Die junge salvadorianische Frau, die da frisch von ihrem Schweizer Internat in Paris eintrifft und wegen ihrer erlernten Artigkeit prompt in einer Mädchenpension sehr zweifelhaften Rufs landet, heißt Fernanda María de la Trinidad del Monte Montes. O ja, sie stammt aus bester Familie. Er aber nennt sie Tarzan, denn sie bewegt sich durch den verworrenen Dschungel ihres Lebens ohne eine andere Deckung als die Gewißheit, daß ihre Gefühle sie nicht trügen können.
Er heißt Juan Manuel Carpio, ist Liedermacher und Gitarrist aus Lima und verdient die notwendigen Francs zu seinem mageren Lotterleben mit der Mütze in der Hand und dem einen oder anderen Auftritt in Latinolokalen und Diplomatenkreisen. Das Aufeinanderzufliegen geht ganz von selbst, auch wenn er älter ist als sie und die tieftraurigen Liebeslieder, mit denen er sie umgarnt, eigentlich seiner Ehefrau Luisa gelten. Daß die, ein blondes Wunder an Tüchtigkeit und Anhänglichkeit, ihn verlassen hat, wen wundert's. Er aber ist Künstler und ein Meister zwiefacher Empfindungen. So stürzt er sich mit Elan in die neue Liebe.
Leicht ist es, dieses rothaarige Mädchen, das sich in den Kopf gesetzt hat, auf eigenen Füßen zu stehen, mit Hingabe zu lieben; die Liebe zu leben aber wird den beiden - nicht nur von anderer Seite - schwer gemacht. Sie werden auseinandertreiben und wieder zusammenkommen, sich verlieren und sich wieder finden; eine Ménage à trois mit wandelnden Konstellationen, manchmal heimlich, manchmal skandalös offen. Die Dritte in dieser lebenslangen Liaison aber ist: die Zeit. Die Zeit und ihr Verstreichen, ihre Macht und ihre Ohnmacht gegenüber Gefühlen von wahrhaft lianenhafter Stärke.
Er heißt Juan Manuel Carpio, ist Liedermacher und Gitarrist aus Lima und verdient die notwendigen Francs zu seinem mageren Lotterleben mit der Mütze in der Hand und dem einen oder anderen Auftritt in Latinolokalen und Diplomatenkreisen. Das Aufeinanderzufliegen geht ganz von selbst, auch wenn er älter ist als sie und die tieftraurigen Liebeslieder, mit denen er sie umgarnt, eigentlich seiner Ehefrau Luisa gelten. Daß die, ein blondes Wunder an Tüchtigkeit und Anhänglichkeit, ihn verlassen hat, wen wundert's. Er aber ist Künstler und ein Meister zwiefacher Empfindungen. So stürzt er sich mit Elan in die neue Liebe.
Leicht ist es, dieses rothaarige Mädchen, das sich in den Kopf gesetzt hat, auf eigenen Füßen zu stehen, mit Hingabe zu lieben; die Liebe zu leben aber wird den beiden - nicht nur von anderer Seite - schwer gemacht. Sie werden auseinandertreiben und wieder zusammenkommen, sich verlieren und sich wieder finden; eine Ménage à trois mit wandelnden Konstellationen, manchmal heimlich, manchmal skandalös offen. Die Dritte in dieser lebenslangen Liaison aber ist: die Zeit. Die Zeit und ihr Verstreichen, ihre Macht und ihre Ohnmacht gegenüber Gefühlen von wahrhaft lianenhafter Stärke.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.07.2001Fräulein Tarzans Weg aus der Naivität
Liebe macht klüger: Der peruanische Erzähler Alfredo Bryce Echenique und sein Roman „Küss mich, du Idiot”
„Was in dem Buch da ist, das weiß ich schon. Eine bessere Zeit, und meine ganze Jugend”, bemerkte Tucholsky lakonisch über sein „Bilderbuch für Verliebte”. Die „bessere” Zeit hat auch Alfredo Bryce Echenique in seinem Roman „Küss mich, du Idiot” festgehalten. Federleicht und heiter wie „Rheinsberg” erzählt der Briefroman des 62-jährigen Peruaners von einer sentimental journey mit vielen Haltestellen in aller Welt.
Im Paris der Studentenrevolte und des Booms lateinamerikanischer Literatur verliebt sich der Ich-Erzähler, ein Liedermacher mit indianischen Zügen, in eine grünäugige „Oligarchin” aus San Salvador. Obwohl berufen, der spanische Nat King Cole zu sein, muss er seinen Lebensunterhalt mit Anden- Folklore vor Che-Plakaten in der Metro und mit Gelegenheitsauftritten bei Botschaftsempfängen verdienen. Auf einem dieser Feste trifft er das hübsche Mädchen aus gutem Hause. María Fernanda de la Trinidad del Monte Montes beherrscht, dank Schweizer Internate und amerikanischer Colleges, zwar fließend fünf Sprachen, kann aber ein Heim für junge nicht von einem Heim für „gefallene” Mädchen unterscheiden. Kurz, sie ist zu Beginn des Romans so charmant weltfremd wie Audrey Hepburn in dem Film „Ein Herz und eine Krone”. Im Verlauf der dreißig Jahre währenden Romanze, die sich mehr von Briefen als von Umarmungen nährt, wird jedoch aus der schönen Naiven ein im Dschungel des Lebens erprobter weiblicher Tarzan. Leider ist es dem Verlag nicht gelungen, den wunderbar komischen Originaltitel „La amigdalitis de Tarzán” (etwa: Tarzans Mandelentzündung) ins Deutsche hinüberzuretten.
Standen die lateinamerikanischen Erzähler zu Zeiten des Booms noch im Zeichen des magischen Realismus, so feilt Bryce Echenique, der lange in Paris und dann in Madrid gelebt hat, seit seinen ersten Erzählungen Mitte der sechziger Jahre am „ironischen” Realismus. Wie die von ihm geschätzten spanischen Romanciers Miguel Delibes und Gonzálo Torrente Ballester betrachtet er seine Figuren aus der Nähe, mit wohlwollender Ironie, ohne sie dabei zu denunzieren.
Der nach dreißig Jahren freiwilligen Exils wieder in seine Heimat zurückgekehrte Kosmopolit und Literaturprofessor durchsetzt seine Prosa mit der Vitalität und dem Erfindungsreichtum der gesprochenen Sprache, mit Neologismen, „Peruanismen”, Liedfragmenten, literarischen Zitaten. Zu seinem unbekümmert freien Stil, seinen Exkursen und Abschweifungen hat er sich durch die Erzählungen Julio Cortázars anregen lassen. Doch der leichte Ton ist das Ergebnis harter Arbeit. Gelegentlich ist freilich das Nachlassen der Anstrengung unverkennbar. Dann klingt das fröhlich freche Parlando dünn und aufgesetzt. Allzu oft taucht im Roman das Verb „vergöttern” auf und hinterlässt eine klebrig zuckersüße Spur. Echeniques Protagonisten „vergöttern” nicht nur sich, sondern auch ihre Nebenbuhler einschließlich deren Nachkommen. Die Mischung aus Heimweh, Weltoffenheit und Lebensfreude gibt den Figuren ihre Familienähnlichkeit und bestimmt den Ton des Romans. So souverän jedoch wie einst Tucholsky in „Gripsholm” schreibt Bryce Echenique nicht an den Klischees des Liebesromans vorbei. Es gibt prügelnde, trunksüchtige Ehemänner, Rivalinnen, die schallende Ohrfeigen austauschen, tumbe oder endlos tolerante Amerikaner, eine wortkarge Spanierin anarchistischer Herkunft und Schauplätze wie in einem alten James-Bond-Film: Paris 1968, die Balearen, El Salvador im Bürgerkrieg, London, die Schweiz, Chile, Florida und Berkeley. Wo sie auch sind, Echeniques Weltenbummler sind sentimental, treu und haben das Herz am rechten Fleck. Doch auch wenn sein Tarzan gelegentlich Halsweh hat, soll uns die Stimme Bryce Echeniques willkommen sein.
EVITA BAUER
ALFREDO BRYCE ECHENIQUE: Küss mich, du Idiot. Roman. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 2000. 322 Seiten, 39,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Liebe macht klüger: Der peruanische Erzähler Alfredo Bryce Echenique und sein Roman „Küss mich, du Idiot”
„Was in dem Buch da ist, das weiß ich schon. Eine bessere Zeit, und meine ganze Jugend”, bemerkte Tucholsky lakonisch über sein „Bilderbuch für Verliebte”. Die „bessere” Zeit hat auch Alfredo Bryce Echenique in seinem Roman „Küss mich, du Idiot” festgehalten. Federleicht und heiter wie „Rheinsberg” erzählt der Briefroman des 62-jährigen Peruaners von einer sentimental journey mit vielen Haltestellen in aller Welt.
Im Paris der Studentenrevolte und des Booms lateinamerikanischer Literatur verliebt sich der Ich-Erzähler, ein Liedermacher mit indianischen Zügen, in eine grünäugige „Oligarchin” aus San Salvador. Obwohl berufen, der spanische Nat King Cole zu sein, muss er seinen Lebensunterhalt mit Anden- Folklore vor Che-Plakaten in der Metro und mit Gelegenheitsauftritten bei Botschaftsempfängen verdienen. Auf einem dieser Feste trifft er das hübsche Mädchen aus gutem Hause. María Fernanda de la Trinidad del Monte Montes beherrscht, dank Schweizer Internate und amerikanischer Colleges, zwar fließend fünf Sprachen, kann aber ein Heim für junge nicht von einem Heim für „gefallene” Mädchen unterscheiden. Kurz, sie ist zu Beginn des Romans so charmant weltfremd wie Audrey Hepburn in dem Film „Ein Herz und eine Krone”. Im Verlauf der dreißig Jahre währenden Romanze, die sich mehr von Briefen als von Umarmungen nährt, wird jedoch aus der schönen Naiven ein im Dschungel des Lebens erprobter weiblicher Tarzan. Leider ist es dem Verlag nicht gelungen, den wunderbar komischen Originaltitel „La amigdalitis de Tarzán” (etwa: Tarzans Mandelentzündung) ins Deutsche hinüberzuretten.
Standen die lateinamerikanischen Erzähler zu Zeiten des Booms noch im Zeichen des magischen Realismus, so feilt Bryce Echenique, der lange in Paris und dann in Madrid gelebt hat, seit seinen ersten Erzählungen Mitte der sechziger Jahre am „ironischen” Realismus. Wie die von ihm geschätzten spanischen Romanciers Miguel Delibes und Gonzálo Torrente Ballester betrachtet er seine Figuren aus der Nähe, mit wohlwollender Ironie, ohne sie dabei zu denunzieren.
Der nach dreißig Jahren freiwilligen Exils wieder in seine Heimat zurückgekehrte Kosmopolit und Literaturprofessor durchsetzt seine Prosa mit der Vitalität und dem Erfindungsreichtum der gesprochenen Sprache, mit Neologismen, „Peruanismen”, Liedfragmenten, literarischen Zitaten. Zu seinem unbekümmert freien Stil, seinen Exkursen und Abschweifungen hat er sich durch die Erzählungen Julio Cortázars anregen lassen. Doch der leichte Ton ist das Ergebnis harter Arbeit. Gelegentlich ist freilich das Nachlassen der Anstrengung unverkennbar. Dann klingt das fröhlich freche Parlando dünn und aufgesetzt. Allzu oft taucht im Roman das Verb „vergöttern” auf und hinterlässt eine klebrig zuckersüße Spur. Echeniques Protagonisten „vergöttern” nicht nur sich, sondern auch ihre Nebenbuhler einschließlich deren Nachkommen. Die Mischung aus Heimweh, Weltoffenheit und Lebensfreude gibt den Figuren ihre Familienähnlichkeit und bestimmt den Ton des Romans. So souverän jedoch wie einst Tucholsky in „Gripsholm” schreibt Bryce Echenique nicht an den Klischees des Liebesromans vorbei. Es gibt prügelnde, trunksüchtige Ehemänner, Rivalinnen, die schallende Ohrfeigen austauschen, tumbe oder endlos tolerante Amerikaner, eine wortkarge Spanierin anarchistischer Herkunft und Schauplätze wie in einem alten James-Bond-Film: Paris 1968, die Balearen, El Salvador im Bürgerkrieg, London, die Schweiz, Chile, Florida und Berkeley. Wo sie auch sind, Echeniques Weltenbummler sind sentimental, treu und haben das Herz am rechten Fleck. Doch auch wenn sein Tarzan gelegentlich Halsweh hat, soll uns die Stimme Bryce Echeniques willkommen sein.
EVITA BAUER
ALFREDO BRYCE ECHENIQUE: Küss mich, du Idiot. Roman. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 2000. 322 Seiten, 39,80 Mark.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2001Der Kondor und die Königskinder
Andenselig: Alfredo Bryce Echeniques Roman "Küß mich, du Idiot"
An Klischees herrscht in diesem Roman wahrlich kein Mangel, und doch bricht er immer wieder aus erwarteten Handlungsmustern aus. Eine tragikomische Liebesgeschichte wird uns erzählt, die sich über Jahrzehnte erstreckt. Ihre Protagonisten machen die halbe Welt zum Schauplatz ihrer Liebe und tragen traditionsreiche Namen: Er heißt Juan Manuel Carpio und ist ein peruanischer Liedermacher, ausgestattet mit den Attributen eines Latin Lover, mit viel Gefühl und sanfter Stimme, mit schwarzen Haaren, einem "andinen Thorax" und indianischen Zügen. Sie, behütete Tochter einer angesehenen salvadorianischen Familie, führt einen viel komplizierteren Namen, läßt sich aber gern Fernanda Maria nennen. Ein moderner Don Juan und eine moderne heilige Maria also treffen im Paris der späten sechziger Jahre aufeinander, und diese Begegnung mündet unweigerlich in eine große Passion.
Nur reicht Leidenschaft allein nicht aus, um ein Leben in Harmonie zu führen. Das größte Handicap dieser Liebenden ist ihre Unfähigkeit, wie es in der Sprache des internationalen Luftverkehrs heißt, die "estimated time of arrival" einzuhalten. Immer wieder sind sie zur falschen Zeit am falschen Ort. Während Juan Manuel sehnsüchtigen Gedanken an seine große Liebe nachhängt, schlittert sie in eine Ehe mit einem chilenischen Fotografen; während Fernanda Maria Jahre später, längst getrennt vom Vater ihrer Kinder, ungeduldig auf Briefe ihres Sängers wartet, läßt der, inzwischen stolzer Grundbesitzer, seinen mediterranen Garten von einer anderen bestellen. Und am Ende, als das ersehnte Lebensglück nahe scheint und der fast sechzigjährige Juan seiner Maria endlich einen Heiratsantrag machen will, teilt sie ihm lakonisch mit, daß sie inzwischen Ehefrau eines gewissen Bob aus den Staaten geworden ist. Solch mangelnde Abstimmung in ihren Lebensplänen beirrt die beiden allerdings kaum - noch dreißig Jahre nach ihrer ersten Begegnung schreiben sie einander zärtliche Briefe und nehmen allerlei Komplikationen auf sich, um wenigstens für ein paar Tage im Jahr einander nahe zu sein, sei es in Mexiko, in Kalifornien oder an den Stränden Menorcas.
Es ist ein zeitgenössisches Märchen, das der Peruaner Alfredo Bryce Echenique - in der spanischsprachigen Welt seit langem ein bekannter Autor - mit fröhlicher Unbekümmertheit erzählt. Auch wenn die Orte und Daten dieses Romans sich in jedem Atlas, in jedem Geschichtsbuch überprüfen lassen, bleibt das Geschehen von einem Schleier des Unwirklichen überzogen. In der Perspektive der Liebenden verlieren selbst die politischen Greueltaten in den Ländern Mittel- und Südamerikas ihre Bedrohlichkeit. Wenn Fernanda Maria die Morde und Plünderungen in ihrem Heimatland El Salvador beschreibt, geschieht dies nicht um der politischen Anklage willen, sondern bildet nur den Hintergrund für eine neue Liebeserklärung: Noch im "bombenerschütterten hintersten Winkel der Welt" wartet sie darauf, daß im Radio ein Lied ihres Liebsten gespielt wird; denn der ist im Lauf der Jahre vom Straßensänger zum international gefeierten Star aufgestiegen.
Überhaupt durchzieht eine vielstimmige Tonspur das gesamte Buch, von der bei der Übertragung ins Deutsche freilich nicht mehr allzuviel erkennbar ist. Der Übersetzer weist in einer Nachbemerkung selbst darauf hin, wie oft hier die Musik Lateinamerikas erklingt. Eng vertraut mit der südamerikanischen Folklore, verständigen sich Fernanda Maria und Juan Manuel gern in Anspielungen auf bekannte Tangos, Boleros und andere populäre Lieder. Für deutsche Leser bleibt als schwaches Panflöten-Echo der Flügelschlag eines vorbeiziehenden Kondors; denn "El condor pasa", das musikalische Leitmotiv nördlicher Anden-Sentimentalität, darf in diesem bunten Mosaik südamerikanischer Impressionen natürlich nicht fehlen. Vertrauter noch tönt die Stimme Frank Sinatras, der mit melancholischen Betrachtungen die Treffen der Liebenden begleitet, die - anders als die zwei Königskinder der Ballade - immer wieder selbst den Graben zwischen sich mit tiefem Wasser füllen, um einander dann von getrennten Ufern um so leidenschaftlicher zuzuwinken.
Am Ende bleibt das Hohelied auf eine Liebe, die durch nichts zu erschüttern ist, weder durch persönliche Unzulänglichkeiten noch durch Bedrohungen von außen. Das Rezept, das Alfredo Bryce Echenique für alle Widrigkeiten des Lebens bereithält, ist von frappierender Schlichtheit. Der rasante Titel, den der deutsche Verlag gewählt hat, komprimiert es zu einer knappen Formel.
SABINE DOERING
Alfredo Bryce Echenique: "Küß mich, du Idiot". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Matthias Strobel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 325 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andenselig: Alfredo Bryce Echeniques Roman "Küß mich, du Idiot"
An Klischees herrscht in diesem Roman wahrlich kein Mangel, und doch bricht er immer wieder aus erwarteten Handlungsmustern aus. Eine tragikomische Liebesgeschichte wird uns erzählt, die sich über Jahrzehnte erstreckt. Ihre Protagonisten machen die halbe Welt zum Schauplatz ihrer Liebe und tragen traditionsreiche Namen: Er heißt Juan Manuel Carpio und ist ein peruanischer Liedermacher, ausgestattet mit den Attributen eines Latin Lover, mit viel Gefühl und sanfter Stimme, mit schwarzen Haaren, einem "andinen Thorax" und indianischen Zügen. Sie, behütete Tochter einer angesehenen salvadorianischen Familie, führt einen viel komplizierteren Namen, läßt sich aber gern Fernanda Maria nennen. Ein moderner Don Juan und eine moderne heilige Maria also treffen im Paris der späten sechziger Jahre aufeinander, und diese Begegnung mündet unweigerlich in eine große Passion.
Nur reicht Leidenschaft allein nicht aus, um ein Leben in Harmonie zu führen. Das größte Handicap dieser Liebenden ist ihre Unfähigkeit, wie es in der Sprache des internationalen Luftverkehrs heißt, die "estimated time of arrival" einzuhalten. Immer wieder sind sie zur falschen Zeit am falschen Ort. Während Juan Manuel sehnsüchtigen Gedanken an seine große Liebe nachhängt, schlittert sie in eine Ehe mit einem chilenischen Fotografen; während Fernanda Maria Jahre später, längst getrennt vom Vater ihrer Kinder, ungeduldig auf Briefe ihres Sängers wartet, läßt der, inzwischen stolzer Grundbesitzer, seinen mediterranen Garten von einer anderen bestellen. Und am Ende, als das ersehnte Lebensglück nahe scheint und der fast sechzigjährige Juan seiner Maria endlich einen Heiratsantrag machen will, teilt sie ihm lakonisch mit, daß sie inzwischen Ehefrau eines gewissen Bob aus den Staaten geworden ist. Solch mangelnde Abstimmung in ihren Lebensplänen beirrt die beiden allerdings kaum - noch dreißig Jahre nach ihrer ersten Begegnung schreiben sie einander zärtliche Briefe und nehmen allerlei Komplikationen auf sich, um wenigstens für ein paar Tage im Jahr einander nahe zu sein, sei es in Mexiko, in Kalifornien oder an den Stränden Menorcas.
Es ist ein zeitgenössisches Märchen, das der Peruaner Alfredo Bryce Echenique - in der spanischsprachigen Welt seit langem ein bekannter Autor - mit fröhlicher Unbekümmertheit erzählt. Auch wenn die Orte und Daten dieses Romans sich in jedem Atlas, in jedem Geschichtsbuch überprüfen lassen, bleibt das Geschehen von einem Schleier des Unwirklichen überzogen. In der Perspektive der Liebenden verlieren selbst die politischen Greueltaten in den Ländern Mittel- und Südamerikas ihre Bedrohlichkeit. Wenn Fernanda Maria die Morde und Plünderungen in ihrem Heimatland El Salvador beschreibt, geschieht dies nicht um der politischen Anklage willen, sondern bildet nur den Hintergrund für eine neue Liebeserklärung: Noch im "bombenerschütterten hintersten Winkel der Welt" wartet sie darauf, daß im Radio ein Lied ihres Liebsten gespielt wird; denn der ist im Lauf der Jahre vom Straßensänger zum international gefeierten Star aufgestiegen.
Überhaupt durchzieht eine vielstimmige Tonspur das gesamte Buch, von der bei der Übertragung ins Deutsche freilich nicht mehr allzuviel erkennbar ist. Der Übersetzer weist in einer Nachbemerkung selbst darauf hin, wie oft hier die Musik Lateinamerikas erklingt. Eng vertraut mit der südamerikanischen Folklore, verständigen sich Fernanda Maria und Juan Manuel gern in Anspielungen auf bekannte Tangos, Boleros und andere populäre Lieder. Für deutsche Leser bleibt als schwaches Panflöten-Echo der Flügelschlag eines vorbeiziehenden Kondors; denn "El condor pasa", das musikalische Leitmotiv nördlicher Anden-Sentimentalität, darf in diesem bunten Mosaik südamerikanischer Impressionen natürlich nicht fehlen. Vertrauter noch tönt die Stimme Frank Sinatras, der mit melancholischen Betrachtungen die Treffen der Liebenden begleitet, die - anders als die zwei Königskinder der Ballade - immer wieder selbst den Graben zwischen sich mit tiefem Wasser füllen, um einander dann von getrennten Ufern um so leidenschaftlicher zuzuwinken.
Am Ende bleibt das Hohelied auf eine Liebe, die durch nichts zu erschüttern ist, weder durch persönliche Unzulänglichkeiten noch durch Bedrohungen von außen. Das Rezept, das Alfredo Bryce Echenique für alle Widrigkeiten des Lebens bereithält, ist von frappierender Schlichtheit. Der rasante Titel, den der deutsche Verlag gewählt hat, komprimiert es zu einer knappen Formel.
SABINE DOERING
Alfredo Bryce Echenique: "Küß mich, du Idiot". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Matthias Strobel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 325 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main