Da sind zwei Mädchen, die einander verachten und doch bald ein großes Geheimnis miteinander teilen werden. Und da ist Axel mit seiner Mutter. Beide streiten nur noch, bis wir erfahren, welches Schicksal sie verbindet. Was ist Liebe? Wie weit geht sie? Welche Facetten hat sie? Bart Moeyaert stellt große Fragen. Und bereichert jeden Leser.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2016NEUE TASCHENBÜCHER
Zwei Jugend-Erzählungen des flämischen
Erzählers Bart Moeyaert
Wo ist dein Bruder, fragt der steinalte Skip de Bootsmann, und während er sonst immer gerade mal zwei monotone Sätze vor sich hin murmelt, tut er das diesmal ziemlich klar und deutlich. Der Bruder Axel ist weg, kriegt er zur Antwort, nach Charlestown, wo er mit dem Freund Mortimer lebt, Rücken an Rücken oder Rücken an Brust. Aber was, fragt Bootsmann weiter, in diesem Anfall von Luzidität, sucht er denn in Charlestown, was tut er dort, tanzen? Danach sackt Bootsmann in seinem Rollstuhl wieder zusammen, aber räsoniert dann doch noch ein bisschen weiter: In Charlestown können sie ja vielleicht gut tanzen, aber tanzen könnte der Bruder hier auch . . .
Die Frage bleibt dann im Raum stehen, unter den Mitgliedern der kleinen Familie, aber Raum ist nichts Abgeschlossenes, Ausgrenzendes, Hermetisches in den Erzählungen von Bart Moeyaert, dem großen Erzähler, der dieses Jahr auf der Frankfurter Buchmesse das Gast-Programm Flandern & Niederlande betreut. In den zwei Geschichten, die in diesem Band wieder abgedruckt sind, „Es ist die Liebe, die wir nicht begreifen“ und „Küss mich“, scheint die Zeit stillzustehen, in Momenten der Unsicherheit, der Widersetzlichkeit, der brutalen Aggression, aber auch des Innehaltens, der Reflexion. Es läuft nicht so gut bei Axel und der Familie, seiner Geschwister und ihrer Mutter. Blut fließt, das von Bordzek zum Beispiel, einem der neuen Männer der Mutter, mit denen Axel überhaupt nie einverstanden ist. Es sind Jugendgeschichten, die Bart Moeyaert erzählt, aber im besten Sinn, weil die Jugend hier kein Schutzraum ist, weil das Erwachsensein schon grausam eingreift in das Leben. Ein richtiges Happy End ist immer auch schmerzlich, aber das in Charlestown kann die Barrieren des Raums zertrümmern. Die Kunst des Erzählens ist das Verschweigen. „Sie überlegte“, endet die zweite Geschichte, über Kinderkonkurrenz und -solidarität, „was sie ihrer Mutter sagen würde. Wenn sie da oder dort etwas wegließ, behielt sie noch genügend Geheimnisse übrig.“ FRITZ GÖTTLER
Bart Moeyaert: Küss mich / Es ist die Liebe, die wir nicht begreifen. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. dtv, München 2016. 208 S., 9,95 Euro.
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Zwei Jugend-Erzählungen des flämischen
Erzählers Bart Moeyaert
Wo ist dein Bruder, fragt der steinalte Skip de Bootsmann, und während er sonst immer gerade mal zwei monotone Sätze vor sich hin murmelt, tut er das diesmal ziemlich klar und deutlich. Der Bruder Axel ist weg, kriegt er zur Antwort, nach Charlestown, wo er mit dem Freund Mortimer lebt, Rücken an Rücken oder Rücken an Brust. Aber was, fragt Bootsmann weiter, in diesem Anfall von Luzidität, sucht er denn in Charlestown, was tut er dort, tanzen? Danach sackt Bootsmann in seinem Rollstuhl wieder zusammen, aber räsoniert dann doch noch ein bisschen weiter: In Charlestown können sie ja vielleicht gut tanzen, aber tanzen könnte der Bruder hier auch . . .
Die Frage bleibt dann im Raum stehen, unter den Mitgliedern der kleinen Familie, aber Raum ist nichts Abgeschlossenes, Ausgrenzendes, Hermetisches in den Erzählungen von Bart Moeyaert, dem großen Erzähler, der dieses Jahr auf der Frankfurter Buchmesse das Gast-Programm Flandern & Niederlande betreut. In den zwei Geschichten, die in diesem Band wieder abgedruckt sind, „Es ist die Liebe, die wir nicht begreifen“ und „Küss mich“, scheint die Zeit stillzustehen, in Momenten der Unsicherheit, der Widersetzlichkeit, der brutalen Aggression, aber auch des Innehaltens, der Reflexion. Es läuft nicht so gut bei Axel und der Familie, seiner Geschwister und ihrer Mutter. Blut fließt, das von Bordzek zum Beispiel, einem der neuen Männer der Mutter, mit denen Axel überhaupt nie einverstanden ist. Es sind Jugendgeschichten, die Bart Moeyaert erzählt, aber im besten Sinn, weil die Jugend hier kein Schutzraum ist, weil das Erwachsensein schon grausam eingreift in das Leben. Ein richtiges Happy End ist immer auch schmerzlich, aber das in Charlestown kann die Barrieren des Raums zertrümmern. Die Kunst des Erzählens ist das Verschweigen. „Sie überlegte“, endet die zweite Geschichte, über Kinderkonkurrenz und -solidarität, „was sie ihrer Mutter sagen würde. Wenn sie da oder dort etwas wegließ, behielt sie noch genügend Geheimnisse übrig.“ FRITZ GÖTTLER
Bart Moeyaert: Küss mich / Es ist die Liebe, die wir nicht begreifen. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. dtv, München 2016. 208 S., 9,95 Euro.
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Die Kunst des Erzählens ist das Verschweigen. Fritz Göttler Süddeutsche Zeitung 20161011