nur dessen Freund und Schachpartner Tardewski, einen exilierten Polen, antrifft, und eine Nacht mit Alkohol und langen philosophischen und poetologischen Diskussionen verbringt. Ähnlich wie bei Bernhard (man denke an Murau und Gambetti in der "Auslöschung"), muß man diese zahlreichen Anspielungen, Idiosynkrasien und Systementwürfe nicht im einzelnen nachvollziehen - dazu müßte man auch ein ausgewiesener Hispanist sein -, eher sollte man diese Seiten lesen als Reflexion über den Gang der Menschheitsgeschichte, die sich in den argentinischen Wirren wie im Brennglas verdichtet.
In Concordias "Club Social" begegnen sich ähnlich wie auf dem Schreibtisch des Spitzels die toten Dichter und die historischen Epochen, europäische Vorbilder und lateinamerikanische Variationen: Der ganze Roman ist ein geistesgeschichtliches Gipfeltreffen in effigie, eine spiritistische Sitzung mit Wacholderschnaps, Zungenrede der Zeitzeugen, denen so ein "künstliches Atmen" zuwächst. Während der unverkennbar Witold Gombrowicz nachempfundene Tardewski seine These einer konsequenten Entwicklung vom Rationalismus in den Nationalsozialismus entwickelt oder in einer brillanten historischen Phantasie eine Begegnung zwischen Kafka und Hitler in Prag nachzuweisen versucht, verlegt sich Renzi auf literaturhistorisches Gebiet und entwickelt in Exkursen über Joyce und Borges eine Theorie moderner Literatur und Existenz: "Die Parodie hat die Geschichte vollkommen ersetzt." Wie Argentinien nur die welthistorischen Tragödien noch einmal als Farce nachspielt, steht auch die Literatur im Banne ihrer Vorgänger, wie es Borges in einer seiner genialen Kurzgeschichten über den "Quijote" durchgespielt hat.
Zum Einstieg in das trotz aller Traditionsbezüge eigenwillige und nicht leicht zugängliche Werk Piglias empfielt sich vielleicht der im vergangenen Jahr übersetzte Roman "Brennender Zaster" von 1997, den man auf den ersten Blick nicht demselben Autor zugestehen würde. Nach einem authentischen Fall aus den sechziger Jahren erzählt Piglia spannend und mit Lust am Öbszönen und Perversen die Geschichte einer Verbrecherbande aus Buenos Aires, die sich nach einem brutalen Überfall auf einen Geldtransport nach Montevideo absetzt und am Ende ganzen Polizeibataillonen einen apokalyptischen Endkampf liefert. Die Sprache, ein derber, von Leopold Federmair ungekünstelt übertragener Gossenton, will so gar nicht zu dem ironisch-akademischen Stil der "Atmung" passen, obwohl auch dort neben der geschliffenen Prosa von Borges das "schlechte", der Straße abgelauschte Spanisch seines Zeitgenossen Roberto Arlt gepriesen wird.
Doch nicht nur der Umstand, daß der junge Reporter, der für die Zeitung "El Mundo" über die Belagerung der schwerbewaffneten Gangster berichtet, auch Emilio Renzi heißt, weist auf den tieferen Zusammenhang der beiden Werke. Auch hier wird der Fall nachträglich rekonstruiert, auch hier finden sich stets verschiedene Versionen, auch hier gibt es merkwürdige, zeitlos zwischen den Epochen flottierende Botschaften, die etwa jener Polizeifunker empfängt, der die verschanzte Bande abhören soll. Mit einigem Recht ließe sich "Brennender Zaster" als Umsetzung des in "Künstliche Atmung" entwickelten Programms verstehen. Denn das Abenteuer der im Kokainrausch durchdrehenden Killer wirkt wie die Parodie einer Desperadotruppe aus vergangenen Zeiten. Ständig führen die Mörder den Namen Perons im Mund, für dessen Wiederkehr sie zu kämpfen vorgeben. In der aberwitzig in die Länge gezogenen Endschlacht werden sie zu Heroen der Selbstüberwindung, gar zu stigmatisierten Christusfiguren, durch die mythische Zeiten lebendig werden.
So wird das Programm Piglias im Zusammenklang der beiden Romane ganz erkennbar: Literatur und Geschichtsschreibung sind Versuche, eine Vergangenheit zu beleben, Versuche, die unweigerlich künstlich sein müssen, da nur - wie im Briefwechsel - die Illusion einer Nähe und einer Gegenwart gelingen kann. Daß die Literatur immer hinter der Wirklichkeit zurückbleiben wird, ist ihre Tragik und ihr Antrieb zugleich: "Die toten Reste der Wörter, die Mann und Frau im Schlafzimmer benutzen und in den Geschäften und auf den Klos, denn die Polizei und die Ganoven (dachte Renzi) sind die einzigen, die es verstehen, aus den Wörtern lebendige Dinge zu machen, Wortnadeln, die sich ins Fleisch bohren und dir die Seele zerstören wie ein Ei, das man in die Pfanne schlägt."
Ricardo Piglia: "Brennender Zaster". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Leopold Federmair. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2001. 192 S., geb., 17,50 [Euro].
Ricardo Piglia: "Künstliche Atmung". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Sabine Giersberg. Mit einem Nachwort von Leopold Federmair. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002. 224 S., geb., 19,50 [Euro].
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Geschichtsträumer: Der argentinische Romancier Ricardo Piglia
Wenn es ein Genre gibt, das der deutschen Gegenwartsliteratur zu ihrem großen Schaden fehlt, dann ist es der historische Roman. Nichts gegen die dicken Schwarten mit historischen Stoffen aus Stein-, Wald- und Wiesenzeiten und mit Figuren vom Medicus bis zu Gaius Pampelmus. Doch der moderne Roman, der Geschichte zugleich erzählt und reflektiert, der unser Verhältnis - oder auch unser Nichtverhältnis - zu ihr beschreibt, der ist fast ganz verschwunden. Daß Übersetzungen diese Lücke füllen können, kann man nun an den Romanen des Argentiniers Ricardo Piglia überprüfen.
"Jede Epoche träumt die vorhergehende" - dieses scheinbar paradoxe Motto von Jules Michelet stellt in "Künstliche Atmung" Enrique Ossorio, ein exilierter argentinischer Intellektueller aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, seinem geplanten Roman voran. Dieses Werk ist ein Zukunftsroman, der im Jahr 1979 spielen und die politischen Wirren um 1838 spiegeln soll, die Ossorio zunächst ins uruguaische und später ins nordamerikanische Exil zwangen. Der Held soll darin zufällige Briefe aus der Zukunft erhalten, mit denen er die ferne Epoche rekonstruiert: Der Prophet als vorwärtsgewandter Historiker.
Im Jahr 1979 ist auch die Gegenwartshandlung von Piglias Roman angesiedelt: Der junge Schriftsteller Emilio Renzi macht sich auf den Weg, im verschlafenen Provinznest Concordia seinen Onkel zu besuchen. Dieser genießt in der Familie einen legendären Ruf, da er einst eine reiche Erbin heiratete, um dann mit ihrem Geld und einer Cabaret-Tänzerin durchzubrennen. Der Neffe verarbeitete diese reißerische Geschichte zu seinem Romandebüt, dessen Lektüre wiederum den Onkel veranlaßte, brieflichen Kontakt aufzunehmen. Er will die Fakten richtigstellen. Über diese verwandtschaftliche Korrektur der Fiktion durch die Erinnerung entspinnt sich ein Briefwechsel, der sich bald einem anderen Gegenstand zuwendet: Der Biographie eben jenes Ossorio, an der der Onkel seit Jahren arbeitet. Sein Heiratsabenteuer stellt sich als Manöver heraus, um eine Truhe mit dem Nachlaß Ossorios, eines Ahnen der Angetrauten, zu ergattern.
In diesem ersten Teil seines Romans inszeniert Piglia auf vertrackte Weise die Begegnung der Epochen als Briefwechsel zwischen Vergangenheit und Zukunft: Aufzeichnungen Ossorios über sein Buchprojekt wechseln ab mit der Korrespondenz zwischen Onkel und Neffen, die sich ebenso wie der Historiker und sein Gegenstand nie leibhaftig begegnen. Eine Schlüsselfigur ist der Enkel Ossorios, ein greiser, an den Rollstuhl gefesselter Senator, über dessen zwischen Wahnsinn und Hellsicht schwankende Monologe Renzi dem Onkel brieflich Bericht erstattet. Einmal berichtet in einem der fiktiven Briefe Ossorios ein Exil-Argentinier aus der Zukunft über ein "ziemlich bemerkenswertes Buch von Thomas Bernhard", das er gerade übersetze. Nicht nur die intrikate Verschränkung der Zeitebenen, die abschweifende, mehrfach indirekte Figurenrede, auch die eindeutig dem Fürsten in Bernhards Roman "Verstörung" nachempfundene Figur des Senators lassen dies als Hinweis auf eines der wichtigen Vorbilder des Buches erkennen.
Piglia, der 1941 in Buenos Aires geboren wurde, zählt zu den wichtigsten argentinischen Autoren der Gegenwart. "Künstliche Atmung" erschien 1980 unter dem Eindruck der Militärdiktatur. Die Themen des Exils, der politischen Wirren, der Repression und Zensur verhandelt Piglia indirekt: Der alte Senator glaubt sich überwacht und verfolgt, und tatsächlich fängt ein ominöser Agent seine Briefe ab. Die Schreiben Ossorios, aus einer in der Vergangenheit geträumten Gegenwart, hält er für verschlüsselte Botschaften eines oppositionellen Geheimzirkels und versucht verzweifelt, sie zu decodieren, als liege die Brisanz nicht in Wahrheit in der Theorie.
Der zweite, "Descartes" überschriebene Teil berichtet von der Reise Renzis nach Concordia, dem Wohnort des Onkels, wo er allerdings nur dessen Freund und Schachpartner Tardewski, einen exilierten Polen, antrifft, und eine Nacht mit Alkohol und langen philosophischen und poetologischen Diskussionen verbringt. Ähnlich wie bei Bernhard (man denke an Murau und Gambetti in der "Auslöschung"), muß man diese zahlreichen Anspielungen, Idiosynkrasien und Systementwürfe nicht im einzelnen nachvollziehen - dazu müßte man auch ein ausgewiesener Hispanist sein -, eher sollte man diese Seiten lesen als Reflexion über den Gang der Menschheitsgeschichte, die sich in den argentinischen Wirren wie im Brennglas verdichtet.
In Concordias "Club Social" begegnen sich ähnlich wie auf dem Schreibtisch des Spitzels die toten Dichter und die historischen Epochen, europäische Vorbilder und lateinamerikanische Variationen: Der ganze Roman ist ein geistesgeschichtliches Gipfeltreffen in effigie, eine spiritistische Sitzung mit Wacholderschnaps, Zungenrede der Zeitzeugen, denen so ein "künstliches Atmen" zuwächst. Während der unverkennbar Witold Gombrowicz nachempfundene Tardewski seine These einer konsequenten Entwicklung vom Rationalismus in den Nationalsozialismus entwickelt oder in einer brillanten historischen Phantasie eine Begegnung zwischen Kafka und Hitler in Prag nachzuweisen versucht, verlegt sich Renzi auf literaturhistorisches Gebiet und entwickelt in Exkursen über Joyce und Borges eine Theorie moderner Literatur und Existenz: "Die Parodie hat die Geschichte vollkommen ersetzt." Wie Argentinien nur die welthistorischen Tragödien noch einmal als Farce nachspielt, steht auch die Literatur im Banne ihrer Vorgänger, wie es Borges in einer seiner genialen Kurzgeschichten über den "Quijote" durchgespielt hat.
Zum Einstieg in das trotz aller Traditionsbezüge eigenwillige und nicht leicht zugängliche Werk Piglias empfielt sich vielleicht der im vergangenen Jahr übersetzte Roman "Brennender Zaster" von 1997, den man auf den ersten Blick nicht demselben Autor zugestehen würde. Nach einem authentischen Fall aus den sechziger Jahren erzählt Piglia spannend und mit Lust am Öbszönen und Perversen die Geschichte einer Verbrecherbande aus Buenos Aires, die sich nach einem brutalen Überfall auf einen Geldtransport nach Montevideo absetzt und am Ende ganzen Polizeibataillonen einen apokalyptischen Endkampf liefert. Die Sprache, ein derber, von Leopold Federmair ungekünstelt übertragener Gossenton, will so gar nicht zu dem ironisch-akademischen Stil der "Atmung" passen, obwohl auch dort neben der geschliffenen Prosa von Borges das "schlechte", der Straße abgelauschte Spanisch seines Zeitgenossen Roberto Arlt gepriesen wird.
Doch nicht nur der Umstand, daß der junge Reporter, der für die Zeitung "El Mundo" über die Belagerung der schwerbewaffneten Gangster berichtet, auch Emilio Renzi heißt, weist auf den tieferen Zusammenhang der beiden Werke. Auch hier wird der Fall nachträglich rekonstruiert, auch hier finden sich stets verschiedene Versionen, auch hier gibt es merkwürdige, zeitlos zwischen den Epochen flottierende Botschaften, die etwa jener Polizeifunker empfängt, der die verschanzte Bande abhören soll. Mit einigem Recht ließe sich "Brennender Zaster" als Umsetzung des in "Künstliche Atmung" entwickelten Programms verstehen. Denn das Abenteuer der im Kokainrausch durchdrehenden Killer wirkt wie die Parodie einer Desperadotruppe aus vergangenen Zeiten. Ständig führen die Mörder den Namen Perons im Mund, für dessen Wiederkehr sie zu kämpfen vorgeben. In der aberwitzig in die Länge gezogenen Endschlacht werden sie zu Heroen der Selbstüberwindung, gar zu stigmatisierten Christusfiguren, durch die mythische Zeiten lebendig werden.
So wird das Programm Piglias im Zusammenklang der beiden Romane ganz erkennbar: Literatur und Geschichtsschreibung sind Versuche, eine Vergangenheit zu beleben, Versuche, die unweigerlich künstlich sein müssen, da nur - wie im Briefwechsel - die Illusion einer Nähe und einer Gegenwart gelingen kann. Daß die Literatur immer hinter der Wirklichkeit zurückbleiben wird, ist ihre Tragik und ihr Antrieb zugleich: "Die toten Reste der Wörter, die Mann und Frau im Schlafzimmer benutzen und in den Geschäften und auf den Klos, denn die Polizei und die Ganoven (dachte Renzi) sind die einzigen, die es verstehen, aus den Wörtern lebendige Dinge zu machen, Wortnadeln, die sich ins Fleisch bohren und dir die Seele zerstören wie ein Ei, das man in die Pfanne schlägt."
Ricardo Piglia: "Brennender Zaster". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Leopold Federmair. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2001. 192 S., geb., 17,50 [Euro].
Ricardo Piglia: "Künstliche Atmung". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Sabine Giersberg. Mit einem Nachwort von Leopold Federmair. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002. 224 S., geb., 19,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Zensur ist anstrengend, sowohl für den Autor als auch für den Leser, hat der Rezensent Andreas Breitenstein bei seiner Lektüre festgestellt. Denn der während der Militärdiktatur geschriebene Roman des in Argentinien legendären Schriftstellers Ricardo Piglia sei aus Zensurgründen dermaßen verschränkt, die Textebenen dermaßen "dicht komprimiert und virtuos ineinander gefügt", dass sich der "Erstickungstod" der Diktatur auch im "Grauen" der Textentwirrung manifestiere. In zwei "ineinander greifenden, detektivisch angelegten historischen Recherchen" - Marcelo Maggi recherchiert über den Außenseiter Enrique Ossorio, und der Schriftsteller Emilio Renzi seinerseits über den verschwundenen Maggi - konstruiere Piglia eine Art "Schachpartie", ein "Duell von Taktik und Täuschung, Interpretation und Desinformation", in dessen Entschlüsselung der Leser mitverstrickt wird. Dies klinge "kompliziert", gibt der Rezensent zu, "und ist in Wirklichkeit noch komplizierter". Und so muss der bewundernde Breitenstein auch kapitulieren vor der Schilderung des Plots, denn eine solche werde von die "Stilprinzipien"des Romans - "Zitat und Verschachtelung, Doppelung und Spiegelung, Bruch und Widerspruch" - unmöglich gemacht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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